Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
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Märchenlexikon mit Sagen und Fabeln


96-1-073
Märchenlexikon mit Sagen und Fabeln / von Erhard Lanzerath. - Aufl. 1994. - Schmölln : Lanzerath, 1994. - 406 S. in getr. Zählung : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-928944-03-7 : DM 46.70. - (Buchverlag Lanzerath, An der Queeren 1, 04626 Schmölln)
[3088]

Erhard Lanzerath beschäftigt sich nicht mit Märchen, weil ihn die volkskundliche oder narrative Problematik interessiert. Er sieht in ihnen eine literarische Form, die der symbolischen Weitergabe von Lebenserfahrungen und Ratschlägen an die Leser und Zuhörer dient. In den Büchern seines eigenen Verlags erzählt er Märchen und interpretiert sie im Hinblick auf die alltäglichen Probleme seiner Leser und die Diskussion in der Familie - aber, so teilt er in einem dem Märchenlexikon beigelegten Faltblatt mit, bisher habe ein zentrales Nachschlagewerk gefehlt, durch das die ganze Themenbreite dem interessiert fragenden Laien erschlossen werde und das auch Märchenkundliches nicht gänzlich außer Acht lasse.[1]

Dem Ziel der praktischen Lebenshilfe entsprechend, trägt das Märchenlexikon kein Sachwissen zusammen, sondern stellt nach der Meinung des Autors "einen Ratgeber fürs Leben dar, der sich insbesondere an suchende Menschen richtet, die offen sind, um der Seele der Märchen-, Sagen- und Fabelwelt nachzuspüren" (Vorwort, unpaginiert). Die Volkserzählungsforschung hat keinen Anlaß, pädagogischen und populärpsychologischen Ansätzen der Märchenbetrachtung abwertend gegenüberzustehen; sie wird aber darauf zu achten haben, daß der "interessiert fragende Laie" nicht über Probleme und Ergebnisse der Forschung fehlinformiert wird.

Lanzerath meint, "daß die vielfältigen Frageformen eines Laien eine neue Lexikonstruktur erzwingen". Es handelt sich um vier getrennte Verzeichnisse. Zunächst werden unter dem Titel Schlagworte auf 50 Seiten 245 Kurzreferate zu sehr verschiedenartigen Themen zusammengestellt: Erzählungen einzelner Märchen, Beispiele für Geschehensabläufe und die Behandlung von Märchenfiguren, aber auch knapp zusammenfassende Darstellungen der Märchenverfilmung oder des Kunstmärchens. Dazu kommen im selben Alphabet 271 meist einzeilige Wortklärungen von Allah und Allongeperücke bis Zisterne und Zofe; schließlich 23 Auflösungen allgemeiner Abkürzungen und 38 Verweisungen innerhalb des Alphabets. Nicht alle Artikel sind sinnvoll auf Märchen zu beziehen, häufig wird das jeweilige Stichwort unter allgemeinen symbolischen Gesichtspunkten interpretiert (Abschlagen, Ameise, Apfelbaum). Die Auswahl der Stichworte bleibt unklar; das versammelte Material ist eigenwillig und nicht immer zur Vermittlung von adäquatem Sachwissen geeignet; zufällige Quellenauswahl dürfte eine Rolle gespielt haben, etwa bei der Häufung von bergtechnischen Spezialbegriffen (Doppelhäuer). Der Aufbau der Artikel ist uneinheitlich, entscheidende Informationen können fehlen wie in Anti-Märchen, das in 15 Zeilen ausschließlich die Erzählung der Großmutter in Büchners Woyzeck behandelt und mit dem Satz schließt, dieser Text sei "der Spiegel einer Seele, die nichts als Schwermut, Ausweglosigkeit im Kampf gegen die ihr so schlecht erscheinende Welt und Haß kennengelernt hat, die nie˙erfahren durfte, daß es auch Mitleid, Hilfe von außen, Zärtlichkeit, Wahrhaftigkeit, also Liebe gibt ... Hiervon nämlich handeln die 'richtigen' Märchen. Sie geben Hoffnung, Anti-Märchen sind destruktiv" (S.3).[2]

Der zweite Teil des Lexikons trägt die Überschrift Kurzfassungen; hier werden auf 108 Seiten 511 Märchen, Sagen, Fabeln und verwandte literarische Texte in Regestenform oder im Auszug referiert: 60 Seiten bieten literarische Motive anhand von Beispielen, es folgen Nacherzählungen antiker und nordischer Heldensagen sowie - geographisch gegliedert - Orts- und ätiologische Sagen, schließlich Beispiele zur Geschichte der Fabel von Äsop bis zu James Thurber. Die weitere Untergliederung nach wechselnden Gesichtspunkten bietet keine Suchhilfe (Schlaraffenland unter "Heinzelmännchen und andere dienende Geister", S.45).

Im dritten Teil werden 140 Biographien von Sammlern, Erzählern und Regisseuren von Märchenfilmen zusammengetragen, aber auch Schriftsteller des In- und Auslandes, schließlich sogar Karl Friedrich Hieronymus Frhr. von Münchhausen als "deutscher Schriftsteller" (einschließlich eines Porträts, leider ohne Quellenangabe).[3] Von der Auswahl der Personen und der Verläßlichkeit der gegebenen Daten her handelt es sich um den schwächsten Teil der Publikation. Wenn es beispielsweise schon verwundert, Arno Schmidt in diesem Kreis zu finden - offenbar wegen des Untertitels Märchenposse des Romans Abend mit Goldrand -, so ist man verdutzt zu erfahren, daß er zurückgezogen in Celle gelebt habe; angesichts der nicht gerade im Flüsterton vorgenommenen Bargfeld-Mythisierung ein faux pas erster Güte. Die Zufallsauswahl der aufgenommenen Personen korrigieren zu wollen, würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, ebenso die Richtigstellung der zahlreichen Irrtümer bei den Daten. Positiv und nützlich sind die Angaben über Märchenfilm- und Theaterregisseure insbesondere Osteuropas, deren Daten nicht immer leicht zu ermitteln sind und über die man hier nun Anhaltspunkte findet. Daß Lanzerath eine "Kasachische UdSSR" kennt (statt richtig SSR, im Artikel Vogeler), darf bei einem thüringischen Verlag vielleicht als befremdlich angemerkt werden.

Das Titelregister, der vierte Teil des Lexikons, enthält die Überschriften von 2144 Märchen, Sagen, Fabeln und verwandten literarischen Texten. Das gesamte Material ist durch Permutation aller Titelworte für die Stichwortsuche aufbereitet worden, wobei die unpermutierte Eintragung in 261 Fällen eine Verweisung auf den Regestenteil bietet: der Benutzer muß zunächst von einem beliebigen Titelwort auf die Grundfassung des Titels springen und findet dort - in einem guten Zehntel aller Fälle - die laufende Nummer der Kurzfassung. Die übrigen Titel haben eine ungefähre Quellenangabe erhalten, etwa "Sage aus Berlin". Ausgewertet wurden 66 Quellen von den Fabeln Lessings (317 Eintragungen) über die Märchensammlungen Aleksandr Nikolaevic Afanas'evs (247) und der Brüder Grimm (Kinder und Hausmärchen: alle; Sagen: 244), den Werken Gellerts (102), James Thurbers (76), Pestalozzis (59), Ernst Wiecherts (40) bis hin zu Heinrich Seidel, Martin Luther und Leonardo da Vinci (je 1 Eintragung). Die rein mechanische Permutation, in die auch die Artikel einbezogen werden, führt zu erheblichem Ballast im Register. Der Nutzeffekt ist begrenzt, weil die Quelltexte nicht verschlagwortet wurden, sondern ihre jeweils zufällige Titelfassung zu Grunde liegt. Märchen machen die knappe Hälfte des Materials aus, Fabeln ein gutes Viertel; 10 % entfallen auf Sagen, der Rest auf andere literarische Formen. Ist die Zusammenführung der Überschriften dieser sehr unterschiedlichen Texte zu einem Stichwortregister, dessen Eintragungen zu neun Zehnteln keinen Verweisungscharakter haben, überhaupt sinnvoll?

Der fünfte Teil schließlich enthält ca. 4000 thematisch gegliederte Literaturangaben, wobei der systematische Aufbau der Bibliographie (zwischen "Bilderbücher" und "Märchenstraße") und die Zuordnung der Einzeltitel planlos wirken; lediglich die geographische Zuordnung von Sagen dürfte für den Benutzer eindeutig sein. Die Titelangaben sind formal uneinheitlich; für die Auswahl des Titelmaterials sind Kriterien nicht zu erkennen. Für bibliographische Recherchen sollte man zu Walter Scherfs Märchenlexikon (s.o. IFB 96-1-071) und zur Enzyklopädie des Märchens, bei älteren Werken zu Bolte/Polívka[4] greifen; den angestrebten breiten Literaturüberblick kann dies Zufallskonvolut nicht leisten.

Eine Unzahl sinnentstellender Druckfehler und Doppeleintragungen in den Registern machen deutlich, daß das Märchenlexikon aus dem elektronischen Speicher offenbar ohne jede Korrektur in den Druck gegangen ist. Der Band wird durch sachlich und technisch fehlende Sorgfalt, mangelnde Systematik und die Zufallsauswahl des Gebotenen bestimmt. Geglückt und nachahmenswert ist die Bebilderung. Welche Kleinodien der Märchenillustration in der Graphik Josef Hegenbarths zu finden sind, hat dem Rezensenten erst dieser sonst leider so zweifelhafte Band bewußt gemacht.

Willi Höfig


[1]
Menschheit überlebe - dein letzter Bund (1993); Märchen mit Erläuterungen (1993); Die Moldau : Märchen zur Sinfonie von Friedrich Smetana (1993). (zurück)
[2]
Vgl. den Artitel Antimärchen in der Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, Sp. 609 - 611: "Märchen, die entgegen der ... gattungsbestimmenden glücklichen Lösung der Konflikte tragisch enden" (André Jolles). (zurück)
[3]
Der Text weist dann allerdings richtig darauf hin, daß die Münchhausen zugeschriebenen Lügengeschichten nicht von diesem selbst veröffentlicht worden sind. Zur unübersichtlichen Überlieferungsgeschichte vgl. Stoffe der Weltliteratur : ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte / Elisabeth Frenzel. - 8., überarb. und erw. Aufl. - Stuttgart : Kröner, 1992. - XVI, 931 S. ; 18 cm. - (Kröners Taschenausgabe ; 300). - ISBN 3-520-30008-7 : DM 48.00 [1517], S. 552 - 554. (zurück)
[4]
Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm / neu bearb. von Johannes Bolte und Georg Polívka. - Leipzig : Dieterich, 1913 - 1932. - Bd. 1 - 5. - 2., unveränderte Aufl. - Hildesheim : Olms, 1963. (zurück)

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