2.1.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik
Mit der von Michael Rössner herausgegebenen einbändigen
Lateinamerikanischen Literaturgeschichte liegt eine seit langem
fällige neue Gesamtdarstellung der Geschichte der literarischen
Produktion Lateinamerikas in deutscher Sprache vor, die ihre
Entwicklung von der präkolumbischen Zeit bis zur Gegenwart zu
verfolgen erlaubt.[1]
In Anlage und Aufbau übereinstimmend mit der Konzeption aller im
Metzler-Verlag erschienenen literaturgeschichtlichen Handbücher,[2]
wurde die Literaturgeschichte mit zahlreichen Abbildungen
illustriert und mit lektüreleitenden Randglossen versehen.
Das Handbuch enthält 40 Einzeltexte von insgesamt dreizehn Autoren.
Sie spiegeln in dem vom Herausgeber zugelassenen Rahmen
unterschiedliche Forschungsansätze wider. Es ist das Verdienst
Rössners, aus den unterschiedlichen Beiträgen trotz verschiedener
Ansätze ein strukturell und inhaltlich homogenes Werk geschaffen zu
haben. Redundanzen[3] bleiben die Ausnahme.
Ebenso wie im DELAL wird auf ein grundlegendes Problem verwiesen, das
die Bezeichnung "Literaturgeschichte Lateinamerikas" aufwirft, da
Literaturgeschichten sich gemeinhin entweder durch eine gemeinsame
Sprache oder einen gemeinsamen Staat definieren, es sich hier jedoch
über die nationalen Grenzen der 20 Länder hinaus um einen
vielsprachigen Kulturkreis handelt.
Der erklärte Anspruch, durch Veröffentlichung einer
lateinamerikanischen Literaturgeschichte für den deutschsprachigen
Raum diese Literaturen dem europäischen Leser näherbringen zu wollen,
andererseits der Versuchung einer eurozentristischen Periodisierung zu
widerstehen, wie sie noch bei Grossmann erfolgte, scheint paradox.
Eingelöst wird die Forderung durch Einbeziehung nicht-europäischer
Kategorien und durch den Nachweis intertextueller Bezüge zwischen den
Werken einzelner Autoren. Zur Vermittlung der kulturellen Vielfalt
lateinamerikanischer Literaturen wurde anstelle der gemeinhin üblichen
Gliederung nach Epochen, Gattungen und Sprachräumen mit dem üblichen
"Anhangskapitel" zur brasilianischen Literatur hier eine Gliederung
nach sieben regionalen "Großräumen" gewählt - Mexiko, Mittelamerika,
Karibik, Kolumbien und Venezuela, Andenländer (Ecuador, Bolivien,
Peru) und Cono Sur (Paraguay, Chile, Argentinien, Uruguay), Brasilien
-, die sich in der Zeit der Unabhängigkeit entwickelten. In Abweichung
von der regionalen Gewichtung wurde der Modernismo als
kontinentübergreifende Strömung der Jahrhundertwende in einem einzigen
Kapitel zu den Avantgarde-Entwicklungen in Hispanoamerika und einem
weiteren zum Modernismo Brasiliens abgehandelt. Die hier gewählte
chronologisch angelegte Abhandlung der Themen nach "Großräumen" mag
für ein Verständnis der Literaturen im historischen Kontext sinnvoller
als eine Unterteilung nach Gattungen oder als eine rein formale
Untergliederung in hispanoamerikanische und brasilianische Literatur
(so z.B. die CHLAL) sein, da intertextuelle Bezüge innerhalb der
Kulturräume (z.B.: im Falle des Indigenismus der Andenländer) über die
nationalen Grenzen hinaus ausmachbar sind; für eine punktuelle Suche
nach thematischen Schwerpunkten sind die Kapitelgliederungen dagegen
oft nicht selbsterklärend genug.
Die Benennung als Lateinamerikanische Literaturgeschichte ist insofern
nicht ganz korrekt, als anglophone und frankophone Literaturen der
Karibik ausgegrenzt wurden,[4] man also eigentlich genauer von einer
iberoamerikanischen Literaturgeschichte sprechen müßte.
2.1.2. Adressatenkreis
Das Handbuch wendet sich "an ein akademisches Publikum wie an die
vielen Freunde lateinamerikanischer Texte" in dem Bemühen, "das
lateinamerikanische Denken und Schreiben möglichst adäquat in einer
deutschsprachigen Literaturgeschichte zu vermitteln" (S. X).
Entscheidend für die Ausrichtung an der heterogenen Adressatengruppe
war vermutlich das Konzept, das allen bei Metzler verlegten
literaturgeschichtlichen Handbüchern zugrunde liegt. Gleichwohl lassen
die einzelnen Beiträge ein durchaus wissenschaftliches Profil sichtbar
werden, so daß das Handbuch für Einführungsseminare des deutschen
Lehrbetriebs geeignet ist.
2.1.3. Periodisierung und inhaltliche Gewichtung
Die Rekonstruktion literarischer Strömungen in den einzelnen Regionen
in einem weitgefaßten historischen Kontext eröffnet dem deutschen
Leser bei kontinuierlicher Lektüre ein sehr differenziertes Bild
lateinamerikanischer Literaturgeschichte. Nach einem Rekurs auf die
präkolumbische Literatur widmet sich die LLG ausführlich (ca. 100
Seiten) der Kolonialzeit und erfaßt die Epochen zwischen den
Unabhänigkeitskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Besondere
Beachtung erfahren der Modernismo und die lateinamerikanischen
Avantgardebewegungen des ersten Viertels dieses Jahrhunderts, ein
weiterer erklärter Schwerpunkt in der Periodisierung wurde auf die
neuesten literarischen Entwicklungen gelegt. Eine erheblich stärkere
Gewichtung des lateinamerikanischen Romans und der Lyrik des 20.
Jahrhunderts gegenüber dem Drama und dem Film spiegelt die
literarische Realität wider.
Die Überschriften der Hauptkapitel Indigene Literaturen und die frühe
Kolonialzeit (1492 - 1650), Die Blüte der Kolonialliteratur (1640
- 1750), Das Ende der Kolonialzeit und die Unabhänigkeitsepoche (1750
- 1830), Die Literaturen Lateinamerikas bis zum Modernismo (1820
- 1900), Der Modernismo und die frühen Avantgardebewegungen in
Lateinamerika (1880 - 1930), Nach dem Modernismo (1920 - 1970), Die
neuesten Entwicklungen (1960 - 1995) tragen dem Wunsch nach einer
"Periodisierung nach lateinamerikanischen Kriterien" (S. X) Rechnung,
erschweren aber gerade aufgrund mangelnder thematischer Erschließung
durch ein Schlagwortregister und das Fehlen einer Kapitelgliederung
nach Gattungen eine gezielte Informationssuche nach thematischen
Aspekten. Schwierig gestaltet sich die Suche nach dem Indigenismus, da
der Unterabschnitt Indigenismus und Nationalismus (S. 338 ff. des
Kapitels Die Andenländer 1920 - 1970 : die Erfahrung des "Anderen")
nicht im Inhaltsverzeichnis aufgeführt ist. Wer Informationen über das
lateinamerikanische Theater im gesellschaftlich-historischen Kontext
des 20. Jahrhunderts sucht, der muß sich mühsam durch zwei
Hauptkapitel (insgesamt 250 S.) kämpfen und die nicht im
Inhaltsverzeichnis aufgeführten gliedernden Unterabschnitte
überfliegen, um dann auf die Abschnitte Roberto Arlt und die
Entwicklung des Theaters (S. 358 ff.), Der Beginn des modernen
brasilianischen Theaters : Nelson Rodrigues (S. 388), Das neuere
mittelamerikanische Theater (S. 429 - 433), Kritischer Realismus und
neo-avantgardistische Experimente im Theater (S. 474 - 475) und
aufgrund einer Randglosse Experimenteller Roman und experimentelles
Theater (S. 441) auf den Text des Abschnitts Die neuere
puertoricanische Literatur zu stoßen. Gezielte Informationen über
nationale Literaturen, z.B. über die kubanische Literatur, verbergen
sich im Unterabschnitt Karibik : Aufstieg und Stagnation des
kubanischen Modells (S. 398), Revolutionärer Kulturelan : die
Frühphase der kubanischen Revolution (S. 433), über die Randglossen
Neue Lyrik in Kuba (S. 442) wird man auf den Abschnitt Die neueste
Lyrik gelenkt. Ähnliche Probleme wirft die Suche nach Frauenliteratur,
oder nach dem lateinamerikanischen Film auf. Ein mehrdimensionaler
Zugriff hätte problemlos mit einem Schlagwortregister oder wenigstens
einer Ergänzung der zahlreichen erläuternden Unterabschnitte im
Inhaltsverzeichnis erreicht werden können.
Hinsichtlich der Verzeichnung neuester literarischer Strömungen weist
ein einbändiges Handbuch zwangsläufig Lücken auf. Während Vertreter
der "Unterhaltungsliteratur" wie Isabel Allende und Angeles Mastretta
inzwischen kanonisiert sind, werden die Werke neuerer Erfolgsautoren
wie Paulo Coelho und Gioconda Belli ausgegrenzt. Doch hätten gerade
die "vielen Freunde lateinamerikanischer Texte" eine häufigere
Bezugnahme auf neuere Werke, die in deutscher Übersetzung vorliegen,
(z.B. des Uruguayers Delgado Aparaín, des Exilchilenen Luis Sep£lveda
und der Exilkubanerin Zöe Valdés) gewiß begrüßt.
Erzähl- und Lyriktraditionen aus dem Nordosten Brasiliens, die
literatura de cordel, der die CHLAL ein eigenes Kapitel (Bd. 3, S. 315
- 328) und das DELAL einen eigenen Artikel widmet, nicht einmal
erwähnt, obwohl diese Volkskunst die Werke kanonisierter Autoren wie
Jorge Amados, Raquel de Queirós oder Joao Guimaraes Rosas beeinflußt
hat.
Intertextuelle Bezüge zu anderen Autoren/Werken des Kontinents werden
rekonstruiert (für García Márquez' El general en su laberinto lieferte
der Protagonist Maqroll aus einem Text von Alvaro Mutis die
Schlüsselidee, für die neueren Romane kolumbianischer Autoren wie
Gustavo Alvarez Gardeazábal wurde Cien a¤os de soledad zum
literarischen Bezugspunkt). Die LLG wird ihrer erklärten Absicht,
einer eurozentrischen Kategorienbildung zu widerstehen, durchaus
gerecht.
Die Zitierweise (Cien a¤os de soledad, S. 446, eine Seite zuvor
Hundert Jahre Einsamkeit) ist nicht immer einheitlich. Auf
originalsprachige Zitate wurde weitestgehend verzichtet, allerdings
erscheint es auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgewogenheit wenig
plausibel, die ersten beiden Verse der Ars poética II von Antonio
Cisneros in deutscher Übersetzung zu zitieren (S. 458), dagegen das
Canción del Bongó des kubanischen Lyrikers Nicolás Guillén in
spanischer Sprache wiederzugeben, dann aber auf Zitate aus den viel
bedeutenderen Prasas profanas des modernistischen Lyrikers Rubén Darío
(S. 210 ff.), aus dem Canto general von Pablo Neruda (S. 367) oder dem
anspruchsvollsten literarischen Zeugnis der kolonialen Literatur
Mexikos, dem Primero sue¤o von Sor Juana Inés de la Cruz (S. 83) zu
verzichten.
2.1.4. Bibliographische Hinweise und Register
Abgesehen von textbegleitenden Randglossen sind Inhaltsverzeichnis und
kombiniertes Personen- und Werkregister die einzigen
Erschließungshilfen. Einzelne Werke (ergänzt um das Jahr der
Erstveröffentlichung und, wo vorhanden, die deutsche Übersetzung)
stehen in chronologischer Reihenfolge im Alphabet unter dem Autor,
Lebensdaten wurden in Klammern ergänzt.
Da auf ein separates Werkregister verzichtet wurde, muß dem Suchenden
der Urheber des gesuchten Textes bekannt sein, um über das Register
zur gewünschten Information zu gelangen.
Ein Schlagwortregister für die gezielte Suche nach Gattungen, Themen
und nationalen Strömungen wäre trotz der damit verbundenen Probleme
der Terminologiekontrolle um so wichtiger gewesen, als die
Periodisierungshilfen über Kapitelüberschriften sehr grob sind und die
gliedernden Unterabschnitte gar nicht erst im Inhaltsverzeichnis
aufgeführt wurden.
Neuere Werke lateinamerikanischer Autoren, die überwiegend nach 1991
erschienen sind, z.B. Roa Bastos: Vigilia del Almirante (1992),
Contravida (1994); Cortázar: Deshoras (1983); García Márquez: Del amor
y de otros demonios (1994) fehlen. Druckfehler (z.B. S. 392, 364; S.
501 in der Schreibweise von D. W. Foster) lassen sich nie gänzlich
vermeiden, das Fehlen einiger Übersetzungstitel - von Arrámcame la
vida (S. 528), Mujeres de ojos grandes (S. 528), Son vacas, somos
puercos (S. 514) - ist insofern marginal, als für den
deutschsprachigen Raum das Autorenlexikon Lateinamerika seiner
Funktion gemäß diesen Anspruch erfüllt.
Bibliographische Quellenangaben unter besonderer Berücksichtigung
deutschsprachiger Beiträge der mit sechs Seiten recht knapp
ausgefallenen, nach Großräumen gegliederten Allgemeinbibliographie
spiegeln den Forschungsstand bis 1990/91.
Regine Schmolling
2.2. The Cambridge history of Latin American literature (CHLAL)
2.2.1. Aufbau und allgemeine Charakteristik
In einem Fünfjahresprojekt entstand unter Federführung der beiden
Exilkubaner Enrique Pupo-Walker (Vanderbilt University) und Roberto
González-Echevarría (Yale University) und unter Einbeziehung von 40
Mitarbeitern aus den USA, Lateinamerika und Großbritannien, die
dreibändige Cambridge history of Latin America.[5] Im Gegensatz zu DELAL
und der ELAL berücksichtigt sie die hispanoamerikanische und
brasilianische, nicht aber die frankophone und niederländische
(Karibik-)Literatur, so daß man auch hier genauer von einer
iberoamerikanischen Literaturgeschichte sprechen müßte.
Die einzelnen Beiträge berücksichtigen insbesondere neuere
Forschungsansätze zum jeweiligen Thema: "Each [of the contributors]
was consulted about the limits of his or her area of study and about
the very assumptions that make it a coherent subset within Latin
American literary history. Everyone was asked ... to be
self-conscious in her or his choices, not merely to review a field and
to furnish an état présent. In this sense the History is not only a
history of Latin American literature, but equally a statement on the
current status of Latin American historiography" (Bd. 1, S. XII).
Gerade dieser in gewisser Weise eklektizistische Ansatz macht die
Literaturgeschichte jedoch zu einem wertvollen Instrument für das
wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet.
Wert gelegt wurde auch auf eine Erweiterung des literarischen Kanons
auf Werke, die bisher kaum Beachtung fanden. Dies trifft insbesondere
auf Werke der kolonialen Epoche, Frauenliteratur, Chicanoliteratur und
literarische Texte karibischer Autoren in den USA zu. Erstmals wurden
intertextuelle Bezüge zwischen der afro-spanischen und
afro-amerikanischen Literatur hergestellt (Bd. 2, S. 164 ff.)
Einem historiographischen Ansatz gemäß wird auch hier, wie in DELAL
und der LLG die Frage, ob man überhaupt von einer lateinamerikanischen
Literatur oder vielmehr von zahlreichen nationalen Literaturen mit
überwiegend gemeinsamer Sprache ausgehen sollte, ideologiekritisch
gestellt und unter Rekurs auf lateinamerikanische Vordenker wie A.
Bello und O. Paz aufgrund der zweifellos vorhandenen transnationalen
intertextuellen Bezüge zugunsten einer lateinamerikanischen Literatur
entschieden. "The most prominent writers, from Andrés Bello to Paz,
have argued in favor of the existance of a Latin American literature
that transcends national boundaries; and if one thinks of tradition as
being made up by the major works, as we do here, then one can assume
the existance of a Latin American literature" (S. XIII).
Ausgenommen aus dieser Grundannahme wird die brasilianische Literatur
"a national literature as original and self-contained as French,
Italian, or Spanish literature; ist ties to a broader Latin American
literature, however, are strong, if fluid and ever-changing over time"
(S. XIII).
Da das Forschungsinteresse der letzten Jahre sich stärker den
literarischen Zeugnissen der kolonialen Epoche zugewandt hat, wurde in
dem Bemühen um eine Literaturgeschichtsschreibung, die von einem
gemeinsamen kontinentalen Erbe ausgeht und einen gemeinsamen
literarischen Diskurs konstituiert, ein besonderer Schwerpunkt auf die
Kolonialliteratur gelegt, die ein Sechstel der Literaturgeschichte
ausmacht. Es wurden Werke berücksichtigt, die streng genommen keine
literarischen Texte sind und Forschungsmethoden einbezogen, die
üblicherweise nicht zum literaturwissenschaftlichen Instrumentarium
zählen. Der historiographische Ansatz drückt sich auch in der
Interdisziplinarität der Mitarbeiter aus. Asunción Lavrin (Bd. 1, S.
286 - 335) und Thomas Skidmore (Bd. 3, S. 345 - 382) sind ausgewiesene
Historiker. Die strukturelle Nähe zur achtbändigen Cambridge history
of Latin America[6] ist unverkennbar.
2.2.2. Adressatenkreis
Als wissenschaftliche Literaturgeschichte hat die CHLAL den Anspruch
historiographischer Zuverlässigkeit und Genauigkeit. Sie wendet sich
erklärtermaßen an Wissenschaftler, die den aktuellen Forschungsstand
auf dem Gebiet der Lateinamerikanistik rezipieren wollen, um daran
anknüpfend eigene Fragestellungen formulieren und bearbeiten zu
können. Sie ist aber auch für den deutschen Lehrbetrieb, der
höhersemestrigen Studenten und Studentinnen eigene wissenschaftliche
Beiträge in Form von Examensarbeiten abverlangt, sehr geeignet.
Aufgrund der sehr umfangreichen Bibliographie (s.u. 2.2.4.) ist die
CHLAL für die bibliographischen Apparate wissenschaftlicher
Bibliotheken als wichtiges Nachweisinstrument nachdrücklich zu
empfehlen. Für den "interessierten Laien" ist sie wegen ihres
wissenschaftlichen Profils dagegen weniger geeignet.
2.2.3. Periodisierung und inhaltliche Gewichtung
Am historiographischen Ansatz orientiert sich auch die inhaltliche
Gewichtung. Band eins widmet sich der vorkolumbischen und der
hispanoamerikanischen Literatur der Kolonialzeit bis zum ausgehenden
19. Jahrhundert, Band zwei behandelt, beginnend mit dem Modernismo,
die hispanoamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts, Band drei ist
der brasilianischen Literatur gewidmet und enthält die 450 Seiten
umfassende Bibliographie. Einige Kapitel, wie die über die
lateinamerikanische Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik
bis zur Gegenwart, über die Chronistenliteratur, die Historiker der
Kolonialzeit, und über den Essay lassen den weiter gefaßten
Literaturbegriff erkennen. Ein weiterer Schwerpunkt wurde auf die
Vielfalt der Literaturen des 19. Jahrhunderts vor dem Modernismo
gelegt.
Die Untergliederung der Einzelbände erfolgt nach chronologischen und
gattungsbezogenen Kriterien und bezieht literarische Strömungen (wie
den Indigenismo in Band 2) oder regionale Besonderheiten (wie die
Gaucholiteratur) thematisch mit ein. Die Beiträge über die Romane des
20. Jahrhunderts (Band 2) gliedern sich in Modernist prose, The
literature of Indigenismo, The criollista novel, The novel of the
Mexican Revolution, The Spanish American novel from 1950 to 1975, The
Spanish American novel : recent developments, 1975 - 1990. Von der
Gliederung nach einzelnen Gattungen wurde dort abgewichen, wo dies
aufgrund regionaler oder historischer Besonderheiten sinnvoll erschien
(z.B. Afro-Hispanic literature). Während sich die lateinamerikanische
Literaturgeschichtsschreibung in den 60er Jahren, zur Zeit der
kubanischen Revolution, vom kolonialen Erbe distanzierte und sich
stärker an Literaturen orientierte, die dem politischen Bedürfnis nach
Identitätsfindung Rechnung trugen, hat sich in den letzten Jahren
aufgrund einer Neuorientierung der Schriftsteller selbst (Paz,
García Márquez, Neruda, Carpentier) an historischen Themen die
lateinamerikanische Literaturkritik wieder stärker auf literarische
Zeugnisse des gemeinsamen kolonialen Erbe bezogen.
Da die Kapitel sich überwiegend auf innerliterarische und historische
Entwicklungen konzentrieren, wurde der Biographie einzelner Autoren
weniger Bedeutung beigemessen. Über den ersten in Per£ geborenen
Schrifsteller, El Inca Garcilaso de la Vega, Sohn einer Inkaprinzessin
und eines spanischen Hauptmanns adliger Herkunft, werden biographische
Informationen nur insoweit gegeben (Bd: 1, S. 138), wie sie dem
besseren Verständnis seiner Werke und seines politischen Standpunktes
(Er befürwortete im Gegensatz zu Las Casas die Conquista und die
Christianisierung) dienen. Der Beitrag über Colonial lyric (Bd. 1, S.
221 ff.) widmet sich ausführlich der Textanalyse des Primero sue¤o von
Sor Juana Inés de la Cruz mit Zitaten in Originalsprache und
englischer Übertragung. Biographische Details beschränken sich,
abgesehen von den Lebensdaten, auf beiläufige Bemerkungen. Ihr
faszinierendes Leben, das sie als uneheliches Kind und als Wunderkind
an den Hof des Vizekönigs und später ins Kloster brachte, "inspired
many a commentary, most recently Octavio Paz's remarkable literary
biography" (S. 221). Es wirkt ein wenig befremdlich, daß aus O. Paz'
Sor Juana Inés de la Cruz o las trampas de la fé in der englischen
Übersetzung zitiert wird.
Hilfreich für wissenschaftliche Forschungsvorhaben sind die jeweiligen
Verweisungen im Text auf die einschlägige Forschungsliteratur mit
kurzer Darstellung ihrer wichtigsten Thesen (z.B. im Kapitel über
Cultures in contact, Bd. 1, S. 54). Generell sind die Passagen über
bestimmte Werke einzelner Autoren in der CHLAL sehr viel knapper als
die entsprechenden Einträge im DELAL. Den Kurzgeschichten des
mexikanischen Autors Juan Rulfo (1917 - 1986) El llano en llamas
widmet R. Prada Oropeza im DELAL einen neunseitigen Beitrag unter
Rekurs auf die erzähltheoretischen Aspekte eines
semiotisch-strukturalistischen Ansatzes: 1. Presentación de la fábula,
2. La articulación de diferentes planos temporales, 3. El narrador
explícito ..., 4. Revelación del marco de enunciación, 5. Integración
del escenario o marco topológico, 6. El espacio irónico. Im Vergleich
dazu fällt der Abschnitt über El llano en llamas im Kapitel The
twentieth century short story (Bd. 2, S. 471- 472) der CHLAL von
Daniel Balderston sehr kurz aus, doch sein Erkenntnisinteresse ist
auch ein anderes. Unter Rekurs auf die literaturtheoretischen Ansätze
von Roland Barthes und Michel Foucault bezweifelt er, daß es überhaupt
historiographische Parameter gebe, die es erlauben, von einer
"Geschichte der Kurzprosa in Lateinamerika" zu sprechen. "Instead ...
I have chosen here to tell ... the story of the 'diverse intonations
of a metaphor' or series of metaphors" (S. 466). Im Abschnitt Circles
vergleicht er, Erzählstrukturen der Caja china, der Verschachtelung
einzelner Erzählstränge, in einer Kurzgeschichte Rulfos mit
ausgewählten Erzählungen von Roa Bastos, S. Ocampo, Onetti und Borges,
d.h. er entwickelt am Beispiel ausgewählter lateinamerikanischer
Erzähler einen neuen poetologischen Ansatz. Hier wird vielleicht der
wesentliche Unterschied der CHLAL gegenüber traditionellen
Literaturgeschichten deutlich. Sie erfüllt vor allen Dingen den
Anspruch, eine "Geschichte der lateinamerikanischen Literaturkritik"
(vgl. Band 1, S. XV) zu sein, d.h. neuere
(literatur-)wissenschaftliche Forschungsansätze der
Lateinamerikanistik zu präsentieren. Die bloße Übermittlung
literaturgeschichtlicher Fakten ist dabei zwangsläufig ein sekundäres
Anliegen.
2.2.4. Bibliographische Hinweise und Register
Um ein zuverlässiges Forschungsinstrumentarium zu schaffen, wurde auf
die Zusammenstellung der bibliographischen Quellen besondere Sorgfalt
verwandt. Kurzannotationen werten die einzelnen Quellen inhaltlich und
hinsichtlich ihres Wertes für weitere Forschungsvorhaben. Die
Auswahlbibliographie, die, nach Kapiteln gegliedert, die zweite Hälfte
des dritten Bandes (S. 383 - 838) ausmacht, ist schon an sich ein
eigener Beitrag zum gegenwärtigen Forschungsstand.
Was die Aktualität betrifft, so wurde der Anspruch, "the most
up-to-date ... reference work on its subject" (Klappentext) sein zu
wollen, insofern nicht ganz eingelöst, als die Quellen den
Forschungsstand lediglich bis 1990/91 widerspiegeln.
Die bibliographischen Angaben zur Sekundärliteratur sind selektiv. Sie
sollen den Wissenschaftler zu den Quellen führen, die für die
Fragestellung die neuesten und interessantesten Ansätze liefern, um
eigene Forschungsbeiträge darauf aufbauen zu können. Trotz notwendiger
Selektion ist es nicht erklärlich, daß von Germán List Arzubide, der
als ein Vertreter der avantgardistischen Bewegung des Estridentismo im
Kapitel The Vanguardia and ist implications (Bd. 2, S. 124) explizit
erwähnt wird, die 1927 veröffentlichte Darstellung El movimiento
estridentista unter den für dieses Kapitel genannten Primary sources
in der Bibliographie (Bd. 3, S. 617 - 619) nicht erwähnt wird.
Primärliteratur wurde bis 1990 aufgenommen, neuere und neueste
Veröffentlichungen, wie Doce cuentos peregrinos von García Márquez
(1992) und Del amor y otros demonios (1994), Noticia de un secuestro
(1996) fehlen also.[7] Hinsichtlich der Berücksichtigung deutscher
Beiträge zur Lateinamerikanistikforschung ist die CHLAL die
zuverlässigste Quelle (beispielsweise finden sich neuere
Forschungsbeiträge aus dem Jahr 1991 von H. Wentzlaff-Eggebert[8] und K.
Kohut[9]), doch fehlen auch hier wichtige Monographien (wie z.B. die
Beiträge von W. B. Berg zur argentinischen Literatur oder die Studien
von Frauke Gewecke zur Literatur der Karibik). Das Autorenlexikon
Lateinamerika von Dieter Reichardt wurde nur in der alten Ausgabe von
1972 und die Monographie von K. Meyer-Minnemann zum modernistischen
Roman nur in der deutschen Ausgabe von 1979, nicht aber in der
übersetzten Fassung La novela hispanoamericana de fin de siglo[10]
zitiert, der wichtige literaturtheoretische Grundlagentitel zur
Avantgardetheorie von Peter Bürger nur in der englischen Ausgabe
Theory of the avant-garde, 1984 genannt.
Die Gliederung der bibliographischen Quellen nach den jeweiligen
Kapiteln, denen sie thematisch zu subsumieren sind, erweist sich bei
der Recherche als umständlich. Wenn man die neuere Forschungsliteratur
zu einzelnen Autoren oder Themen konsultieren möchte, wird man über
das Register des jeweiligen Bandes zum einschlägigen Kapitel geführt
und kann dann in Band drei die entsprechende Literatur einsehen. Eine
Einbeziehung der Quellen in das allgemeine Register wäre hier sehr
hilfreich gewesen.
Ein kombiniertes Autoren- und Schlagwortregister erschließt die
einzelnen Themenbeiträge eines jeden Bandes inhaltlich, wobei
Verweisungen auf Werke in Originalsprache unter dem jeweiligen
Verfassernamen als Unterrubrik aufgenommen wurden. Erklärende Zusätze
grenzen die jeweiligen Schlagwortbegriffe weiter ein. So findet man
beispielsweise im Register des ersten Bandes unter Paz, Octavio einen
Hinweis auf alle Textstellen, die sich auf seine Rezeption der Werke
von Sor Juana Inés de la Cruz beziehen. Die themen- oder
gattungserschließenden Begriffe (typographisch durch Kursivdruck
gekennzeichnet) sind überwiegend englischsprachig (z.B. Baroque,
colonial). Dort, wo sich fachwissenschaftlich aufgrund der regionalen
Besonderheiten die originalsprachigen Bezeichnungen (z.B.
costumbrismo, estridentismo) durchgesetzt haben, erfolgte der Eintrag
unter diesem Begriff.
Unübersichtlich wird die Erschließung über weite Schlagwörter dort, wo
z.B. unter novel oder indigenous peoples ganze Spalten der weiteren
inhaltlichen Untergliederung des Hauptbegriffes dienen. Zwar wird der
Eintrag über den venezolanischen Dichter und Philologen Andrés Bello
durch 22 Unterbegriffe inklusive der bibliographischen Aufnahme seiner
Werke weiter thematisch eingegrenzt, eine Siehe-auch-Verweisung auf
den Begriff historiography fehlt jedoch, der noch einmal Bello on
historiography mit weiteren 39 (!) Unterbegriffen und entsprechenden
Seitenverweisen erschließt.
Regine Schmolling
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