Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
[ Bestand in K10plus ]

Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation


97-1/2-103
Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation : ein Handbuch zur Einführung in die fachliche Informationsarbeit / Marianne Buder ... (Hrsg.) Begr. von Klaus Laisiepen ... - 4. völlig neu gefaßte Ausg. - München [u.a.] : Saur, 1997. - XLIII, 1069 S. : graph. Darst. ; 21 cm. - ISBN 3-598-11310-2 : DM 248.00 (geb.), DM 148.00 (br.)
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Ein vertrautes Handbuch zur Einführung in die fachliche Informationsarbeit ist wieder auf dem Markt, der LaiLuMU. Obwohl die Herausgeber heute nicht mehr Laisiepen, Lutterbeck und Meyer-Uhlenried heißen, wird die neu erschienene Ausgabe wohl nicht als BuReSeStr in die Geschichte eingehen. Oder vielleicht doch? Wer weiß es.

"Seit Erscheinen der dritten Ausgabe des LaiLuMU im Jahre 1990 haben - neben den aus deutscher Sicht bedeutenden politischen Veränderungen seit 1989/90 - erhebliche technische, methodische und organisatorische Innovationen im Bereich der Information und Dokumentation stattgefunden. Dies war der Grund und die Motivation, sich in einem erweiterten Herausgeberteam nochmals der Herausforderung einer Neuausgabe des Traditionswerkes Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation zu stellen." So die Herausgeber in ihrem Vorwort.

Das Handbuch ist - wie die 3. Ausg. - in sieben Kapitel gegliedert, die von A Gegenstand der Information und Dokumentation bis G Tendenzen der Information und Dokumentation reichen. Dem potentiellen Käufer des Buches wird im Vorwort versichert, daß er ein Handbuch erhält, das ihn mit den neuesten Methoden und Verfahren der Information und Dokumentation vertraut macht, in die Handhabung der modernsten Informationsdienste einführt, die wichtigsten Informationssysteme (System im Sinne des IuD-Programms) beschreibt, ihm die moderne Kommunikationstechnik nahebringt, die Infrastruktur der Information und Dokumentation erläutert und neuere Tendenzen der Information und Dokumentation aufzeigt. Genau dies bot der LaiLuMU zu seiner Zeit; die Rede ist von 1972. Und um es gleich vorweg zu sagen, der Käufer des BuReSeStr erhält nicht, was das Vorwort verspricht.

Ernst Lutterbeck schreibt in seinem Geleitwort zur vorliegenden 4. Aufl. zur Einführung in die fachliche Informationsarbeit, daß er bei der Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses einerseits betrübt andererseits auch hochbefriedigt feststellen muß, daß das, was 1972, dem Erscheinungsjahr der 1. Ausg., neuester Stand der Information und Dokumentation war, heute zwar nicht ganz und gar überholt ist, aber nur den kleineren Teil des Gebietes ausmacht. Damit hat Ernst Lutterbeck das zentrale Problem des vorliegenden Buches formuliert: Es ist schlicht nicht mehr möglich, einen umfassenden aktuellen Überblick über das inzwischen sehr breite Spektrum professioneller Informationsarbeit in einem einzigen Handbuch unterzubringen. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es sinnvoll ist, ein auf Papier gedrucktes Handbuch in einem Fach herauszubringen, das alle 6 Monate eine grundlegende technische Neuerung erfährt.

Lutterbeck merkt an, daß eine sehr starke Spezialisierung zu verzeichnen sei, "welche ja in anderen Gebieten schon längst stattgefunden hat (z.B. Medizin, alle Naturwissenschaften) ...". Er unterläßt es aber (sicher aus wohlmeinender Höflichkeit) zu sagen, daß es heute niemand mehr wagen würde, für angehende Mediziner ein Handbuch der praktischen Medizin herauszugeben, in dem "sowohl der Einstieg in einzelne Teilgebiete als auch ein umfassender Überblick" über das breite Spektrum der professionellen Medizin geboten wird.

Die Herausgeber wollten mit der vorliegenden Ausgabe "den Stand der fachlichen Informationsarbeit in seinen vielfältigen Ausprägungen und Funktionen der 90er Jahre" zeigen. Sie haben dazu 50 Autoren gewinnen können (viele haben bereits an der 3. Aufl. mitgewirkt); die Autoren haben 54 nicht überarbeitete, teilweise überarbeitete, in einigen Fällen auch neue Beiträge geliefert (zusammen über 1000 Seiten). Man stellt beim Durcharbeiten der einzelnen Beiträge aber schnell fest, daß nicht in allen der Stand der 90er Jahre wiedergegeben wird. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß in vielen, vielleicht zu vielen Beiträgen der Stand der 70er und 80er Jahre sichtbar wird.

Kapitel A. Ein geradezu nostalgisches Gefühl beschleicht einen, wenn man Thomas Seegers einführenden Beitrag Grundbegriffe der Information und Dokumentation liest. Seegers Definition der dokumentarischen Tätigkeit bezieht sich auf Literatur und Gedankengut der 60er Jahre: "... daß es sich um eine Tätigkeit handelt, die sich aus der systematischen Beschäftigung des bibliographischen Nachweises von Schrifttum historisch nachvollziehen läßt" (S. 11). Wo bleiben Volltextdatenbank, Faktendatenbank, real time services, Internet und Intranet, Document Management, Work Flow Management, Electronic Publishing, etc.? Und: "Aus der DBE wird die Dokumentationseinheit (DE) erzeugt. Sie ist Stellvertreter der DBE und bildet die Grundlage für die Informationsdienstleistungen ... Mit der Erstellung von Dokumentationseinheiten beginnt im Sinne des in Abb. 1 dargestellten Kreislaufes der IuD-Prozeß" (S. 15). Ja, so war es einmal; DEs waren die Grundlage des Geschäfts; und wer möglichst viele davon hatte, der galt etwas in der Szene. Nur, leider gilt dies heute nicht mehr. Und es war damals wie heute falsch, "mit Fug und Recht vom IuD-Wesen zu sprechen, als Summe aller Institutionen, Organisationen und deren Untergliederungen und virtueller Organisationsformen, in denen die Funktion des Informierens wahrgenommen wird" (S. 13). Der Informationsmarkt kennt viele Akteure; und die Dokumentare sind dabei eher in der Minderzahl. Man sollte nicht vergessen, daß es auch Bibliotheken und Bibliothekare gibt, um hier nur einen weiteren Berufszweig zu nennen, die die Funktion des Informierens wahrnehmen, und die sich von ihrem Selbstverständnis her nicht zum IuD-Wesen rechnen. Ganz abgesehen davon, daß in den angelsächsischen Ländern die librarians dokumentarische Tätigkeiten ebenso selbstverständlich verrichten wie klassisch bibliothekarische Arbeiten.

Auch der zweite Beitrag Entwicklung der Information und Dokumentation von Manecke und Seeger bringt vom Ansatz her nicht viel Neues. In dem Abschnitt Information als grundlegende Kategorie wird das Sender/Empfänger-Modell als theoretisches Grundmodell des dokumentarischen Informationsbegriffes vorgestellt. Nur leider wurde dieses Modell seit der Einführung von Internet von neueren theoretischen Konzepten zur computermediatisierten Kommunikation abgelöst. Fraglich ist auch, ob ein IuD-spezifischer Informationsbegriff, wie er von den Verfassern auf S. 20 definiert wird, möglich und zweckmäßig ist. Auch in diesem Beitrag fehlt das Bibliothekswesen als zentraler Bestandteil der bundesdeutschen Informationsinfrastruktur. Man hätte sich gewünscht, daß das Zusammenwachsen von IuD-Stelle und Bibliothek aufgezeigt wird. Man hätte sich ferner gewünscht, daß etwas über Internet in dieser Einführung gesagt wird; über den Paradigmenwechsel, der sich in der Dokumentation in den letzten Jahren vollzogen hat. Man hätte über Globalisierung und internationales Informationsmanagement schreiben sollen, um nur einige der Themen zu nennen, die in der Entwicklung der Information und Dokumentation heute diskutiert werden.

Ich werde häufig gefragt, was machen Dokumentare eigentlich? Hier wäre es nützlich gewesen, wenn ich hätte sagen können, lesen Sie die ersten 60 Seiten des neu erschienenen Handbuches Grundlagen der Information und Dokumentation. Recht selten werde ich gefragt, was haben Dokumentare eigentlich früher gemacht? In diesem Fall würde ich sagen, lesen Sie die Beiträge von Seeger und Manecke.

Den Höhepunkt des Nostalgikals bildet Wolfrudolf Laux mit seinem Beitrag Speicherung (S. 208 - 220): "Die Steilkartei ... war fast immer der Ausgangspunkt sich entwickelnder Informations- und Dokumentationssysteme. Sie bleibt als Hilfskartei oder durch Nutzung ihrer Grundprinzipien nie ganz verzichtbar" (S. 208). Vergessen wir an dieser Stelle einmal die sprachlich wenig elegante Formulierung "... oder durch ...". Herr Laux, bei allem Respekt; was hat die Steilkartei und was haben die nachfolgend in Ihrem Beitrag beschriebenen Randlochkarten, Schlitzlochkarten und Sichtlochkarten mit dem "Stand der fachlichen Informationsarbeit in seinen vielfältigen Ausprägungen und Funktionen der 90er Jahre" zu tun? Würde es heute ein Informatiker, der im Jahre 1997 über moderne Speichersysteme schreibt, wagen, seinen Beitrag überwiegend mit Betrachtungen über Lochkarten zu füllen?

Spätestens nach dem Lesen dieses Beitrags fragt man sich: Mußte diese 4. Aufl. wirklich sein? Ist nicht das Gebiet der fachlichen Informationsarbeit so weit entfernt von dem, was wir einmal als Information und Dokumentation kannten, daß wir die alten Einführungen beiseite legen sollten; und ist nicht unsere Arbeit so breit gefächert, daß es einfach keinen Sinn mehr macht, ein einführendes Handbuch herauszubringen, das den Anspruch erhebt, den Stand der Technik umfassend darzustellen? Worin liegt der Nutzen eines Buchs, das eine veraltete Einführung in die Grundbegriffe von Information und Dokumentation aus den 70er Jahren mit einer recht guten Einführung in Kommunikationsnetze und Datenkommunikation der 90er Jahre (Löns, S. 698 - 729) kombiniert? Warum soll man Geld für ein Buch ausgeben, in dem die Steilkartei nach wie vor als der Vater aller Informationssysteme gefeiert wird; und wie soll ich guten Gewissens meinen Studenten des Informationsmanagements (so der Name des ehemaligen Studiengangs Dokumentation an der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen Stuttgart) den Kauf eines nicht gerade preiswerten Handbuches empfehlen, in dem das Internet auf 4 (in Worten: vier) Seiten als Spielart von Online-Diensten abgehandelt wird (Kind, S. 280 ff.)?

Wo sind die im Vorwort angekündigten Beiträge zu Digitalisierung, Vernetzung, Multimedia? Springen wir zu Abschnitt G Tendenzen der Information und Dokumentation; vielleicht finden sich in diesem Abschnitt Beiträge, die nicht von gestern sind. Eingeleitet wird dieser Abschnitt mit einem Gespräch über das Thema "Reisen wir auf den Datenautobahnen in eine neue (Un-)Gewißheit?" Klingt modern. Als erstes erfährt der Leser, daß Herr Wersig nicht kommen konnte. Hat er sich auf der Datenautobahn verfahren? Nein; er hatte zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gespräch stattfand, keine Zeit, nach Stuttgart zum IRB zu reisen. Und eine Konferenzschaltung wäre zu teuer gekommen, sagt Herr Rehfeld. Schon mal was von Internet-Chat gehört? Worum geht es in diesem Gespräch? Rehfeld: "Wir werden uns mit soziokulturellen Aspekten beschäftigen müssen ..." (S. 959). Also wieder nichts mit Multimedia? "Ein Leitmotiv wird unser Gespräch durchziehen: Internet!" Also doch. "Zunächst die Rolle des Verlages ...". Burneleit: "Der Verlag hat in Zeiten des Internet eine noch größere Existenzberechtigung als früher; trifft er doch die Entscheidung über wichtig und unwichtig" (S. 960). Aha, die alten Strukturen dürfen aus der Sicht des Verlegers auf keinen Fall verändert werden; verärgert möchte man sagen, das Internet wurde einzig erfunden, um den Autoren ihre Freiheit zurückzugeben, verehrter Herr Burneleit. Die wissenschaftlichen Verleger sind es doch, die es mit ihren Printprodukten nicht schaffen, wissenschaftliche Information aktuell und kostengünstig zu verbreiten. Wissenschaftliche Zeitschriften, die Autoren Wartezeiten von mehreren Jahren abverlangen, bis ihre Artikel endlich gedruckt vorliegen, sind doch Erfindungen von Verlegern. Wissenschaftliche Zeitschriften, die wegen ihrer geringen Auflage so teuer geworden sind, daß sie sich wissenschaftliche Bibliotheken kaum noch leisten können, können doch heute keine Zukunft mehr haben. Und wer entwickelt 'elektronische Zeitschriften'? Von den Verlegern ist bislang wenig gekommen. Wissenschaftler haben aus reiner Not zur Selbsthilfe gegriffen und als Alternative zu gedruckten Zeitschriften preprint-Archive und elektronische Zeitschriften entwickelt. Unverhofft ist dabei den wissenschaftlichen Gesellschaften eine neue, vermittelnde, verlegerische Rolle zugewachsen. Es ist also noch nicht ausdiskutiert, ob die traditionellen wissenschaftlichen Verlage wirklich überleben werden.

Versuchen wir es mit dem nächsten Beitrag des Kapitels Tendenzen. Gernot Wersig Der Weg in die Informationsgesellschaft beginnt mit "Seit Beginn der siebziger Jahre...". Da sind sie wieder, die 70er Jahre, die das ganze Buch durchziehen. Nein, jetzt ist es genug. Enttäuscht stellt man fest, daß auch dieses Kapitel keine Anregungen enthält, was uns die Zukunft bringen könnte.

Wie bereits gesagt, das Handbuch enthält nicht die aktuellen Beiträge, die das Vorwort verspricht. Viele Beiträge sind eher als historisch denn als aktuell einzustufen. Ironischerweise stellen die Herausgeber in ihrem Vorwort fest, daß sie in dem vorliegenden Handbuch 'auf eine ausführliche Beschreibung der IuD-Geschichte verzichten mußten'. Wenn das Handbuch denn eine Stärke hat, dann ist es die historische Rückschau, was IuD einmal war, bevor es vom Informationsmanagement abgelöst wurde.

Fassen wir zusammen: Die 4. Aufl. der Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation ist ein umfassendes Handbuch der fachlichen Informationsarbeit. Wäre dieses Handbuch 1987 erschienen, hätte es einen dankbaren Leserkreis gefunden. Als ein im Jahre 1997 veröffentlichtes Handbuch, das Informationspraktiker und Studenten des Informationsmanagements in das nächste Jahrtausend begleiten soll, ist es völlig ungeeignet, da total veraltet. Rehfeld verabschiedet seine Gesprächspartner mit den Sätzen: "Meine Herrn, ich danke Ihnen. Vielleicht unterhalten wir uns wieder anläßlich der nächsten Auflage des LaiLuMU nach der Jahrtausendwende?" (S. 969). Wenn ich eine Bitte äußern dürfte: bewahren Sie uns vor der 5. Auflage.

Wolfgang von Keitz


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