Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 4
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Was sollen Anglisten und Amerikanisten lesen?


95-4-581
Was sollen Anglisten und Amerikanisten lesen? / von Christa Jansohn ; Dieter Mehl ; Hans Bungert. - Berlin : Erich Schmidt, 1995. - 243 S. : Ill. ; 20 cm. - ISBN 3-503-03712-8 : DM 29.80
[3073]

Der Band, den die Anglisten Jansohn und Mehl zusammen mit dem Amerikanisten Bungert vorgelegt haben, entspricht mit geringen Abweichungen in seiner Konzeption den Titeln Was sollen Germanisten lesen? und Was sollen Romanisten lesen?[1] Die drei Hauptkapitel Literatur der britischen Inseln, Neue Literaturen in englischer Sprache und Amerikanische Literatur enthalten jeweils Autorenlisten und eine Auswahlbibliographie mit Allgemeine(n) Hilfsmittel(n) und Überblicke(n) sowie Anthologien. In den Unterkapiteln, die im Teil I nach Epochen, im Teil II nach Ländern, nämlich Afrika, Westafrika, Ostafrika, Südafrika, Australien, Indien-Pakistan, Kanada, Karibik und Neuseeland, und im Teil III wiederum nach Epochen ordnen, sind gleichfalls Hilfsmittel und Überblicke sowie Anthologien genannt. Die Autoren werden nach dem Geburtsjahr und, bei gleichem Lebensjahr, nach dem Autorenalphabet mit den zur Lektüre empfohlenen Werktiteln aufgeführt.

Die Werke selbst sind nicht kommentiert, allerdings in Einzelfällen durch Sternchen als empfehlenswert bzw. besonders empfehlenswert markiert. Die drei Verfasser streben, so das Vorwort, keinen "Lektürekanon", sondern "eine Orientierungshilfe" an, die einen "Überblick über die interessantesten Texte der englischen und amerikanischen Literatur sowie der englischsprachigen Literaturen der Länder des früheren Commonwealth" gibt, und betrachten "die durch Sternchen angedeutete Gewichtung der Texte ... als Vorschlag zum Erwerb eines gewissen Fundaments an Texten, die alle Anglisten und Amerikanisten kennen sollten" (S. 9). Um die Listen aufzulockern, sind an vielen Stellen kleine Textzitate eingestreut. Das Buch hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck, da es, um die wesentlichen drei Punkte zu nennen, in seiner Betonung der wichtigen Autoren nicht verläßlich, in seinem Nachschlagewert, abgesehen vom Aufbau der Autorenlisten, an sich recht gut, letztlich freilich in seiner Zielgruppe unklar ist. Dem Studenten ist nämlich durch die seit längerem üblichen Minimallisten wohl eher gedient als durch die Überfülle der hier genannten Autoren und Titel, deren Auswahlkriterien nicht hinreichend erläutert sind und deren Schwerpunkte zum Teil nicht nachvollziehbar erscheinen. So sind, um einige gravierende Beispiele zu nennen, einerseits Werke von A. S. Byatt (1936 - ) oder Alice Thomas Ellis (1932 - ) durch Sternchen markiert, andererseits so bedeutende Lyriker wie George Herbert oder W. H. Auden ohne jede Hervorhebung geblieben. Damit wird, wie auch an Beispielen aus Afrika, Indien oder Neuseeland belegbar,[2] keine für den Studenten verläßliche Grundlage der Lektüreauswahl angeboten, so anregend und mutig die Liste der modernen Autoren auch sein mag. Andere positive und negative Punkte der Auswahl, die auffielen, seien kurz an Beispielen belegt: Die Vielfalt der modernen Literatur Großbritanniens ist durch Autoren wie John Banville (1945 - ), Sarah Daniels (1957 - ), Kazuo Ishiguro (1954 - ), Anthony Minghella (1954 - ), Timothy Mo (1950 - ), Winsome Pinnock (1961 - ) oder Jeannette Winterson (1951 - ) gut getroffen. Allerdings überrascht, daß die Schottinnen Carol Ann Duffy (1955 - ) und Jackie Kay (1961 - ) fehlen, da Autoren wie Chris Hannan (1958 - ), Charlotte Keatley (1960 - ), Rona Munro (1959 - ) oder Tim Parks (1954 - ) Raum gegeben wurde. Bemerkenswert ist auch die relativ geringe Berücksichtigung der frühen Frauenliteratur[3] Großbritanniens und der USA, man denke nur an die fehlenden Eliza Haywood (?1693 - 1756), Delariviere Manley (1663 - 1724), Clara Reeve (1729 - 1807) oder Catharine Sedgwick (1789 - 1867). Gewiß trifft es zu, daß "bei den Literaturen außerhalb der Britischen Inseln und Nordamerikas ... noch kaum von einem festen Kanon gesprochen werden kann" (S. 10), dennoch hätte man gerne auch Namen wie Margaret Avison (1918 - ), Michelle Cliff (1946 - ), Cyprian Ekwensi (1921 - ), Robert D. Fitzgerald (1902 - 1987) oder Gwen Harwood (1920 - ) gesehen, nachdem gerade in diesem 2. Kapitel viele wichtige, in der deutschen Anglistik noch kaum rezipierte Namen auftauchen.

Auch auf dem für die Auswahl auf knappem Raum nicht minder schwierigen Feld der amerikanischen Gegenwartsliteratur und der ethnischen Literaturen wird der erkennbare Anspruch, die Kanondiskussion der letzten Jahre in die Autorenauswahl einzubeziehen, nicht ganz erfüllt.[4] So hätte man, dies nur als Beispiel, in der amerikanischen Literatur gerne auch Marge Piercy (1936 - ), in der Literatur der Indianer Gerald Vizenor (1934 - ), bei der mexikanisch-amerikanischen Literatur Sandra Cisneros (1954 - ) oder Ana Castillo (1953 - ), sowie in der osteuropäisch-amerikanischen Literatur eine Autorin aus dem Band How we found America[5] erwartet.

Der zweite Punkt der Problematik liegt in der Anordnung der Autorenlisten. Die Ordnung der Autoren nach dem Geburtsjahr erschwert die Benutzung erheblich, da ein Autorenregister fehlt und ein Umweg über biobibliographische Lexika gewählt werden muß, bevor der Autor gefunden oder vermißt wird. Die Listen selbst sind trotz der geschilderten Desiderata von hohem Wert.

Die dritte Überlegung gilt der Zielgruppe des Buches: Es erscheint, wie schon oben bemerkt, weniger für den Studenten geeignet zu sein als für den Dozenten oder den Bibliothekar, dem es für die Titelauswahl in der Gegenwartsliteratur oder die Sichtung der Bestandstiefe gute Hinweise geben kann. Der eigentliche Nutzen des Bandes für den Studenten liegt, so die zusammenfassende Bewertung, in den im Vorspann bzw. am Ende der jeweiligen Abschnitte genannten Sekundärmaterialien und Anthologien. Denn wenn auch kleine Ergänzungen nötig sind, stellen diese Hilfsmittel und Überblicke sowie die Anthologien[6] bereits jetzt eine brauchbare, mit kundiger Hand getroffene und bibliographisch meist korrekte[7] Auswahl der wesentlichen Literaturgeschichten, Lexika und Forschungsberichte des Faches dar. Damit der Band allerdings die immer noch bestehende Lücke bei den bibliographisch orientierten deutschsprachigen Einführungen zur anglistischen Literaturwissenschaft schließen kann, wären in einigen Punkten noch Erweiterungen nötig: Da bei den Allgemeine(n) Hilfsmittel(n) und Überblicke(n) praktisch nur Literaturgeschichten und Lexika genannt sind, wäre die Aufnahme der einschlägigen Werke von Fabian[8] oder Hanowell[9] bei eventuellen Neuauflagen zu überlegen. Zu denken wäre auch an die Berücksichtigung grundlegender bibliographischer Einführungen, wie etwa die von Bracken[10] und Harner.[11] Das zur "Ergänzung der vorliegenden Auswahlbibliographie" angefügte Werk von Kranz[12] ist für diesen Zweck kaum brauchbar, da es in seinen Annotationen nicht präzis genug, in seiner fast völligen Vernachlässigung der englischen Literatur außerhalb Großbritanniens und der USA, sowie der Nichtberücksichtigung der überseeischen Varianten des Englischen thematisch unausgewogen und stellenweise nicht sorgfältig genug gearbeitet ist.

Was die Lücken in den einzelnen Gebieten und in der Sekundärliteratur betrifft, können aus Platzgründen hier nur einige, jedoch unverzichtbare Titel aufgeführt werden.[13]

Sebastian Köppl


[1]
Dies sind etwa The new Princeton encyclopedia of poetry and poetics, 1993, im allgemeinen Bereich oder Irena R. Makaryks Encyclopedia of contemporary literary theory, 1993 (vgl. IFB 94-3/4-427), bei der Literaturtheorie und -kritik. In den Unterkapiteln, dies können nur wenige Hinweise sein, wären bei der Sekundärliteratur beispielsweise David R. Pecks American ethnic literatures, 1992, A. LaVonne Brown Ruoffs American Indian literatures, 1990, Lizabeth Paravisini-Geberts Caribbean women novelists, 1993, Joseph und Johanna Jones' New Zealand fiction, 1983, William H. News Critical writings on Commonwealth literatures, 1975 und Bernth Lindfors' Black African literature in English, 1979 u.ö. (vgl. zuletzt IFB 95-3-401) zu berücksichtigen gewesen. (zurück)
[2]
Was sollen Germanisten lesen? : ein Vorschlag / Wulf Segebrecht. - Berlin : Schmidt, 1994. - Vgl. die Rezensionen in IFB 95-1-065 und in Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. - 232 (1995) S. 104 - 107. - Was sollen Romanisten lesen? / Frank Baasner und Peter Kuon. - Berlin : Schmidt, 1994. (zurück)
[3]
So wären auch, etwa im Falle Neuseelands, Autoren wie James Keir Baxter (1926 - 1972) und Frank Sargeson (1903 - 1982), und zum Beispiel im Falle Indiens neben anderen auch A. K. Ramanujan (1929 - 1993) hervorzuheben gewesen. Bei der südafrikanischen Literatur überrascht die fehlende Markierung von Oswald Mbuyisen Mtshalis Sounds of a cowhide drum (1971) und Es'kia Mphahleles Down second avenue (1959). Bei Roy Campbell wäre der Titel Adamastor (1931) anstelle des früheren Werks The flaming terrapin (1924) in die Liste zu nehmen. (zurück)
[4]
Auch von den in der letzten Zeit durch Reprints wieder leichter zugänglich gewordenen englischen Schriftstellerinnen, wie Joanna Baillie (1762 - 1851), Hannah Moore (1745 - 1833), Anna Seward (1742 - 1809), Charlotte Smith (1749 - 1806) oder Helen Maria Williams (1762 - 1827) ist, soweit zu sehen, keine berücksichtigt worden, obwohl sie ins Blickfeld der Anglistik gerückt sind. (zurück)
[5]
Allerdings ist bei der amerikanischen Literatur die Markierung der wichtigen Autoren eher gelungen. In den Listen vermißt man aber bei der älteren Literatur unter anderen Royall Tyler (1757 - 1826). In der neueren Literatur hätte man gerne auch Kay Boyle (1903 - 1993), Raymond Carver (1938 - 1988), Paul Green (1894 - 1981), Ntozake Shange (1948 - ), Jean Stafford (1915 - 1979) und Lanford Wilson (1937 - ) gesehen. (zurück)
[6]
How we found America : reading gender through East European immigrant narratives / Magdalena J. Zaborowska. - 1. ed. - Chapel Hill, NC [u.a.] : University of North Carolina Press, 1995. - XIII, 359 S. - Der Band selbst konnte natürlich den Verfassern noch nicht vorgelegen haben. (zurück)
[7]
Die auf S. 15 ff. und bei den jeweiligen Unterabschnitten aufgeführten Anthologien sind, auch in Hinblick auf die kanon- und rezeptionsgeschichtliche Bedeutung der Sammlungen, sehr gut ausgewählt. Folgende Titel wären noch nachzutragen:
S. 18: The Oxford book of Welsh verse in English / ed. by Gwyn Jones. - Oxford, 1977. - Anglo-Welsh poetry : 1480 - 1980 / ed. by Raymond Garlick. - Bridgend, 1984. - S. 46: Cavalier poets : selected poems / ed. by Thomas Clayton. - Oxford, 1978. - S. 134: Poets from the north of Ireland / ed. by Frank Ormsby. - Belfast, 1990. - S. 212: Seventeenth century American poetry / ed. by Harrison T. Meserole. - New York, 1968. - S. 242: After Aztlan : Latino poets of the nineties / ed. Ray González. - Boston, 1992. - The open boat : poems from Asian America / ed. by Garrett Hongo. - New York, 1993. - Unsettling America : an anthology of contemporary multicultural poetry / ed. by Maria Mazziotti Gillan. - New York, 1994. (zurück)
[8]
Neben überholten Auflagen, wie etwa bei Literary history of Canada / ed. by Carl F. Klinck (S. 185: jetzt Nachdrucke mit überarbeiteten Teilbänden), und etlichen kleineren bibliographischen Ungenauigkeiten bei Sachtiteln und Jahreszahlen fielen nur wenige Fehler auf, die im ansonsten gut gearbeiteten Band stören. Für eine Neuauflage deshalb kurz folgende Hinweise:
S. 131: Dreams and deconstructions ... / ed. by Stephen Craig (richtig: Sandy Craig). - S. 162: Australian literature to 1900 ... / by Barry Andrew (richtig: Barry G. Andrews). - S. 193: West Indian literature ... / by Jeanette Allis (richtig: Jeannette B. Allis). (zurück)
[9]
Ein anglistischer Grundkurs / hrsg. von Bernhard Fabian. - 1993. - Vgl. IFB 94-3/4-483. (zurück)
[10]
Studium Anglistik / Manford Hanowell ... - München : Fink, - 1994. - 194 S. - (UTB für Wissenschaft ; 1754 : Uni-Taschenbücher). (zurück)
[11]
Reference works in British and American literature / James K. Bracken. - 1990 - 1991. - Vgl. ABUN in ZfBB 38 (1991),1, S. 65 - 66 und 39 (1992),6, S. 539 - 542. (zurück)
[12]
Literary research guide. - 2. ed. / James L. Harner. - 1993. - Vgl. IFB 94-3/4-484. (zurück)
[13]
Arbeitsmittel der Anglistik / von Dieter Kranz. - 1994. - Vgl. IFB 95-1-063. (zurück)

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