Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
[ Bestand in K10plus ]

John Coltrane


96-4-479
John Coltrane : a discography and musical biography / by Yasuhiro Fujioka with Lewis Porter and Yoh-ichi Hamada. - Metuchen, NJ ; London : Scarecrow Press [u.a.], 1995. - XVII, 377 S. : Ill. ; 29 cm. - (Studies in Jazz ; 20). - ISBN 0-8108-2986-X : $ 62.50
[3514]

Um es vorwegzunehmen: mit dem vorliegenden Band ist es gelungen, ein an sich trockenes Nachschlagewerk wie es eine Diskographie ist, so zu gestalten, daß es spannend wie ein Kriminalroman ist, dazu lesbar und dank der Bebilderung auch etwas für die Augen bietet.

Für die Jazzgemeinde ist John Coltrane ein Heiliger wie sonst nur Charlie Parker oder in der Rockmusik Jimi Hendrix. Ohne Coltrane klänge der Jazz und überhaupt die ganze moderne Musik anders. Coltrane hat die modale Musik zwar nicht erfunden, aber durch ihn ist sie einem breiten Publikum bekannt geworden. Seit Coltrane hat sich der Jazz aus seinem Ghetto-Dasein herausbewegt und anderen Kulturen geöffnet; erst seitdem gibt es Entwicklungen, die sich mit Formulierungen wie "Jazz und ..." beschreiben lassen: Jazz und außereuropäische Musik, Jazz und Politik, Jazz und Religion usw. Durch ihn wurde die Öffnung zur Weltmusik, zu indischer und arabischer Musik, erst möglich.[1] Nach Coltrane konnten vor allem das Tenorsaxophon, aber auch das Sopransaxophon und damit alle Reed-Instrumente nicht mehr in der gleichen Weise gespielt werden wie zuvor. Kaum ein Saxophonist der heutigen Jazzszene, der sich nicht in irgendeiner Form auf Coltrane bezieht. Generationen von Jazz-Saxophonisten berufen sich auf Coltrane oder adaptieren ihn: Jan Garbarek, Gato Barbieri, Pharoah Sanders, Roland Kirk, Frank Wright, George Adams u.v.a. Das Saxophonspiel von Coltrane wurde zum Vorbild für Gitarristen wie Carlos Santana oder John McLaughlin und Keyboarder wie Terry Riley. Popmusiker, Rockmusiker, sogar klassische Musiker erwähnen Coltrane als ihren größten Einfluß - musikalisch wie menschlich. Der Name Coltranes wird mit Respekt und Anerkennung erwähnt wie der Name eines Propheten, vor allem von seinen ehemaligen Mitmusikern. Coltrane wäre 1996 70 Jahre alt geworden. Auch fast dreißig Jahre nach seinem Tod stellt er in der modernen Musik einen großen Einfluß dar, vielleicht sogar den bis dato letzten wirklichen beeinflussenden Faktor. Zugleich wirkt sein Leben im Rückblick wie dasjenige eines Besessenen auf der Suche nach musikalischer Perfektion: nach seiner Etablierung in der damaligen Jazzszene in Bebop und Hard Bop (u.a. in Bands von Dizzy Gillespie und Miles Davis) über Drogenexzesse und dadurch bedingte Abstürze bis hin zu religiöser Ekstase (A Love Supreme, Ascension, Spiritual, Expression, Meditation, Transition usw.) und politischem Engagement (Alabama, Reverend King usw.) durchlebte und erlebte er den Durchbruch vom Hard Bop zum Free Jazz als existentielles Geschehen, ständig auf der Suche nach neuen Sounds bis zur Grenze des physisch machbaren, sich selbst verzehrend, bis er schließlich erschöpft im Jahre 1967 an Leberkrebs verstarb. Seine wohl schönsten und eindringlichsten Kompositionen hat er wenige Monate vor seinem Tod aufgenommen (Interstellar Space und Stellar Regions).

Nach den ersten Diskographien von Brian Davis[2] und David Wild[3] sowie des Tokyoter Jazz Spot Intro[4] haben Yasuhiro Fujioka und seine Mitarbeiter eine Diskographie dieses großen Musikers in Buchform zusammengestellt, die als Vorbild gelten kann. Der Aufbau des Hauptteils erfolgt chronologisch nach Aufnahmedatum und entspricht somit dem internationalen diskographischen Standard. Diese Form der diskographischen Verzeichnung wurde ausführlich in IFB 94-2-299 - 300 beschrieben und bewertet.[5] Es handelt sich also hierbei nicht um ein Schallplattenverzeichnis, sondern um ein Verzeichnis von über 300 veröffentlichten und unveröffentlichten Aufnahme-Sessions, davon ca. 30 bisher nirgends verzeichnete Live-Sessions in chronologischer Folge.[6] Register der Titel, Musiker und Label erschließen das Werk. Der Hauptteil wurde sowohl typographisch als auch optisch außerordentlich interessant gestaltet. Yasuhiro Fujioka verwendet Symbole, durch die der diskographisch weniger geübte Benutzer erkennen kann, ob ein Musikstück auf einer LP, einer CD, einem Band oder einem Video veröffentlicht wurde oder ob das Stück z.B. im Radio ausgestrahlt wurde. Fußnoten und Anmerkungen ergänzen die Formalangaben. Zahlreiche Fotos der LPs oder CDs runden die Einträge ab.

Am Ende jedes Jahres erscheint eine Rubrik Coltrane's footprints mit knappen biographischen Informationen in chronologischer Folge.[7] Diese Footprints rechtfertigen nicht ganz den Untertitel Musical biography, sind jedoch sehr interessant und auch im Rahmen der chronologischen Diskographie ausgesprochen nützlich.

Die Diskographie wird durch viele Abbildungen und Photos angereichert: zu den 700 Coveraufnahmen von CDs und LPs kommen 110 Fotos von John Coltrane und vielen anderen (Mit-)Musikern, Abbildungen von Konzertplakaten und Eintrittskarten, Auszügen aus den Log books der Plattenproduzenten, Abbildungen von Plattenverträgen, Photos von Coltranes Haus in Philadelphia sowie eine Zeichnung von John Coltrane. Es gibt in diesem Buch keine einzige langweilige Seite.

In die Diskographie sind viele Informationen eingeflossen, die auf intensiver Forschung beruhen. Viele Tapes und Bootlegs sind (immer noch) in privater Hand, andere lagern in den Archiven der Plattenfirmen, weitere sind gar verschollen oder auch gelöscht worden. Auch nach der Veröffentlichung dieser Diskographie bleiben also noch Fragen offen; der Schluß des Buches enthält neben Addenda und Nachworten auch einen Anhang mit einer Zusammenstellung von Coltrane-Interviews und einer Liste For future research.

Die Präsentation des Bandes könnte durch die farbige Wiedergabe der Plattencover und durch die Ausmerzung typographischer Mängel[8] verbessert werden. Da wohl weiterhin mit neuen Coltrane-Reissues und Posthum-Veröffentlichungen zu rechnen ist (so konnten die Aufnahmen für Stellar Regions vom 15. Februar 1967 nicht mehr eingearbeitet werden), kann sicherlich mit einer aktualisierten Neuauflage des Werkes gerechnet werden.

Bernhard Hefele


[1]
"Er und seine Musik haben mich auf den Weg gebracht" (Joachim-Ernst Berendt über seine Beziehungen zur Weltmusik in seiner soeben erschienenen Autobiographie: Das Leben, ein Klang : Wege zwischen Jazz und Nada Brahma / Joachim-Ernst Berendt. - München : Droemer Knaur, 1996. - 496 S. - ISBN 3-426-26933-3 : DM 48.00. - Das Zitat von S. 338. (zurück)
[2]
John Coltrane discography : Collet's holdings / Brian Davis ; Ray Smith. - 1. ed., April 1976. - 2. ed., December 1976. - 58 S. (zurück)
[3]
The recordings of John Coltrane : a discography / David Wild. - Ann Arbor, Mich. : Wildmusic, 1977. - 72, 16 S. - Eine 2. Aufl. erschien 1979. (zurück)
[4]
John Coltrane discography / edited by Jazz Spot Intro. - Tokyo, 1977. - 27 S. (zurück)
[5]
Nachzutragen wäre in diesem Zusammenhang die folgende Diskographie über Sun Ra: The earthly recordings of Sun Ra / by Robert L. Campbell. - Redwood, NY : Cadence Jazz Books, 1994. - 252 S. ; 23 cm. - ISBN 1-881993-26-4 : $ 25.00. - (Cadence Jazz Books, Cadence Building, Redwood, NY 13679) [2505]. Sie verzeichnet 502 Aufnahmesessions von 1946 bis Dezember 1993 in internationalem diskographischem Standardformat und wird durch folgende Register erschlossen: der Alben und CDs, der Musiker, der Titel sowie der Filme und Videos. - Einen völlig anderen Ansatz verfolgt: Omniverse Sun Ra : comprehensive pictorial and annotated discography ; including record title index, composition index, personnel index, instrument index, Saturn record label and vinyl number index, record label index and essays, photo documents, tapeography, filmography, bibliography / Hartmut Geerken ; Bernhard Hefele. Photography / by Val Wilmer. - Wartaweil : S. Geerken, 1994. - XIII, 250 S. : Ill. ; 30 cm. - (Sigrid Geerken, Wartaweil 37, 82211 Herrsching). Der im LP-Format gehaltene Band enthält zahlreiche Essays, eine ausführliche Diskographie mit 189 Einträgen sowie 225 farbige Abbildungen der Plattencover von LPs, Singles und CDs, dazu eine Bibliographie mit ca. 600 Titeln. Der Band wird durch zahlreiche Register erschlossen. (zurück)
[6]
Wer nur seine Schallplattensammlung abgleichen will, der ist besser mit folgender - inzwischen jedoch veralteten - Diskographie beraten: John Coltrane : sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten / Gerd Filtgen ; Michael Außerbauer. - 2., erw. und überarb. Aufl. - Schaftlach : Oreos-Verlag, 1989. (zurück)
[7] "Down Beat reader's poll winner", "He signed his first contract with Impulse Records", "Coltrane toured Europe along with Naima", "Eric Dolphy died in Berlin: Eric's parents presented to John his flute and bass clarinet" usw. (zurück)
[8]
Das deutsche ß wird regelmäßig mit einem B wiedergegeben: aus Außerbauer wird AuBerbauer, aus Wießmüller WieB-muller (S. X). (zurück)

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