Der Katalog des Sonderbestands erfaßt sämtliche Gattungen, Primär- und Sekundärliteratur, Texte auf russisch und in anderen Sprachen und ist hinsichtlich des Zeitraums nicht eingeschränkt. Der erste Band bietet zunächst eine Liste russischer literarischer Frauenzeitschriften (schon für 1823 - 1833 ist ein Damskij zurnal vorhanden) und auf weibliche Autoren beschränkte Anthologien (wie Caricy muz 1989 oder Reine Frauensache 1990). Den Hauptteil dieses Bandes stellt die Bibliographie nach Autorinnen dar. Erfreulicherweise sind stets die Lebensdaten ergänzt. Die Trennung von Primär- und Sekundärliteratur ist überflüssig, denn man arbeitet über einen bestimmten Autor und hätte die Informationen lieber an einer Stelle. Spezifische Sekundärliteratur findet sich aber auch auf der Primärkarteikarte. Der Inhalt von Sammelbänden ist nicht angegeben, aber sie sind verzettelt. Der zweite Band betrifft Sekundärliteratur, die nicht einzelnen Schriftstellerinnen sondern der Tätigkeit von Frauen in der russischen Kultur und ihrem "soziohistorischen Kontext" gewidmet ist. Auch Forscher im Bereich von Medien, Film, Kunst, Musik und Folklore können hier Hinweise finden. Unter Literatur sind Untergruppierungen für Forschung, Autobiographien, Autorinnen, Emigration, Frauenbild, Jugend, Theorie, Zeitschriften u.a. gebildet, unter dem Oberbegriff Weibliche Lebenswelten solche wie Adel, Alltag, Lager, Landwirtschaft, Lesben, Homosexualität, Sexualität, Prostitution. Schon diese sich überschneidenden Schlagwörter veranschaulichen die Schwierigkeit der Zuordnung, also die des Suchens und Findens. Das Gebotene zeigt den Anfang eines sich spezialisierenden Hochschulinstituts. Es kann nicht anders sein, als daß man große Lücken feststellt. Beispielsweise ist Valentina Sinkevic, eine Lyrikerin der zweiten Emigrationswelle, lediglich mit einem einzigen ins Deutsche übersetzten Gedicht aus einer Anthologie vertreten. Es fehlen ihre vier russischen Gedichtbände, fehlt die Sekundärliteratur, fehlen die von ihr herausgegebenen zwanzig Bände mit Lyrik der russischen Emigration Vstreci (Philadelphia), denn sie ist die Herausgeberin des wichtigsten jährlichen Almanachs der russischen Literatur, das es auf diesem Gebiet gibt (allerdings ist sie nicht auf "Frauenlyrik" beschränkt). Dennoch ist bereits der erste Band für jeden, der über russische Literatur arbeitet, nützlich. Der zweite setzt aber spezifisches Interesse voraus. Das Fehlen eines Registers ist sehr zu bedauern. Wie oft werden Schriftstellerinnen im zweiten Band, z.B. im Zusammenhang mit den Sachgebieten erwähnt, wie oft haben sie über andere Autorinnen geschrieben. Dorthin wird man nicht geführt. Vielleicht steht ja die aktive Valentina Sinkevic noch an anderer Stelle.
Die Bibliographie Russische Prosaautorinnen 1975 - 1995 wurde am Institut für Slawistik der Pädagogischen Hochschule Erfurt erarbeitet. Sie geht auf das staatlich (vom Land Thüringen) geförderte Projekt "Russische Schriftstellerinnen am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Weiblichkeitsentwürfe - Poetik - Wertediskurs" zurück. Der Untertitel ist von einer Terminologie geprägt, die gegenüber der bisherigen Literaturwissenschaft revolutionär wirken möchte. Doch so wie es Wissenschaftler gibt, die auf neue Termini verzichten und recht Gutes und Neues unter Verwendung vertrauter Begriffe geleistet haben, so gibt es auch Schriftstellerinnen mit großem Namen, die eine Einordnung ihres Schaffens aufgrund ihres Geschlechts ablehnen. Auf diesen Tatbestand verweist Christina Parnell im Vorwort und nennt unter den bekanntesten russischen Autorinnen Anna Achmatova, Ljudmila Petrusevskaja, Tat'jana Tolstaja und Valerija Narbikova. Diese sähen sich auch bibliographisch lieber im Gesamtverband ihrer durch die Sprache verbundenen Literatur unter einem chronologischen oder sachlichen Prinzip erfaßt und nicht ausgesondert.
Diese Bibliographie ist mehreren Einschränkungen unterworfen: Sie will nur Prosaikerinnen aufnehmen, keine Lyrikerinnen und keine Dramatikerinnen. Die Namen sind also für eine Vorstellung, welche Rolle die Frau in der russischen Literatur spielt, ohne Aussagekraft. Die Einbeziehung der Lyrikerinnen Anna Achmatova und Marina Cvetaeva widerspricht dem Prinzip. Da mischt sich die Anerkennung ihres hohen Platzes in der Hierarchie mit dem Tatbestand, daß die beiden, insbesondere Cvetaeva, auch Prosa schrieben. Da aber auch Autorinnen wie Ol'ga Berggol'c, Olesja Nikolaeva und Mutter Marija (unter ihrem weltlichen Namen Elizaveta Kuz'mina-Karavaeva) aufgenommen wurden, ist das Prinzip generell nicht gewahrt. Die erste ist reine Lyrikerin, hat aber eine autobiographische Prosa geschrieben, die zweite sieht sich ebenfalls als Lyrikerin, von der dritten gibt es gar keine (außer wissenschaftlicher) Prosa, und aufgeführt sind Briefe an Blok. Es lohnt sich also, in der Bibliographie auch nach Lyrikerinnen zu suchen.
Als Zeitraum wurde 1975 bis 1995 gewählt und damit eine nicht der Periodisierung der russischen Literatur entsprechende Phase. Der Einschnitt liegt 1985, zu Beginn der Perestroika, die den Weg zur Wiedervereinigung von Emigration, politisch unterdrückter Literatur und Sowjetliteratur öffnete. So gibt die Bibliographie bei Emigranten Auskunft, ab wann sie in Rußland gedruckt wurden. Nina Berberova und Irina Odoevceva publizierte man ab 1988, Zinaida Gippius (auch eigentlich Lyrikerin) erst ab 1990. Ebenso kann man neu aufgetretene Autorinnen erkennen, wie Marina Palej - mit sieben Erzählungen seit 1990 und vierzehn Sekundärtiteln seit 1991.
Ausgewertet wurden zwanzig Zeitschriften, wobei außer den bekanntesten Literaturzeitschriften auch Aprel' und Preobrazenie einbezogen wurden. Es wurden aber nicht neuere Periodika berücksichtigt, wie z.B. die für jüngere Autoren besonders offene Zeitschrift Solo, der die Tradition der Samizdat-Zeitschriften fortsetzende Vestnik novoj literatury oder die russisch-englische Zeitschrift Glas, obwohl sie russischerseits von einer Frau - Natal'ja Perova - geleitet wird. Es ist außerordentlich schwierig, in der postsowjetischen Zeit einen Überblick über die Veröffentlichungen in Rußland zu erhalten, doch gerade in solchen neuen, von einem idealistischen Einsatz für eine wahre und zeitgemäße Literatur getragenen Zeitschriften spielt sich Wesentliches des Literaturlebens ab. Bedenkt man ferner, daß nicht einmal die wichtigsten, nun in Rußland zugänglichen Zeitschriften der Emigration - Novyj zurnal, Grani und Kontinent für die Bibliographie ausgewertet wurden, dann wird deutlich, daß das Gebotene nicht repräsentativ für die russische "Frauenliteratur" des gewählten Zeitabschnitts sein kann.
Auch diese Bibliographie ist in Primär- und Sekundärliteratur geteilt, danach alphabetisch/chronologisch geordnet. Sie hat also dieselbe Schwäche wie die Freiburger. Ebenso fehlt das Register, mit dem die beiden Bibliographien wesentlich mehr leisten würden, denn Fachleute kennen die Namen von Rezensenten, denen sie vertrauen, und lassen sich von diesen wieder zur Primärliteratur leiten. Die Bibliographien ergänzen sich durch den unterschiedlichen Ansatz hervorragend. Ein Beispiel: Zu Ljudmila Petrusevskaja, um eine der bekanntesten Schriftstellerinnen zu nennen, finden sich bei Cheauré 15 Primär- und 25 Sekundärtitel, bei Parnell 33 Primär- und 59 Sekundärtitel, doch nur vier Primärtitel sind identisch. Leider verweisen beide Bibliographien nicht auf andere Nachschlagemöglichkeiten, die jeder, der über eine russische Schriftstellerin arbeitet, neben den neuen Werken heranziehen sollte.
Die gesonderte Untersuchung literarischer Werke über Frauen und der weiblichen Perspektive in literarischer Darstellung hat neben hunderten anderer Fragestellungen ihren Sinn. Das gilt natürlich auch für die russische Literatur. Die beiden neuen Spezialbibliographien sind auch über ihr feministisches Anliegen hinaus nützlich, aber sie laufen Gefahr, das Bild von der russischen Literatur der neuesten Zeit zu verzerren, denn über die männlichen Gegenparts wie Petr Aleskovskij, Oleg Ermakov, Viktor Pelevin oder Evgenij Popov gibt es keine so guten Nachschlagewerke. Sie sollten geschaffen werden, doch als Gesamtbibliographien - unter Einbeziehung des von Frauen für die Frauen Geleisteten.
Wolfgang Kasack