Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
[ Bestand in K10plus ]

Walter Benjamin


96-1-034
Walter Benjamin : eine kommentierte Bibliographie / Momme Brodersen. - Morsum/Sylt : Cicero-Presse, 1995. - 311 S. ; 25 cm. - ISBN 3-89120-013-7 : DM 200.00
[3009]

Zu höchster Virtuosität gelangt personalbibliographische Arbeit erst, wenn sie sich einem schriftstellerischen Gesamtwerk zuwendet, das aus einer großen Zahl von kleinen und kleinsten, weit verstreut erschienenen Einheiten besteht, die im Laufe der Textgeschichte noch dazu in wechselnden Amalgamierungen verschiedene neue Verbindungen eingegangen sind. Walter Ritzer hat 1951 für seine Rilke-Bibliographie ein eigenes System entwickelt, um mit solchen Problemen zurechtzukommen. Georg Potempa hat in seiner Primärbibliographie 1992 die komplizierte Situation bei Thomas Mann (IFB 94-3/4-450) mustergültig gemeistert.

Ähnlich schwierig sind die Verhältnisse bei Walter Benjamin, zu dem die Cicero-Presse jetzt eine lange entbehrte kommentierte subjektive Personalbibliographie von M. Brodersen vorlegt. Sie geht weit über die bisherigen bibliographischen Arbeiten Rolf Tiedemanns, des Herausgebers der Gesammelten Schriften Benjamins, hinaus. So sind bei Brodersen allein 493 unselbständig erschienene Beiträge nachgewiesen.

Brodersen bietet sein Material in folgenden Abschnitten: A. Gesammelte Schriften; B. Sammlungen; C. Einzelwerke; D. Benjamin als Übersetzer (selbständig und unselbständig erschienene Publikationen); F. Briefe und Briefwechsel; G. Übertragungen der Schriften Benjamins (nach dem Alphabet der Sprachen unterteilt). Innerhalb der Abschnitte sind die Eintragungen durch eine - ggf. abgestufte - Numerierung bezeichnet. (Mitarbeiter an Teilen, vor allem in der Rubrik G, werden übrigens seltsamerweise nur im Inhaltsverzeichnis erwähnt.)

Die einzelnen Abschnitte bieten die Schriften in der chronologischen Folge ihres Erscheinens. Ausnahmen bilden die Bände der deutschen und fremdsprachigen Werkausgaben, chronologisch nicht sicher einzuordnende Schriften und die Übersetzungen im Abschnitt G, die innerhalb eines Jahres lediglich nach dem Alphabet der Übersetzungstitel geordnet sind. Warum nicht nach dem der Originaltitel?

Erfaßt sind - konsequent unter dem Titel ihres Erscheinens auch dann, wenn sich eine Zeitschriftenredaktion über Benjamins Titelvorgabe hinweggesetzt hat - Erstveröffentlichungen (einschließlich der Vorabdrucke), Nachdrucke zu Benjamins Lebzeiten und der jeweils erste postume Nachdruck. Weitere Nachdrucke, ebenso die Raubdrucke sind nur vereinzelt nachgewiesen. Bei Zeitungsbeiträgen ist die Kollation verschiedener Ausgaben desselben Tages auf die Frankfurter Zeitung beschränkt. Die wenigen nicht autopsierten Titel (vor allem im Abschnitt G) sind mit einem Asteriskus gekennzeichnet.

Den Rang dieser Bibliographie bestimmen vor allem die Kommentare zur Entstehungs- und Textgeschichte der kleinen Texte, die Benjamin in einem Prozeß der Fortschreibung immer wieder verändert und an neue Stellen versetzt hat. Unter den sieben Registern, die ein Viertel des Umfangs einnehmen (Werktitel, Übersetzungen, Rezensionen, Briefempfänger, Periodika, Verfassersiglen, Namen) kommt daher dem Werkregister besondere Bedeutung zu, das sämtliche Titelvarianten enthält.[1]

Benjamin, selbst Verfasser einer bislang unveröffentlichten Lichtenberg-Bibliographie, die im Fachbereich Germanistik der Universität Gießen (nicht, wie hier behauptet, im Universitätsarchiv) verwahrt wird, hat von der Bibliographie im organischen Zusammenhang der Wissenschaft 1928 einmal geäußert, sie "sei nicht ihr Nervengeflecht, aber das System ihrer Gefäße. Mit Bibliographie ist die Wissenschaft groß geworden, und eines Tages wird sich zeigen, daß sogar ihre heutige Krisis zum guten Teile bibliographischer Art ist." Für die Benjamin-Forschung hat Brodersen - nach seiner Bibliographie der Kritik[2] - mit dieser Primärbibliographie einen zweiten Beitrag zur Überwindung ihrer Krisis beigetragen. Von der Krisis der Benjamin-Forschung ist in der Fachdiskussion zumeist in editorischer Hinsicht die Rede; die editorische Situation ist aber von der primärbibliographischen nicht zu trennen.

Nicht unerwähnt bleibe, daß die Lesbarkeit dieser Bibliographie ganz wesentlich aus der vorzüglichen typographischen Gestalt resultiert. Bibliographie ist keine Textsorte, die sich für self-made-desktop eignet.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Entgangen ist dem Bearbeiter allerdings, daß einige Texte aus der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (C 6), z. B. Zu spät gekommen und Das Karussel, in anderer Gestalt (Zu spät gekommenes Kind und Karusselfahrendes Kind) schon 1928 in der Einbahnstraße (C 3) erschienen sind, weil sie dort als Vergrößerungen (dieser Titel auch richtig im Register) zusammengefaßt sind. So fehlen die entsprechenden Verklammerungen im Register und die Bezüge zwischen C 3 und C 6 werden nicht sichtbar. Bei C 6 ist auch insofern noch ein Mißgeschick zu verzeichnen, als zwar die 1962 ab dem 5. Taus. veränderte Typographie, nicht aber die veränderte Paginierung verzeichnet ist. (zurück)
[2]
Walter Benjamin : bibliografia critica generale (1913 - 1983) / Momme Bordersen. - Palermo : Centro Internazionale Studi di Estetica, 1984. - 189 S. - (Aesthetica / Pre-print ; 6) (zurück)

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