Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
[ Bestand in K10plus ]

Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland


96-1-084
Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland : ein Lexikon / hrsg. von Cornelia Schmalz-Jacobsen und Georg Hansen. Red. Bearb.: Rita Polm. - München : Beck, 1995. - 571 S. ; 23 cm. - ISBN 3-406-39147-8 : DM 88.00
[3147]

Dieses von der Bundesbeauftragten für die Belange der Ausländer gemeinsam mit einem Erziehungswissenschaftler herausgegebene Lexikon bietet bei insgesamt 56 Einträgen 32 Überblicksartikel zu ethnischen Minderheiten sowie Themenbeiträge z.B. zum Minderheitenbegriff, zu Religionen, Sachfragen der Migrationspolitik, Migrationsanlässen u.ä. (mit Literaturangaben) für einen breiteren Benutzerkreis. Dazu kommt ein Anhang mit Tabellen und einer Adressenliste (Selbsthilfegruppen, Interessenvertretungen u.ä.).

Das Lexikon versteht sich als "Bestandsaufnahme multikultureller Realität" (Klappentext) und will "politisch-gesellschaftlich orientiert" (S. 9) sein. Es geht von einem politischen Begriff von Multikulturalität als Differenz aus und will das Bewußtsein von der kulturellen Vielfalt und Bereicherung durch Migranten und ethnische Minderheiten fördern. Es wird eine bewußte Auswahl geboten, die sich nicht an der Größe einer Gruppe orientiert (Chilenen haben einen Eintrag, die fünfzehnmal größere Gruppe der Briten in Deutschland nicht). Sie umfaßt überraschenderweise auch (Spät-)Aussiedler, was durch den hier angewendeten Begriff von Ethnie erklärbar ist (hierzu ein eigener Eintrag). Die namentlich gezeichneten Artikel stammen meist von Angehörigen der jeweiligen Minderheit und behandeln nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Migration in historischer Perspektive, Religion, Soziologie usw., anspruchsvoll und doch in verständlicher Form, aber nicht als fachwissenschaftliche Texte. Im Vorwort wird zu Recht darauf hingewiesen, daß dadurch, daß Betroffene schreiben, Wertungen einfließen; so werden z.B. innerethnische Konflikte vernachlässigt, was heißt, daß es an kritischer, wissenschaftlicher Distanz mangelt. Deshalb überrascht es nicht, daß Beiträge von Fachwissenschaftlern, die nicht den beschriebenen Minderheiten angehören, überzeugender (und kritischer) geraten (wie z.B. die über die chinesische oder die japanische Minderheit). Die themenbezogenen Artikel sind im Durchschnitt deutlich oberflächlicher und meist stark von einer Wissenschaftsrichtung geprägt (nämlich der des Herausgebers Hansen): in diesem Sinne können z.B. Kultur, Schule und Bildung oder Medien nicht als überzeugende Lexikon-Artikel bezeichnet werden. Besonders enttäuschend bei einem solchen Fachlexikon ist, daß einschlägige zentrale Begriffe nicht umfassend erläutert werden, wie z.B. Ausländerrecht (3 Seiten) oder Flucht und Asyl - hier müßte (u.a. auch juristisch) Umfassenderes geboten werden. Gut in seiner Praxisorientierung ist der Artikel Binationale Paare.

Durchweg versucht das Lexikon political correct zu sein, doch wirkt diese Anstrengung zuweilen befremdlich: "Negerküsse" stünden einer "wirklich aufgeschlossenen Begegnung"(48) mit Afro-Deutschen entgegen, Ehre als ein Zentralbegriff der italienischen Gesellschaft des Mezzogiorno gibt es nur mit Anführungszeichen und die Minderheiten werden meist umständlich mit beiden grammatischen Genera bezeichnet: Ghanaer und Ghanaerinnen, Bewohner und Bewohnerinnen der Lausitz (für Sorben).

Vergleichbar mit vorliegendem Werk ist das seit 1992 erscheinende, noch nicht abgeschlossene Handbuch in Loseblattform Ethnische Minderheiten in Deutschland.[1] Es enthält eine geringere Zahl von Themenbeiträgen, nüchtern-sachlich und mit wissenschaftlichem Anspruch. Die Artikel über die verschiedenen Minderheiten sind erheblich ausführlicher, dazu mit umfassender Bibliographie, und differenzierter. So werden z.B. Eritreer und Oromo hier nicht unter Äthiopier subsumiert. Der Wissenschaftler wird sicher eher zu diesem Handbuch des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung greifen, wenngleich Schmalz-Jacobsen/Hansen über ethnische Minderheiten und Migranten einen guten und schnellen Über- und Einblick ermöglichen.

Klaus Ulrich Werner


[1]
Ethnische Minderheiten in Deutschland : Arbeitsmigranten, Asylbewerber, Ausländer, Flüchtlinge, regionale und religiöse Minderheiten, Vertriebene, Zwangsarbeiter / Berliner Insitut für Vergleichende Sozialforschung (Hg.). - Berlin : Edition Parabolis. - Losebl.-Ausg. - Grundwerk. - 1992. - ISBN 3-88402-063-3. - Lfg. 1 (1992) - 3 (1994). - Eine 4. Lfg. ist geplant. (zurück)

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