Der Katalog von H. Kind ist indessen nicht das erste
Nachweisinstrument für die Göttinger Frühdrucke. Bisher wurde die
Sammlung durch einen unter Dziatzko angelegten alphabetischen
Zettelkatalog und einen nach Signaturen geordneten Standordkatalog in
Bandform erschlossen.[3] Hinzu kommt noch ein handschriftliches
Druckerregister auf Zetteln.[4] Eine Neukatalogisierung war trotzdem
notwendig, da sich die handschriftlichen Verzeichnisse nicht
vollständig entsprachen und außerdem die Titelaufnahmen den heutigen
wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügten. Hinzu kommt, daß
trotz der eigentlich nicht schlechten Katalogsituation - andere
Bibliotheken sind wesentlich weniger gut dran - bis in die
allerjüngste Zeit hinein falsche Vorstellungen vom Umfang der
Göttinger Sammlung bestanden.[5] Kursierte nach dem Krieg eine Zahl von
ca. 6000, korrigierte man bis zur Mitte der 80er Jahre auf 4000
herunter, während Kind die ungefähre Zahl jetzt mit etwa 3100 angibt.
In all diesen Punkten soll der neue Katalog nun Klarheit schaffen und
überdies den oben angesprochenen Erwartungen gerecht werden.
Auf die entscheidende Besonderheit des Kataloges stößt man bereits
sehr früh: Die Göttinger Inkunabelsammlung ist systematisch in
alphabetisch aufeinander folgenden Fachgruppen aufgestellt, und diese
Ordnung wird im Katalog übernommen. Im ersten Band sind die
Sachgruppen Adagia, Aesthetica, Antiquitates, Archaeologia, Ars
militaris, Astronomia, Auctores Graeci, Auctores Latini, Balneologia
und Biblia aufgenommen, etwa ein Viertel des Bestandes. Die
Beschreibung der Stücke selbst ist knapp aber völlig ausreichend:
Zumeist kommt der Katalog mit einer Kurztitelaufnahme aus, da sich
weitere bibliographische Angaben mühelos aus den in großem Umfang
beigegebenen Nachweisen entnehmen lassen. Der Erscheinungsvermerk hat
naturgemäß besonderes Gewicht, nur bei noch nicht beschriebenen
Stücken sind die Katalogeinträge noch etwas umfangreicher. Das für den
Benutzer Entscheidende folgt in den weiteren Rubriken: Besonderheiten
des Göttinger Exemplars, Provenienzangaben, Einbandbeschreibung,
Angabe angebundener Stücke und die Signatur. In diesen Abschnitten
verbergen sich dann die Informationen, die eben nur in einem Göttinger
Katalog zu erwarten sind, und sie machen deshalb den Wert des
Kataloges in erster Linie aus, wenngleich bei einzelnen Beschreibungen
auch knappe, aber wichtige Notizen zu eventuellen Ungereimtheiten in
der bibliographischen Verzeichnung anderer Kataloge mitgeliefert
werden. Speziell "in der Provenienzermittlung liegt ein Schwerpunkt
des Göttinger Inkunabelkatalogs",[6] und in der Tat werden bei allen
Stücken Herkunftsangaben gemacht, die in Verbindung mit weiteren
Informationen aus den Büchern selbst bisweilen die lückenlose
Rekonstruktion der Besitzverhältnisse über mehrere Jahrhunderte hinweg
erlauben.
Mit der Wiedergabe der systematischen Struktur der Aufstellung öffnet
der Katalog ferner einen Blick auf die Prinzipien des Göttinger
Inkunabelkaufs. Wie beim Ankauf der jeweils aktuellen
wissenschaftlichen Literatur wurde auch bei den Inkunabeln vorrangig
der Text als Grund der Anschaffung betrachtet. Wissenschaftliche oder
zumindest wissenschaftsgeschichtlich relevante Texte sollten in der
vergleichsweise jungen Bibliothek nicht nur mit Erscheinungsjahr ab
der Mitte des 18. Jahrhunderts vorhanden sein, auch die ältere
Literatur sollte beschafft werden. Einen Überblick über die Geschichte
des Bestandsaufbaus bei den Frühdrucken hat Kind bereits in seinem
Aufsatz von 1982 gegeben,[7] weshalb er sich im Vorwort zum Katalog mit
einer kurzen Zusammenfassung begnügen konnte.
Freilich hat diese Strategie die Göttinger Universitätsbibliothek
nicht daran gehindert, auch Drucke anzuschaffen, die vor allem als
Zeugnisse der Druckgeschichte bzw. als Exemplare von besonderem
bibliophilen Wert jede Sammlung zieren würden, allen voran die
42zeilige Bibel auf Pergament - ihre Beschreibung auf nur etwas mehr
als einer halben Katalogseite nimmt sich geradezu vornehm bescheiden
aus. Erwähnenswert sind daneben auch die 11 englischen Inkunabeln, zu
denen Göttingen natürlich auf Grund seiner besonderen Beziehung zu
England kam. Es ließen sich gewiß noch weitere besondere Drucke und
Unica aus dem Bestand der Bibliothek hier als Glanzstücke aufzählen[8],
doch wird man dem Phänomen der Göttinger Inkunabelsammlung wohl am
ehesten gerecht, wenn man in erster Linie ihre Gesamtheit, d.h. ihre
Entstehungsgeschichte, ihre Funktion, ihre Breite und Anlage
betrachtet, und eben nicht einzelne Zimelien isoliert herausgreift.
Denn mit diesem Katalog ist vor allem Wissenschafts- und
Rezeptionsgeschichte dokumentiert, und in dieser Form wie in Göttingen
kann das wohl keine andere deutsche Bibliothek mit größerem
Inkunabelbesitz leisten.
Daß der Band selbstverständlich mit einem Autorenregister, das auch
Beiträger enthält, mit einem Register der Druckorte und Drucker, einem
Provenienzenregister und einem Konkordanzenverzeichnis (GW, HCR, Goff)
ausgestattet ist, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. In
dieser Form entspricht der Göttinger Inkunabelkatalog genau den
eingangs zitierten Anforderungen, die man an ein lokales
Frühdruckverzeichnis richten kann.
Mehr als nur eine kurze Einführung in den Inkunabelbestand der
Göttinger Universitätsbibliothek ist die anläßlich der Ausstellung zum
Deutschen Bibliothekartag 1995 in Göttingen als Begleitbuch
herausgebrachte Veröffentlichung Gutenberg und der europäische
Frühdruck.[9] Daß man in einer u.a. auch an das Fachpublikum gerichteten
Ausstellung dann doch die besonders wertvollen Stücke präsentieren
wollte - zu sehen waren z.B. einer der vier noch erhaltenen
Pergamentdrucke der Gutenbergbibel, ein Exemplar der lateinische
Ausgabe der Schedelschen Weltchronik, das Helmaspergersche
Notariatsinstrument, der Ulmer Aesop, die in Rom gedruckte Erstausgabe
von Ciceros De officiis, und andere z.T. überaus seltene Werke -, ist
leicht einzusehen und hat damals wohl auch jeden Besucher der
Ausstellung beeindruckt. Durch die begleitenden Texte wird dann aber
auch der Gesamtcharakter der Sammlung im oben skizzierten Sinne
eingehend gewürdigt, so daß die "Preziosen-Schau" vom aufmerksamen
Leser wieder in ihren größeren Zusammenhang eingebettet werden kann.
Hilfreich sind zweifellos das Eingangskapitel über die Entwicklung der
Verzeichnungspraxis in den wichtigsten bibliographischen
Nachschlagewerken und die Bemerkungen zur Leistung Gutenbergs und
seiner Helfer im Zusammenhang mit der Beschreibung des Bibeldrucks.
Ansonsten orientiert sich dieser Katalog an den Epochen der
Erwerbungsgeschichte. Am Ende folgen ein kurzer Abschnitt über die
englischen Inkunabeln und die notwendigen Anmerkungen zum besonderen
Charakter der Göttinger Wiegendrucksammlung. So klein dieser Katalog
auch ist, er verfügt über ein Register der Drucker, Verfasser, Titel
und Vorbesitzer aller gezeigten Stücke in einem Alphabet und nicht
weniger als 16 Farbtafeln. Die in den Text eingebundenen
Illustrationen sind hingegen schwarz-weiß. Der bleibende Wert dieses
Buches ist wohl auch darin zu sehen, daß man seine Lektüre für eine
erste Orientierung in der Thematik der Inkunabelkunde empfehlen kann.
Er dient darüber hinaus als eine sehr gelungene Einführung in den
Göttinger Bestand an Wiegendrucken und bietet schließlich auch noch
Anschauungsmaterial.
Joachim Migl
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