Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 5(1997) 1/2
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Incunabula Gottingensia


97-1/2-040
Incunabula Gottingensia : Inkunabelkatalog der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen / beschrieben von Helmut Kind. [Hrsg. von Elmar Mittler]. - Wiesbaden : Harrassowitz. - 25 cm
[2918]
Bd. 1. Abteilung Adagia bis Biblia. - 1995. - X, 322 S. : Ill. - ISBN 3-447-03495-5 : DM 158.00
97-1/2-041
Gutenberg und der europäische Frühdruck : zur Erwerbungsgeschichte der Göttinger Inkunabelsammlung / Helmut Kind ; Helmut Rohlfing. - Göttingen : Wallstein-Verlag, 1995. - 112 S. : Ill. ; 27 cm. - ISBN 3-89244-204-5 : DM 30.00
[2957]

Obwohl die Katalogisierung von Inkunabelsammlungen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg aus den langen Schatten der mit dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) aufgestellten Meßlatte eines einstmals angestrebten Weltkataloges herausgetreten ist, und die seither publizierten Kataloge als eigenständige Informationsmittel nicht mehr, aber auch nicht weniger wollen, als den Umfang und die Art des Besitzes an Frühdrucken einzelner Bibliotheken zu dokumentieren, taucht die Frage nach dem Verhältnis von GW mit bibliographischem Vollständigkeitsanspruch zu lokalem Bestandsnachweis bis heute immer wieder auf. Vor fast 20 Jahren hat Elmar Hertrich einen kurzen Abriß der Geschichte dieser spannungsvollen Wechselbeziehung gegeben[1] und aufgezeigt, wie sich die zeitweise Fixierung auf den GW in Deutschland geradezu kontraproduktiv auf die Erstellung von Inkunabelkatalogen ausgewirkte. Das hatte zweifellos mit Nationalprestige und einer für Deutschland reklamierten "Ehrenpflicht" zu tun, die internationale Spitzenposition bei der Verzeichnung der Frühdrucke erreichen zu müssen, aber auch mit dem sehr hoch angesetzten Stellenwert des noch jungen Wissenschaftszweiges der typographischen Forschung. Kurz gesagt wurde die Ermittlung von Druckvarianten, nicht die Beschreibung von Exemplaren als entscheidend erachtet. Diese differenzierte Verzeichnung einzelner Bücher ist der eigentliche Zweck und die Stärke spezieller Kataloge, denn die "Aufgabe, die den Bearbeitern lokaler Inkunabelkataloge gestellt ist, liegt in der Beschreibung individueller Merkmale der Exemplare, der Ausstattung, der Spuren ihres Gebrauchs und ihrer Rezeption durch die Jahrhunderte und in der Ermittlung und Verzeichnung ihrer Provenienz"[2]. Daneben kann auch nur der Sammlungskatalog als Spiegelbild einer Bibliothek den spezifischen Charakter einer Sammlung, ihre Breite oder ihre besonderen Schwerpunkte vermitteln. Ein solcher Katalog leistet somit zweierlei: Er löst einerseits die Bibliothek in eine Sammlung von Buch-Individuen auf, thematisiert andererseits jedoch auch ihre Gesamtheit als eine mehr oder weniger organisch gewachsene Sammlung. Im Grunde erschließt er damit ganz andere Zusammenhänge als ein Gesamtkatalog. Wenn derzeit sowohl umgangreichere Kataloge einzelner Bibliotheken parallel zu den Lieferungen des GW erscheinen, dann ist das also kein Widerspruch, schon gar nicht im Fall des Göttinger Inkunabelkataloges, aus dem die Besonderheiten der Sammlung im ganzen ebenso hervortreten wie jene einzelner Stücke.

Der Katalog von H. Kind ist indessen nicht das erste Nachweisinstrument für die Göttinger Frühdrucke. Bisher wurde die Sammlung durch einen unter Dziatzko angelegten alphabetischen Zettelkatalog und einen nach Signaturen geordneten Standordkatalog in Bandform erschlossen.[3] Hinzu kommt noch ein handschriftliches Druckerregister auf Zetteln.[4] Eine Neukatalogisierung war trotzdem notwendig, da sich die handschriftlichen Verzeichnisse nicht vollständig entsprachen und außerdem die Titelaufnahmen den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügten. Hinzu kommt, daß trotz der eigentlich nicht schlechten Katalogsituation - andere Bibliotheken sind wesentlich weniger gut dran - bis in die allerjüngste Zeit hinein falsche Vorstellungen vom Umfang der Göttinger Sammlung bestanden.[5] Kursierte nach dem Krieg eine Zahl von ca. 6000, korrigierte man bis zur Mitte der 80er Jahre auf 4000 herunter, während Kind die ungefähre Zahl jetzt mit etwa 3100 angibt. In all diesen Punkten soll der neue Katalog nun Klarheit schaffen und überdies den oben angesprochenen Erwartungen gerecht werden.

Auf die entscheidende Besonderheit des Kataloges stößt man bereits sehr früh: Die Göttinger Inkunabelsammlung ist systematisch in alphabetisch aufeinander folgenden Fachgruppen aufgestellt, und diese Ordnung wird im Katalog übernommen. Im ersten Band sind die Sachgruppen Adagia, Aesthetica, Antiquitates, Archaeologia, Ars militaris, Astronomia, Auctores Graeci, Auctores Latini, Balneologia und Biblia aufgenommen, etwa ein Viertel des Bestandes. Die Beschreibung der Stücke selbst ist knapp aber völlig ausreichend: Zumeist kommt der Katalog mit einer Kurztitelaufnahme aus, da sich weitere bibliographische Angaben mühelos aus den in großem Umfang beigegebenen Nachweisen entnehmen lassen. Der Erscheinungsvermerk hat naturgemäß besonderes Gewicht, nur bei noch nicht beschriebenen Stücken sind die Katalogeinträge noch etwas umfangreicher. Das für den Benutzer Entscheidende folgt in den weiteren Rubriken: Besonderheiten des Göttinger Exemplars, Provenienzangaben, Einbandbeschreibung, Angabe angebundener Stücke und die Signatur. In diesen Abschnitten verbergen sich dann die Informationen, die eben nur in einem Göttinger Katalog zu erwarten sind, und sie machen deshalb den Wert des Kataloges in erster Linie aus, wenngleich bei einzelnen Beschreibungen auch knappe, aber wichtige Notizen zu eventuellen Ungereimtheiten in der bibliographischen Verzeichnung anderer Kataloge mitgeliefert werden. Speziell "in der Provenienzermittlung liegt ein Schwerpunkt des Göttinger Inkunabelkatalogs",[6] und in der Tat werden bei allen Stücken Herkunftsangaben gemacht, die in Verbindung mit weiteren Informationen aus den Büchern selbst bisweilen die lückenlose Rekonstruktion der Besitzverhältnisse über mehrere Jahrhunderte hinweg erlauben.

Mit der Wiedergabe der systematischen Struktur der Aufstellung öffnet der Katalog ferner einen Blick auf die Prinzipien des Göttinger Inkunabelkaufs. Wie beim Ankauf der jeweils aktuellen wissenschaftlichen Literatur wurde auch bei den Inkunabeln vorrangig der Text als Grund der Anschaffung betrachtet. Wissenschaftliche oder zumindest wissenschaftsgeschichtlich relevante Texte sollten in der vergleichsweise jungen Bibliothek nicht nur mit Erscheinungsjahr ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vorhanden sein, auch die ältere Literatur sollte beschafft werden. Einen Überblick über die Geschichte des Bestandsaufbaus bei den Frühdrucken hat Kind bereits in seinem Aufsatz von 1982 gegeben,[7] weshalb er sich im Vorwort zum Katalog mit einer kurzen Zusammenfassung begnügen konnte.

Freilich hat diese Strategie die Göttinger Universitätsbibliothek nicht daran gehindert, auch Drucke anzuschaffen, die vor allem als Zeugnisse der Druckgeschichte bzw. als Exemplare von besonderem bibliophilen Wert jede Sammlung zieren würden, allen voran die 42zeilige Bibel auf Pergament - ihre Beschreibung auf nur etwas mehr als einer halben Katalogseite nimmt sich geradezu vornehm bescheiden aus. Erwähnenswert sind daneben auch die 11 englischen Inkunabeln, zu denen Göttingen natürlich auf Grund seiner besonderen Beziehung zu England kam. Es ließen sich gewiß noch weitere besondere Drucke und Unica aus dem Bestand der Bibliothek hier als Glanzstücke aufzählen[8], doch wird man dem Phänomen der Göttinger Inkunabelsammlung wohl am ehesten gerecht, wenn man in erster Linie ihre Gesamtheit, d.h. ihre Entstehungsgeschichte, ihre Funktion, ihre Breite und Anlage betrachtet, und eben nicht einzelne Zimelien isoliert herausgreift. Denn mit diesem Katalog ist vor allem Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte dokumentiert, und in dieser Form wie in Göttingen kann das wohl keine andere deutsche Bibliothek mit größerem Inkunabelbesitz leisten.

Daß der Band selbstverständlich mit einem Autorenregister, das auch Beiträger enthält, mit einem Register der Druckorte und Drucker, einem Provenienzenregister und einem Konkordanzenverzeichnis (GW, HCR, Goff) ausgestattet ist, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. In dieser Form entspricht der Göttinger Inkunabelkatalog genau den eingangs zitierten Anforderungen, die man an ein lokales Frühdruckverzeichnis richten kann.

Mehr als nur eine kurze Einführung in den Inkunabelbestand der Göttinger Universitätsbibliothek ist die anläßlich der Ausstellung zum Deutschen Bibliothekartag 1995 in Göttingen als Begleitbuch herausgebrachte Veröffentlichung Gutenberg und der europäische Frühdruck.[9] Daß man in einer u.a. auch an das Fachpublikum gerichteten Ausstellung dann doch die besonders wertvollen Stücke präsentieren wollte - zu sehen waren z.B. einer der vier noch erhaltenen Pergamentdrucke der Gutenbergbibel, ein Exemplar der lateinische Ausgabe der Schedelschen Weltchronik, das Helmaspergersche Notariatsinstrument, der Ulmer Aesop, die in Rom gedruckte Erstausgabe von Ciceros De officiis, und andere z.T. überaus seltene Werke -, ist leicht einzusehen und hat damals wohl auch jeden Besucher der Ausstellung beeindruckt. Durch die begleitenden Texte wird dann aber auch der Gesamtcharakter der Sammlung im oben skizzierten Sinne eingehend gewürdigt, so daß die "Preziosen-Schau" vom aufmerksamen Leser wieder in ihren größeren Zusammenhang eingebettet werden kann. Hilfreich sind zweifellos das Eingangskapitel über die Entwicklung der Verzeichnungspraxis in den wichtigsten bibliographischen Nachschlagewerken und die Bemerkungen zur Leistung Gutenbergs und seiner Helfer im Zusammenhang mit der Beschreibung des Bibeldrucks. Ansonsten orientiert sich dieser Katalog an den Epochen der Erwerbungsgeschichte. Am Ende folgen ein kurzer Abschnitt über die englischen Inkunabeln und die notwendigen Anmerkungen zum besonderen Charakter der Göttinger Wiegendrucksammlung. So klein dieser Katalog auch ist, er verfügt über ein Register der Drucker, Verfasser, Titel und Vorbesitzer aller gezeigten Stücke in einem Alphabet und nicht weniger als 16 Farbtafeln. Die in den Text eingebundenen Illustrationen sind hingegen schwarz-weiß. Der bleibende Wert dieses Buches ist wohl auch darin zu sehen, daß man seine Lektüre für eine erste Orientierung in der Thematik der Inkunabelkunde empfehlen kann. Er dient darüber hinaus als eine sehr gelungene Einführung in den Göttinger Bestand an Wiegendrucken und bietet schließlich auch noch Anschauungsmaterial.

Joachim Migl


[1]
75 Jahre Gesamtkatalog der Wiegendrucke : zur Erschließung deutscher Inkunabelsammlungen seit der Jahrhundertwende / Elmar Hertrich. // In: Aus dem Antiuariat. - 1979,10, S. A345 - A354. (zurück)
[2]
Ebenda, S. A350. (zurück)
[3]
Zu diesen Katalogen vgl. den Beitrag Die Inkunabeln der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen / Helmut Kind. // In: Gutenberg-Jahrbuch. - 57 (1982), S. 120 - 149 und Incunabula ..., S. 1. (zurück)
[4]
Dieses Register ist erwähnt in Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen / Christiane Kind-Doerne. - Wiesbaden : Harrassowitz, 1986. - (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen ; 22), S. 125. Hier auch der Hinweis, daß die Inkunabeln natürlich selbstverständlich im allgemeinen Alphabetischen Katalog und in dem großen systematischen Bandkatalog verzeichnet sind. (zurück)
[5]
Zu diesem Aspekt Incunabula ..., S. 3 mit Anm. 3 und Kind-Doerne, S. 123. (zurück)
[6]
Incunabula ..., S. 3. (zurück)
[7]
S.o. Fußn. 3. - Erneut: Die Geschichte der Inkunabelsammlung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen / Hel- mut Kind. //_In: Inkunabel- und Einbandkunde : Beiträge des Symposions zu Ehren von Max Joseph Husung am 17. und 18. Mai 1995 in Helmstedt. - Wiesbaden : Harrassowitz, 1997. - (Bibliothek und Wissenschaft ; 29. 1996), S. 126 - 132. (zurück)
[8]
Einige erwähnt Kind selbst bereits (Incunabula ..., S. 10 - 12). Der Katalog macht indessen auch die "Defizite" deutlich, wenn man sie denn als solche betrachten will. Z.B. scheint die zeitgenössische Einbandkunst der Spätgotik und Renaissance, die in anderen Sammlungen hervorragenden Stellenwert hat, in Göttingen nie besonders interessiert zu haben. Auch das zeigt den besonderen Charakter der Sammlung. (zurück)
[9]
Vgl. die ausführliche Besprechung Gutenberg und der europäische Frühdruck, eine Ausstellung zur Erwerbungsgeschichte der Göttinger Inkunabelsammlung / Jürgen Hespe. // In: Aus dem Antiquariat. - 1995, S. A248 - A250. (zurück)

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