Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
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Geschichte der Literatur in Österreich


96-1-033
Geschichte der Literatur in Österreich : von den Anfängen bis zur Gegenwart / hrsg. von Herbert Zeman. - Graz/Austria : Akademische Druck- u. Verlagsanstalt. - 28 cm
[2590]
Bd. 1. Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 / von Fritz Peter Knapp. - 1994. - 666 S. - ISBN 3-201-01611-X : öS 565.00, DM 87.00

Die neue Geschichte der Literatur in Österreich nutzt die gegenwärtige Vorliebe für Regionen und Regionalismus, zeigt aber zugleich, wie die regionalen Aspekte der Literatur mit überregionalen und übernationalen zusammenhängen. Den Titel des auf sieben Bände geplanten, von dem Wiener Literaturhistoriker Herbert Zeman herausgegebenen Werks dürfen wir ganz wörtlich nehmen. Er umschreibt den Prozeß von Anregung und Aneignung, der sich in den österreichischen Ländern - vom babenbergischen Territorium über die habsburgische Hausmacht und die Donaumonarchie bis zu den beiden Republiken - als kontinuierliche Interferenz von deutschsprachiger, lateinischer, italienischer, slawischer und ungarischer Literatur seit über tausend Jahren abspielt. So werden wir, wenn das Unternehmen gelingt, diese Geschichte der Literatur in Österreich auch als ein Lehrstück kulturellen Austausches lesen können. Schon der Blick auf die mittelalterliche Literatur in Österreich beweist das, deren Darstellung der Kieler Altgermanist Fritz Peter Knapp übernommen hat.

Die ersten Spuren des Schrifttums reichen in die Zeit der Kolonisation und Missionierung bis etwa 1075. Verglichen mit dem literarischen Aufschwung in Bayern, das, von den Ottonen zum "Kronland" gemacht, in Tegernsee mit dem mittellateinischen Ruodlieb den frühesten Ritterroman hervorgebracht hat, sind die Zeugnisse aus den Klöstern und Stiften von Salzburg, Mondsee, Niederaltaich und Passau spärlich und ausschließlich in lateinischer Sprache verfaßt.

Die Epoche vom Investiturstreit bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts führt im Rittertum das Ideal des Streiters Christi. Mit diesem Ideal bestimmt die Geistlichkeit, deren obere Ränge dem Adel vorbehalten bleiben, die Normen des neuen Standes. Die Geistlichkeit beginnt damit aber auch das Monopol schriftgestützter Bildung zu verlieren; die Laien werden literarisiert. Zwar wird ein Großteil auch der volkssprachlichen Literatur von Klerikern verfaßt; die Autoren der neuen Formen Minnesang und Großepik sind als Lehnsleute aber Laien. Anregungen der provenzalischen und französischen Vorbilder hätten sie ohne sprachlich-literarische Bildung nicht ins Mittelhochdeutsche transponieren können. Zugleich entsteht das, zuweilen durchaus kritische, höfische Publikum.

Die Kapitel zum frühen und hohen Mittelalter, das Knapp für Österreich mit der Wahl Rudolf von Habsburgs 1273 enden läßt, stellen daher jeweils die lateinische und die deutsche Literatur mit ihren verschiedenen Gattungen nacheinander dar. In lateinischer Sprache entstehen theologische Schriften, liturgische Gesänge, Heiligenviten, Geistliche Spiele und Chroniken, aber auch die Lieder der fahrenden Studenten, die ihr Latein mit volkssprachlichen Anteilen durchmischen. Die deutsche Literatur umfaßt z.B. Bibel- oder Legendenepik und Lebenslehren, erreicht ihre höchsten Formen aber im Minnesang, in der Sangspruchdichtung und in den großen Epen. Viele herausragende Autoren und Werke, die auch der Laie wenigstens dem Namen nach kennt, stammen aus den österreichischen Ländern: Walther von der Vogelweide, der früheste politische Dichter deutscher Sprache; Neidhart, auf den wahrscheinlich eine Invektive Walthers von der Vogelweide zielt; Wernher der Gärtner, der Verfasser des Helmbrecht; der anonyme Dichter des Nibelungenliedes, der altes Sagengut umformt in eine Darstellung einer Gesellschaft, die nicht durch Institutionen, sondern durch den Personenverband strukturiert wird; der Stricker schließlich, Verfasser von Epen und Reimpaargedichten - in seiner Zeit einer der bekanntesten Autoren, den alle spätere Literaturgeschichte bis heute meist ignoriert. Auch die Carmina Burana sind trotz ihrem ehemaligen Aufbewahrungsort Benediktbeuern nicht in Bayern, sondern sehr wahrscheinlich in Tirol entstanden.

Der Verfasser orientiert Auswahl und Ausführlichkeit auch an dem Kriterium, was einen Leser von heute wohl am ehesten ansprechen könnte. Textzitate und Übersetzungen helfen, die Scheu vor dem Original abzubauen. Überall zieht der Autor die Verbindungslinien von der Literatur zur Geschichte der Mentalitäten, Ideen, Gattungen und Formen.

Dem Band ist eine vorzügliche Bibliographie im Umfang von 40 Seiten beigegeben, die an Souveränität der Auswahl nichts, an Genauigkeit nur die Auflösung der Vornamen-Initialen zu wünschen übrig läßt. Ein vorzüglich redigiertes Register der mittelalterlichen Autoren und Werke - mit Hervorhebung der Hauptstellen - erlaubt, den Band auch als Nachschlagewerk zu nutzen.

Weniger befriedigt der kurze Bildanhang - bald eine Miniatur, bald Walthers von der Vogelweide Reiserechnung, bald ein Kircheninneres, bald ein Ausschnitt aus den Iwein-Fresken auf Burg Rodenegg -, das ersetzt auch nicht ansatzweise eine Bildgeschichte zur mittelalterlichen Literatur, deren Wünschbarkeit das Buch allenthalben deutlich macht.

Knapp führt eindrucksvoll die Mehrsprachigkeit des mittelalterlichen literarischen Lebens vor Augen. Da an unseren Universitäten für die ältere deutsche Literatur und die mittellateinische Literatur verschiedene Disziplinen zuständig sind, hat heute selbst der fortgeschrittene Germanistik-Student vom konstitutiven Charakter der lateinisch-deutschen Zweisprachigkeit kaum eine rechte Vorstellung. Und wem ist schon bewußt, wie verkehrt und fatal sogar die Rede von der Zweisprachigkeit eigentlich ist? Man kann Knapp nicht genug dafür danken, daß er für das Früh- und Hochmittelalter jeweils auch die hebräische Literatur Österreichs skizziert. Man hat, zumal in den Städten, Tür an Tür mit den Juden gelebt, und im geistigen Austausch mit ihnen gestanden. Zum erstenmal zieht ein gelehrtes Werk die Konsequenz daraus.

In der Theorie fehlt es nicht an Konzepten, das verstreute und auseinanderlaufende Wissen der Spezialisten in vergleichenden Perspektiven zu neuer Einheit zusammenzuführen. Leider vermitteln solche Konzepte eher das beruhigende Gefühl, wieder einmal etwas getan zu haben, als daß sie zur Kärrnerarbeit der Durchführung ermutigen. Hier liegt eine solche Leistung vor - eine Literaturgeschichte, die etwas bewirken könnte, kurz und altmodisch gesagt: bilden, indem sie belehrt, ohne auch nur auf einer Seite langweilig zu sein.

Hans-Albrecht Koch


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