Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 4
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Die gotischen Handschriften der Württembergischen


96-4-377
Die gotischen Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. - Stuttgart : Hiersemann. - 35 cm. - (Katalog der illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart ; 3) (Denkmäler der Buchkunst ; ...)
[3447]
Teil 1. Vom späten 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert / bearb. von Christine Sauer. Mit Beitr. von Ulrich Kuder. - 1996. - 478 S. : zahlr. Ill. - (... ; 12). - ISBN 3-7772-9603-1 : DM 590.00

Der dritte Band des Katalogs der illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart von Christine Sauer behandelt die gotischen Handschriften der Bibliothek vom späten 12. bis zum frühen 14. Jahrhundert. Dieser Band setzt daher zeitlich etwa dort ein, wo der Bamberger Katalog von Gude Suckale-Redlefsen endet. Was auf den ersten Blick nur wie das chronologische Fortschreiben eines festgelegten Katalogisierungsprogrammes aussieht, ist in Wirklichkeit jedoch ein gewaltiger Schritt in der zu beschreibenden Sache und in der Art der Beschreibung selbst. Denn alle bisher im Rahmen des DFG-Programmes zur Katalogisierung der illuminierten Handschriften in Deutschland erschienenen Bände befaßten sich mit der Buchmalerei und dem Initialschmuck der vorromanischen und romanischen Handschriften; das Beschreibungsmodell war seit langem durch die Münchener Kataloge von Elisabeth Klemm vorgegeben.[1] Wer also die Buchproduktion aus der Zeit der gotischen Schriften beschreiben will, begibt sich - zumindest in Deutschland - inhaltlich und formal auf Neuland. Er muß sich, will er seine Sache angemessen behandeln, eigene Wege bahnen und vielfach neue Lösungen suchen. Der Autorin ist dies, um es vorweg zu sagen, im großen und ganzen auf hervorragende Weise gelungen.

Die Entstehungsgeschichte des Bandes war nicht einfach. Ein seit langem festliegendes Mengengerüst, der Bearbeiterwechsel von Ulrich Kuder, der am vorliegenden Katalog noch mit 22 Beschreibungen beteiligt ist, zur Autorin führten bei der Auswahl der sachlich zusammengehörigen Handschriften zu Problemen, die sich im vorliegenden Band durch Nachträge zu den beiden älteren Bänden[2] und Vorgriffe auf die folgenden Bände darstellen. Dieses Problem ist jedoch kaum der Autorin anzurechnen, denn es hat selbstverständlich auch strukturelle Gründe. Die in der Sache natürlich richtige Entscheidung, die kunsthistorischen Spezialkataloge nicht nach der Signaturenfolge, sondern innerhalb der Schulen und Epochen chronologisch zu ordnen, muß immer wieder zu solchen Überschneidungen führen.

Von den etwa 800 illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek beschreiben die Autoren 108 gotische Handschriften und dokumentieren sie in 447 Abbildungen (davon 6 farbig) in Originalgröße. Von den beschriebenen Handschriften sind 13 im dritten oder vierten Viertel des 12. Jahrhunderts, 86 im 13. Jahrhundert und 9 zu Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden. Ihrem Entstehungsort nach sind 45 Handschriften deutscher, 49 französischer, sechs italienischer, vier vielleicht englischer und vier unbestimmter Herkunft. Die Sprache all dieser Bände ist, wenn man von den beiden volkssprachlichen Ausnahmen, zwei deutschen Handschriften, absieht, bezeichnenderweise durchweg Latein.

Anders als in Bamberg, wo der mittelalterliche Bücherbestand von Dom und Kloster Michelsberg auch heute noch unweit seines Entstehungsortes aufbewahrt wird und wo Herkunft und Vorbesitzer vielfach noch identisch sind, ist der hier zu behandelnde mittelalterliche Handschriftenbestand der Stuttgarter Bibliothek seiner Provenienz nach sehr unterschiedlich zusammengesetzt und teilweise auf recht verschlungenen Wegen in die Sammlung gelangt. Die Stuttgarter Bibliothek verdankt natürlich wie so viele andere auch einen großen Teil ihres Handschriftenbesitzes der Säkularisation am Ende des Alten Reiches. Aus dem Bestand der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Landesbibliothek oder der Hofbibliothek (seit 1884 in der Landesbibliothek aufbewahrt) übernommenen Bibliotheksbände beschreibt der vorliegende Katalog 28 Handschriften aus der Benediktinerabtei Weingarten (bei Ravensburg), darunter 12 ursprünglich aus der Dombibliothek Konstanz stammende Handschriften, 18 Handschriften aus der Benediktinerabtei Zwiefalten (bei Riedlingen), 12 aus dem Zisterzienserkloster Schöntal (Kr. Künzelsau), fünf aus der Deutschordenskommende Mergentheim und eine aus dem Chorfrauenstift Oberstenfeld (Kr. Ludwigsburg). Die 13 Handschriften aus dem Stift Komburg (bei Schwäbisch Hall) stammen überwiegend aus den Bibliotheken der Humanisten Erasmus Neustetter und Oswald von Eck. Aus den kirchlichen Bibliotheken Stuttgarts wurden dagegen nur vier Handschriften übernommen, während immerhin 26 Bände auf unbekanntem Weg, vermutlich vielfach erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch Kauf in die Sammlung gelangten.

Der auf diese Weise zusammengekommene Handschriftenbestand weist - wiederum verglichen mit der Bamberger Sammlung - zwei charakteristische Besonderheiten auf. Vergleicht man nämlich die Statistik der Vorbesitzer der Handschriften mit der der Entstehungsorte, so fällt auf, daß - anders als in Bamberg - Entstehungsort und Vorbesitzer nur in Ausnahmefällen übereinstimmen. Stammten in Bamberg etwa zwei Drittel der beschriebenen Handschriften auch aus dem Michelsberger Skriptorium, so gilt das im Falle des Stuttgarter Bestandes nur noch für zwei von 18 aus Zwiefalten und ebenfalls für zwei von 16 aus Weingarten stammende Handschriften - also aus zwei Abteien, deren Skriptorien im 12. Jahrhundert von großer Bedeutung waren. Zum zweiten ist der Anteil der importierten Handschriften vor allem aus Frankreich, aber auch aus Italien in Stuttgart noch höher als in Bamberg. Der sich dort bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts abzeichnende Trend hat sich, wie die Stuttgarter Bestände zeigen, im 13. Jahrhundert offensichtlich noch verstärkt. Damit dürfte eine für den gesamten Bereich des mittelalterlichen Deutschlands im 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geltende Tendenz benannt sein. Denn man kann mit guten Gründen behaupten, daß die in diesem Katalogband vereinigte, durch das Wechselspiel von Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall[3] entstandene Auswahl von Handschriften einen repräsentativen Querschnitt durch die Buchproduktion des 13. Jahrhunderts darstellt. Die Gründe für die beiden oben genannten Erscheinungsformen verweisen auf einen grundsätzlichen Wandel in der mittelalterlichen Buchproduktion, der, im 12. Jahrhundert beginnend, sich im 13. Jahrhundert verstärkt hat, nämlich auf den Übergang vom klösterlichen Skriptorium zur städtischen Buchproduktion, zur kommerziellen, von Laien betriebenen Werkstatt. Hintergrund dieses Phänomens ist der Aufschwung des 12. Jahrhunderts, oft nur als "Renaissance" beschrieben. Er ist im wesentlichen zunächst ein sozialer und ökonomischer Wachstumsprozeß, in dessen Folge Bevölkerungswachstum, allgemeine Entfaltung städtischen Lebens, Konzentration und Bürokratisierung der politischen Herrschaft und damit der Bedarf an "Funktionären" zunehmen. Rationale Formen der Erziehung, Schriftlichkeit und Fachbildung vor allem in Recht, Medizin und Theologie gewinnen an Bedeutung und werden zur lukrativen Chance. Die Zahl der Lehrer, Schüler und Schulen steigt erheblich, wie Guibert von Nogent um 1115 einmal bemerkt. Der Bedarf an Büchern wächst parallel dazu naturgemäß mit. Die sich entfaltenden Schulen konzentrieren sich in den städtischen Kernlandschaften Europas, vor allem im nördlichen Frankreich und in Norditalien. Dort entstehen in verwickelten Prozessen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dann auch die ältesten europäischen Universitäten. In der gleichen Zeit werden dagegen die schulischen Aktivitäten der traditionellen Klöster auf ein Minimum reduziert. Eine Anpassung an die neue Welt gelingt dann erst wieder den Mendikantenorden mit ihren städtischen Niederlassungen und den dazugehörigen "studia".

In ihrer materialreichen, weit ausgreifenden Einleitung zum Katalogband macht die Autorin die Ablösung der Klosterskriptorien durch professionelle städtische Werkstätten und damit auch das häufige Auseinanderfallen von Entstehungsort und Bibliotheksheimat völlig zu Recht zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und zum Angelpunkt ihrer Kataloggliederung. Die Handschriften werden nicht mehr - wie in den Katalogen der romanischen Handschriften - nach Provenienzen geordnet, sondern nach Entstehungsregionen oder Entstehungsorten. Diese neuartige, sinnvolle und sachlich begründete Entscheidung ist die Frucht einer intensiven und konsequenten Beschäftigung der Autorin vor allem mit der neueren angelsächsischen und französischen Forschung zur Buchproduktion des Hochmittelalters, mit den Arbeiten von Robert Branner, Mary und Richard Rouse, Christopher De Hamel, Mary Carruthers, Jonathan J.G. Alexander, François Avril, Patricia Stirnemann u.a. Die Tendenz der Autorin jedoch, die oben kurz angedeuteten Entwicklungen des 12. und 13. Jahrhunderts aus einer überwiegend kunsthistorischen Perspektive zu betrachten, verstellt ihr gelegentlich ein wenig den Zugang zur historischen Wirklichkeit von Schule und Universität. Auch ihre Neigung, sehr heterogene Sachverhalte unter dem stilgeschichtlichen Begriff der "Gotik" zu subsumieren, führt nicht immer zu ganz glücklichen Formulierungen.[4] Doch diese meist stilistischen Ungenauigkeiten, die auf eine mangelnde Vertrautheit mit den Fachwissenschaften der mittelalterlichen Universität hinzuweisen scheinen, bleiben angesichts der gewaltigen Arbeitsleistung der Autorin im Bereich ihres eigenen Fachgebietes, nämlich dem der kunsthistorischen Analyse des Buchschmucks, eine marginale Erscheinung; denn für den wesentlichen Inhalt des Katalogbandes haben sie keine spürbaren Konsequenzen.

Eine veränderte Form des handschriftlichen Buches fordert auch eine veränderte Methode der Beschreibung. Die Fleuronnéeinitiale ist bekanntlich der für den gotischen Buchschmuck charakteristische Initialtyp. Dieser Form der Initiale, über Jahrzehnte hinweg jedoch auch von der kunsthistorischen Forschung mehr oder minder ignoriert, wird im vorliegenden Band nun die Aufmerksamkeit zuteil, die ihr gebührt. Das Fleuronnée wird ebenso detailliert beschrieben wie der gemalte Buchschmuck und in seinen eigentümlichsten Formen für jede Handschrift auch bildlich dokumentiert. Die für dieses Unterfangen nötige Begrifflichkeit, die auf gemeinsame Anstrengungen aller DFG-Katalogisatoren der illuminierten Handschriften zurückgeht, stellt die Autorin in einem kurzen Überblick vor (S. 45).

Der Fülle der Einzelbeobachtungen in der Einleitung und in den Beschreibungen von Ulrich Kuder und Christine Sauer sowie die Vielzahl kunsthistorischer Bezüge zu Parallelhandschriften können in dieser kurzen Anzeige des Bandes nicht einmal grob angedeutet, geschweige denn im einzelnen besprochen werden. Wenige Hinweise müssen hier deshalb genügen. Das für die Ausstattung von Handschriften französischer Herkunft charakteristische Layout mit hierarchischer Seiteneinteilung, Seitentitel, Kapitelüberschriften, Initialenhierarchie, Initialschmuck im Channel Style u.a. wird an dem reichen Stuttgarter Bestand von glossierten Bibeln des 12. Jahrhunderts und an den im 13. Jahrhundert massenhaft produzierten Pariser Bibeln ohne Kommentar exemplifiziert. Eine tabellarische Übersicht für die überlieferten Textteile und die typischen Ausstattungselemente dieser zuletzt genannten Buchgattung (S. 207 - 219) erleichtert die vergleichende Analyse dieser Handschriften erheblich. Eine herausragende Bologneser Bibel (Kat. Nr. 100) verweist durch ihre textlichen und ikonographischen Besonderheiten trotz aller Verwandtschaft zur Pariser Bibelproduktion auf die intellektuellen und stilistischen Differenzen zwischen der französischen und norditalienischen Universität.

Die herausragenden Stücke der Buchproduktion deutscher Herkunft sind die detailliert beschriebenen Prachtpsalterien der Stuttgarter Bibliothek, der Waldkirch-Psalter und der Oberndorfer Psalter (Kat. Nr. 16 und Kat. Nr. 19), der in seinem Originaleinband erhaltene Comburger Psalter (Kat. Nr. 30) und als absolutes Spitzenstück, als Vertreter des Zackenstils, der vom Landgrafen Hermann von Thüringen und seiner zweiten Gemahlin Sophia in Auftrag gegebene Landgrafenpsalter (Kat. Nr. 39). Doch die Bedeutung der Stuttgarter Katalogisierung der Handschriften deutscher Herkunft liegt nicht nur in der Beschreibung der Zimelien und der weniger bekannten Stücke, sondern auch in dem kunst- wie sozialgeschichtlich gleichermaßen wichtigen Nachweis von kommerziell arbeitenden städtischen Laienateliers mit standardisiertem Formenrepertoire in Regensburg, Konstanz und Zürich. Diese Ateliers sind seit dem zweiten Viertel, verstärkt seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar, damit etwa einhundert Jahre später als in Paris. In den Umkreis dieser Werkstätten gehört auch die Weingartner Liederhandschrift (Kat. Nr. 3), die intimere Schwester der Manesse-Handschrift.

Ebenso wie im Bamberger Katalog folgen auch hier die Beschreibungen der einzelnen Handschriften den DFG-Richtlinien; die schon erwähnte Tabelle zur Ausstattung der Pariser Bibeln, Signaturenkonkordanz, Abbildungsverzeichnis, zwei Register (ein Personen-, Orts- und Sachregister sowie ein Spezialregister für Buchschmuck, Ikonographie und Einband) sowie ein Verzeichnis der Handschriften in chronologischer Reihung erschließen den Band.

Die beiden hier besprochenen Kataloge lassen den Rezensenten hoffen, daß die beiden Autorinnen den vorgelegten Bänden in überschaubarer Zeit weitere Kataloge in gleich hervorragender Qualität folgen lassen werden. Wenn allem Lob zum Trotz auch hier ein Wermutstropfen bleibt, so ist dies nicht von den Autorinnen, sondern wohl von den Verlagen und der DFG zu verantworten. Die Präsentation von Beschreibungsteil und Abbildungsteil bei beiden Katalogen in einem einzigen Band - eine Praxis, die bei den Stuttgarter Katalogen leider schon lange üblich ist - schränkt die Benutzbarkeit der Bände mehr als nötig ein; denn das ständige Hin- und Herblättern zwischen Beschreibung und bildlicher Dokumentation erschwert den Nachvollzug der formalen und stilistischen Argumentationsgänge der Autorinnen in unerträglichem Maß.


[1]
Die romanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek / Elisabeth Klemm. - Wiesbaden : Reichert. - (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München ; 3). - Teil 1. Die Bistümer Regensburg, Passau und Salzburg. - 1980. - [1 - 2]. - Teil 2. Die Bistümer Freising und Augsburg, verschiedene deutsche Provenienzen. - 1988. - [1 - 2]. (zurück)
[2]
Die romanischen Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. - Stuttgart : Hiersemann. - (Katalog der illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart ; 2) - (Denkmäler der Buchkunst ; ...). - Teil 1. Provenienz Zwiefalten / bearb. von Sigrid von Borries-Schulten. Mit einem paläographischen Beitrag von Herrad Spilling. - 1987. - (... ; 7). - Teil 2. Verschiedene Provenienzen / bearb. von Annegret Butz. - 1987. - (... ; 8). (zurück)
[3]
Vgl. dazu Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers / Arnold Esch. // In: Zeitalter und Menschenalter : Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart / Arnold Esch. - München, 1994, S. 39 - 69. - Auch in: Historische Zeitschrift. - 240 (1985), S. 529 - 570. (zurück)
[4]
Z.B. S. 4: ... gotische Werkstätten ... gotische Formen der Handschriftenproduktion ... Der unsägliche "Bernardus Bottonius" für Bernardus de Botone Parmensis (S. 225 mit weiteren Nachweisen) ist allerdings nicht der Autorin, sondern den RAK-PMA zuzurechnen. (zurück)

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