Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 4(1996) 1
[ Bestand in K10plus ]

The forbidden best-sellers of pre-revolutionary France


96-1-003
The forbidden best-sellers of pre-revolutionary France / Robert Darnton. - 1. ed. - New York ; London : Norton, 1995. - XXIII, 440 S. ; 25 cm. - ISBN 0-393-03720-7 : $ 27.50, œ 19.95
[3081]
96-1-004
The corpus of clandestine literature in France, 1769 - 1789 / Robert Darnton. - 1. ed. - New York ; London : Norton, 1995. - 260 S. ; 25 cm. - ISBN 0-393-03745-2 : $ 32.50, œ 25.00
[3082]

Als Ergebnis seiner mehr als fünfundzwanzigjährigen Forschungen legt Robert Darnton jetzt diese beiden Werke vor. Sie sind der zweite Teil einer Trilogie, deren erster Teil sich mit der Veröffentlichungsgeschichte der Encyclopédie befaßte,[1] während als abschließender Band eine allgemeine Studie über Verlagswesen und Buchhandel geplant ist. Eine erheblich kürzere französische Fassung des vorliegenden Werkes erschien zuerst 1991 in Paris.[2]

Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die unter Historikern bis in die jüngste Zeit immer wieder diskutierte Frage nach den Ursachen der französischen Revolution, nach dem Zusammenhang zwischen philosophischer Aufklärung und politischer Entwicklung. Darnton geht diese Frage konsequent unter dem Blickwinkel der Buchgeschichte als Kommunikationsgeschichte an. Das Buch, seine Herstellung und noch mehr seine Verbreitung sind daher die zentralen Momente der Darstellung. Darnton warnt allerdings auch davor, mit modernen Vorstellungen eine Kausalkette von Ursache und Wirkung zu schaffen, an deren Ende der Sturz des ancien régime stand. Nur die Erforschung der Verbreitung kann mit relativer Sicherheit darüber Auskunft geben, wieweit die Wirkung der Aufklärung, und nicht nur der "großen" Autoren, reichte. Darntons Auswertung beruht zunächst auf den Papieren der Societé Typographique de Neuchƒtel, die ergänzt werden um eine Liste der Pariser Zollbehörden, eine Liste von Beschlagnahmungen bei Polizeikontrollen in Buchhandlungen in Paris, Straßburg, Caen, Lyon, Versailles für die Jahre 1773 - 1783, sowie 6 illegale Kataloge philosophischer Literatur. Daraus ergibt sich ein repräsentativer Bestand an Titeln, der nicht zuletzt durch die Zahl der Beschlagnahmungen erkennen läßt, daß es nicht immer eine klare Trennung zwischen legaler und illegaler Literatur gab.

Die Verleger und Buchhändler bedienten sich vor allem bei der Bestellung der begehrten philosophical books einer Tarnsprache. Mit speziellen Transportwegen, aber auch Bestechungen von Zöllnern und Zensoren, die aus legalen wertvollen Prachtausgaben bestehen konnten, wurde versucht, das Risiko von Haussuchungen, Beschlagnahmungen und direkten Bestrafungen so gering wie möglich zu halten. Die Verrechnung erfolgte im Tauschverkehr, wobei sich besondere Tauschraten für gefragte Titel ergaben, die natürlich auch auf die Preise durchschlugen. Bei allen Risiken blieben die Preise im Verhältnis zur Kaufkraft erschwinglich. Gerade der Tausch schuf einen ziemlich einheitlichen Fundus von Titeln, die über den Buchhandel verfügbar waren. Dieser Aspekt des Tauschhandels ist um so interessanter, als sich gerade in dieser Zeit in Deutschland der Übergang vom Tausch- zum Barverkehr im Buchhandel vollzog. Da diese Titel nicht offen feilgeboten werden konnten, wurden sie, um einen Terminus der Mangelwirtschaft vergangener Jahre zu verwenden, als "Bückware" gehandelt, neben den offiziellen Katalogen der Verleger und Buchhändler zirkulierten außerdem illegale Kataloge, die nur diese Literatur verzeichneten.

Darnton hat aber nicht allein die Akten studiert, er kennt auch diese facettenreiche Literatur und leitet aus dieser Kenntnis einige prinzipielle inhaltliche Überlegungen ab. So sieht er in den Attacken auf die Religion ebenso wie in den sogenannten pornographischen Schriften das Fortleben älterer literarischer Traditionen, für die Namen wie Boccaccio, Aretino und Rabelais stehen, dazu die spezielle französische Neigung für Zweideutigkeiten. Interessant ist die enge Wechselbeziehung zwischen Literatur und Buchillustrationen, die sich in einer voyeuristischen Sicht manifestiert: die Vorgänge werden geschildert aus der Sicht des Beobachters am Schlüsselloch oder hinter Vorhängen, Spiegelszenen in Illustrationen vermögen die gewünschten Effekte noch zu erhöhen.

Philosophische Abhandlungen umfaßten sowohl theoretische Ausführungen als auch allgemeine Werke, die Mißstände kritisierten, ohne daß sie ausgesprochen religiös oder politisch oder pornographisch waren. Pornographie, ein Begriff, den es im 18. Jahrhundert so nicht gab, wird bei Darnton eher als Metabegriff für die verschiedenen Ausprägungen erotisch gefärbter Literatur denn als eine Wertung verwendet. Knapp und deutlich setzt er sich dabei gegen die prüden Tendenzen des 19. Jahrhunderts ab, deren Reinheitsgebot auch vor den Klassikern nicht halt machte und in denen Bibliothekare diese Texte unter Verschluß nahmen: "Strictly speaking, pornography belonged to the bowdlerization of the world undertaken in the early Victorian era" (S. 88). Diese Ausführungen über ein Gebiet, das nicht nur bei Sammlern, Bibliographen und Bibliothekaren Interesse findet, sollten angesichts immer wieder aufflammender Diskussionen dazu ebenso sorgfältig gelesen werden wie z.B. das Buch von Jean Marie Goulemot.[3]

Zu den Schlüsseltexten, die sowohl aufklärerisch-philosophisch als auch erotisch wirkten, rechnet Darnton die 1748 erschienene ThérŠse philosophe,[4] mit der die Phase libertinärer Literatur in Frankreich eingeleitet wurde, an deren Ende der Marquis de Sade stand. Neben diesen Texten finden sich auch utopische Phantasien wie L'An 2440 von Louis-Sebastien Mercier (1771), in denen sich in die Visionen einer neuen Gesellschaft auch Momente mischen, die den heutigen Leser an George Orwell erinnern.

Politische Bücher, die rund 26% der verbotenen Titel ausmachten, behandelten in der Regel laufende Ereignisse, aber auch das Schicksal der Gefangenen in der Bastille, die als Ort des Schreckens mit einem Hauch des zeitgenössischen Schauerromans versehen wurde. Eine andere Kategorie waren die Werke der libellistes, die ihren Stoff vom Insiderklatsch erhielten. Ihre Schriften, die sich als zeitgenössische Geschichte oder Biographie tarnten, trugen nicht wenig dazu bei, das Königtum Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. in Mißkredit zu bringen, Zweifel an seiner Legitimation zu nähren und es auszuhöhlen. Die Beispiele sind durchaus vergleichbar mit jenem publizistischen Coup von 1688 in England, als der Thronerbe James' II. als das untergeschobene Kind eines Müllers bezeichnet und damit die herrschende Stuart-Monarchie so nachhaltig diskreditiert wurde, daß es zum unblutigen Machtwechsel - der "Glorreichen" Revolution von 1688 - kam.

In einem zweiten Teil bringt Darnton ausführliche Auszüge eigener Übersetzungen von ThérŠse philosophe, Merciers L'An 2440 und Anecdotes sur la Mme la Comtesse du Barry (1775) als Beispiele sogenannter philosophischer Bücher.

Im Begleitband, The Corpus of clandestine literature in France, 1769 - 1789, wird zunächst eine alphabetisch nach Titeln geordnete und bibliographisch verifizierte Grundliste von 720 verbotenen Büchern mit den Belegen aus Katalogen und Beschlagnahmeprotokollen aufgeführt. Auf ihrer Basis erstellt, folgt dann eine Liste von 74 Büchern, die am meisten gefragt waren. An ihrer Spitze steht Merciers L'An 2440, an letzter Stelle die Erzählungen La Fontaines. An der Spitze der Autoren, deren Werke besonders gefragt waren, steht Voltaire, gefolgt von Holbach. In der Aufteilung der gefragten Literatur nach Sachgebieten steht die Politik mit 29,5% an der Spitze, wobei innerhalb dieser Gruppe Schmähschriften und Satiren auf höfische Verhältnisse fast die Hälfte ausmachen. Es folgt, fast gleichauf, die Religion mit 29,4%, allerdings mit solchen Untergruppen wie Satiren, Polemiken (11,4%) und antireligiösen und pornographischen Schriften (8%). Mit sex klassifizierte Schriften kommen auf 12,9%.

Das Titelmaterial wird darauf nach den Buchhändlern gruppiert, die verbotene Literatur bestellten. Die geographische Streuung der Firmen und ihre Bestellungen zeigen, daß es dabei keine wesentlichen regionalen Unterschiede gab, "The same general corpus of forbidden books penetrated every corner of the kingdom" (S. 212).

Es folgt eine Liste der heimlichen Kataloge von Firmen in Genf, Lausanne und Bern, dazu die ausführliche Wiedergabe eines handschriftlichen Kataloges der Societé Typographique de Neuchƒtel aus dem Jahre 1775 mit Ergänzungen von späterer Hand. Ebenfalls mit Titeln genannt werden die bei Polizeirazzien und bei Zollkontrollen in Paris beschlagnahmten Werke. Für die praktische Arbeit ist es allerdings nachteilig, daß die Grundliste nicht durch ein Register der Autoren, Herausgeber, Bearbeiter usw. erschlossen wird.

Darnton breitet vor dem Leser - und das Buch verdient es, gelesen und nicht nur als Informationsmittel genutzt zu werden - eine Fülle von Fakten aus, ohne in ermüdende Faktenhuberei und Detailverliebtheit abzugleiten. Er setzt den Vertrieb des klandestinen Buches in Beziehung zur französischen Geschichte und Literatur, reflektiert seinen Aussagewert im damaligen Kontext und aus heutiger Sicht. Aus den Fakten ergibt sich auch, einem Mosaik gleich, das Bild der alltäglichen Arbeit der Verleger und Buchhändler, die in einer juristischen Grauzone arbeiteten und, auch das verschweigt oder beschönigt Darnton nicht, natürlich Geld verdienen wollten. Mit wissenschaftlicher Exaktheit, aber, wie es die übersetzten Auszüge im ersten Band verraten, wohl auch mit einem gewissen inneren Vergnügen, widmet er sich den "Niederungen" des Buchwesens, der Literatur und Publizistik und zeigt schlüssig, wie dieser Bereich zur Erosion und letztlich zum Sturz des französischen Königtums beitrug.

Die Materialfülle verbietet es von selbst, daß Darnton auch den Blick auf außerfranzösische Vorgänge wirft. Dafür sind viele seiner Erkenntnisse selbsterklärend wie etwa im Falle des Verschwindens des fiktiven Impressums Pierre Marteau[5] in französischen Schriften, im Unterschied zu Deutschland, wo es als Peter Hammer zu dieser Zeit noch immer in Blüte stand - daß hierunter eine Reihe der verbotenen und bei Darnton aufgeführten Titel in deutscher Übersetzung erschienen, sei nur am Rande bemerkt. Für die Forschungen zur Aufnahme französischer Literatur des 18. Jahrhunderts in Deutschland ergeben sich neue Impulse, denn die Existenz größerer Mengen dieser Literatur in Bibliotheken, deren Bestände auf Schloß- und Hofbibliotheken zurückgehen, deutet auf ein nationale Grenzen überspringendes Vertriebsnetz subversiver Literatur außerhalb der offiziellen und kontrollierbaren Kanäle hin. In diesem Zusammenhang dürfte ein erneuter Blick in das Standortverzeichnis der Französischen Drucke des 18. Jahrhunderts in den Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik[6] aufschlußreich sein. Begleitende Forschungen in deutschen Archiven lassen weitere relevante Funde zum Vertrieb dieser Literatur in Deutschland erwarten. Das Werk sollte daher schon aus methodischen Gründen in keiner Bibliothek mit umfangreicheren älteren Beständen fehlen.

Karl Klaus Walther


[1]
The Business of enlightenment : a publishing history of the Encyclopédie 1775 - 1800 / Robert Darnton. - Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1979. - XIV, 624 S. : Ill. - ISBN 0-674-08785-2.
Eine deutsche, um den Dokumentationsteil und die Belege gekürzte Übersetztung erschien u.d.T.: Glänzende Geschäfte : die Verbreitung von Diderots Encyclopédie ; oder: wie verkauft man Wissen mit Gewinn? / Robert Darnton. - Berlin : Wagenbach, 1993. - 363 S. : Ill. - ISBN 3-8031-3568-0. (zurück)
[2]
Edition et sédition : l'univers de la littérature clandestine au XVIIIe siŠcle / Robert Darnton. - [Paris] : Gallimard, 1991. - V, 278 S. : Ill. - ISBN 2-07-072212-0. (zurück)
[3]
Gefährliche Bücher : erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert / Jean Marie Goulemot. Aus dem Franz. von Andrea Spingler. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 1993. - 155 S. : Ill. - (Rowohlts Enzyklopädie ; 528). - ISBN 3-499-55528-X.
Die französische Originalausgabe erschien 1991 unter dem suggestiven Titel Ces livres qu'on ne lit que d'une main. - Aix-en-Provence : Alinéa, 1991. - 171 S. - ISBN 2-7401-0010-8. (zurück)
[4]
Dazu jetzt speziell: Das Geschäft mit der Lust des Lesers : ThérŠse philosophe - zur Druckgeschichte eines erotischen Bestsellers im 18. Jahrhundert / Gudrun Gersmann. // In: Das 18. Jahrhundert. - 18 (1994),1, S. 72 - 84. (zurück)
[5]
Vgl. Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau / Peter Hammer, Köln : zur Geschichte eines fingierten Impressums / Karl Klaus Walther. - 1. Aufl. - Leipzig : Bibliographisches Institut, 1983. - 151 S. - (Beiheft zum Zentralblatt für Bibliothekswesen ; 93). (zurück)
[6]
Französische Drucke des 18. Jahrhunderts in den Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik : Bibliographie / eingel. und hrsg. von Werner Krauss und Martin Fontius. - Berlin : Akademie-Verlag, 1970. - 801 S. (zurück)

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