Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 2
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Kleine Geschichte der italienischen Literatur


95-2-305
Kleine Geschichte der italienischen Literatur / Johannes Hösle. - Orig.-Ausg. - München : Beck, 1995. - 259 S. ; 18 cm. - (Beck'sche Reihe ; 1080). - ISBN 3-406-37470-0 : DM 19.80
[2820]
95-2-306
Geschichte der italienischen Literatur / Giuseppe Petronio. - Vom Autor für die deutsche Ausg. gestraffter und aktualisierter Text. - Tübingen ; Basel : Francke. - 19 cm. - (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; ...). - Einheitssacht.: L'attivit… letteraria in Italia <dt.>
[1687]
Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Renaissance. - 1992. - XV, 317 S. - (... ; 1698). - ISBN 3-7720-1683-9 (Francke) - ISBN 3-8252-1698-5 (UTB) : DM 34.80
Bd. 2. Vom Barock bis zur Romantik. - 1993. - XVII, 397 S. - (... ; 1699). - ISBN 3-7720-1684-7 (Francke) - ISBN 3-8252-1699-3 (UTB) : DM 34.80
Bd. 3. Vom Verismus bis zur Gegenwart. - 1993. - XV, 411 S. - (... ; 1700). - ISBN 3-7720-1685-5 (Francke) - ISBN 3-8252-1700-0 (UTB) : DM 34.80
95-2-307
Italienische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Hans Felten ... hrsg. von Volker Kapp. - 2., verb. Aufl. - Stuttgart [u.a.] : Metzler, 1994. - X, 427 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01277-8 : DM 45.00
[1685]

Über Vor- und Nachteile von Ein-Verfasser-Darstellungen (Petronio, Hösle) bzw. solchen Literaturgeschichten, die von einem Spezialistenteam (Kapp) verfaßt sind, gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion kontroverse Meinungen: Methodische Stringenz und konsistente Interpretation sprechen für erstere, differenzierteres Spezialwissen für im Team verfaßte Darstellungen. Während man trotz aller Kritik im Detail bei Petronio ein klares kommunikationstheoretisch und sozialgeschichtlich fundiertes Konzept vorfindet, fehlt eine differenzierte Methodenreflexion in Hösles Darstellung fast gänzlich. Es wird nicht deutlich, welches die Zentralperspektive ist, die Hösles Interpretation der italienischen Literatur leiten sollte. Sein an sich begrüßenswerter Versuch, die "Wirkungsgeschichte der italienischen Literatur nördlich der Alpen" in die Darstellung einzubeziehen, muß ebenfalls kritisch betrachtet werden. Die Versuche der letzten drei Jahrzehnte, rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen über das Konstatieren von Rezeption hinaus theoretisch und methodologisch zu fundieren, haben in seiner Darstellung wenig Spuren hinterlassen. Was bringt der alleinige Hinweis, daß dieser oder jener Autor im deutschen Sprachraum übersetzerisch oder dichterisch rezipiert wurde, wenn dieser Befund nicht Bestandteil einer neuen Sicht des rezipierten Werks oder des rezipierenden literarischen Systems ist? Daß Hösles Versuch, (er selbst bezeichnet ihn als "geradezu unverfroren") auf 259 Seiten die komplexe Geschichte der italienischen Literatur darzustellen, wenig überzeugend ausgefallen ist, hängt mit einem Bündel von Faktoren zusammen: Zuerst mit einer zu geringen methodischen Stringenz, dann auch mit einer zuweilen willkürlichen Belieferung des Lesers mit biographischen Details, und ebenso mit einer zu wenig vertieften Auseinandersetzung selbst mit den Zentralwerken des Kanons (der Leser fragt sich nach der Lektüre der entsprechenden Passagen, wie der Canzoniere Petrarcas oder das Decameron Boccaccios Zugang zur Weltliteratur finden konnten - der Autor vermag dies nicht überzeugend darzustellen). Zwar verweist der Autor im Nachwort (S. 238 - 239) darauf, daß der Verlag eine gesonderte Publikation zur italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts plane und rechtfertigt damit die unbefriedigend kurze Darstellung der Literatur nach 1945; er gesteht an der gleichen Stelle auch ein, daß die Bedeutung der Dialekte und Regionalliteraturen größer sei als aus seiner Darstellung ersichtlich - diese Quasi-Entschuldigungen retten die Darstellung allerdings nicht. Kann heute, d.h. nach den Diskussionen um Berechtigung und Verfahrensweisen von Literaturgeschichte, noch ohne entsprechende Problematisierung von der Idee einer "Kontinuität" literarischer Entwicklung ausgegangen werden, und wäre nicht das Kapitel zu Künstlerbiographien und Künstlerselbstbiographie (S. 86 - 88) dann der Ort, um diese anhand der Darstellung der bio- und autobiographischen Tradition Italiens aufzuzeigen? Allerdings wird gerade hier die Kategorie der Kontinuität problematisch: Die Entwicklung der neuzeitlichen Bio- und Autobiographie vollzieht sich einmal mittels einer fortschreitenden Säkularisierung der mittelalterlichen hagiographischen Tradition und zweitens in der sukzessiven Literarisierung der libri di famiglia: Das schreibende Subjekt löst sich nach und nach aus den engen Grenzen, die die Rechtfertigung des Lebens in christlichen und merkantilen Lebenszusammenhängen bis in die Renaissance vorgegeben hatten. Gleichfalls werden die aus der antiken Biographietradition überlieferten Gestaltungs- und Strukturelemente neu bestimmt. Von all dem erfährt der Leser durch Hösle nichts. Überzeugender sind die Abschnitte oder Kapitel, in denen Hösle, ein Spezialist auf dem Gebiet des italienischen Theaters,[1] sich mit der dramatischen Literatur befaßt. Daß der Anmerkungsteil sich im wesentlichen auf deutschsprachige Publikationen beschränkt, ist eine nachvollziehbare, wenn auch nicht unproblematische Entscheidung (die im übrigen auch Kapp getroffen hat): sie ist gänzlich rezipientenorientiert. Ob allerdings der fiktive Leser, der "literarisch Interessierte" überhaupt den Apparat zur Kenntnis nehmen wird, ist zumindest fraglich. Studierenden der italienischen Literatur sollte keine Darstellung die Auseinandersetzung mit der italienischen Forschung und deren Spezifika ersparen; dieser Rezipientengruppe kann Hösles Darstellung bedauerlicherweise kaum empfohlen werden.

Somit bleiben nach wie vor Kapps Italienische Literaturgeschichte sowie die deutschsprachige Version von Petronios Abhandlung als wirkliche Alternativen. Da sich bereits mehrere Rezensionen mit beiden auseinandergesetzt haben,[2] sollen sie an dieser Stelle nicht ausführlich vorgestellt, sondern lediglich in einigen Punkten miteinander verglichen werden.

Im Unterschied zu Petronios Darstellung, die aus einer einzigen Perspektive heraus verfaßt ist, zeichnet die Kappsche sich durch methodische Heterogenität der einzelnen Kapitel aus. Der Leser wird somit nicht allein mit der komplexen Entwicklung der Literatur konfrontiert, er erhält zugleich einen Einblick in die unterschiedlich fundierten Deutungsverfahren und Zugehensweisen an Texte: von ausgewogener philologischer Literaturbetrachtung über intertextuell-postmoderne Lesarten und der Akzentuierung rhetorischer Dimensionen bis hin zu sozio-semiotischen Zugängen erschließt Kapps Literaturgeschichte dem Leser auch die praktische Vielfalt methodologischer Optionen. Der mündige Leser ist gefragt, auch wenn der Herausgeber unterstreicht, daß man weitgehend auf ausgeprägte fachwissenschaftliche Begrifflichkeit verzichtet habe. Verpflichtend für alle Autoren des Werks war eine kurze Darstellung des historischen Hintergrunds. Angesichts der rudimentären Kenntnisse, die deutsche Italieninteressierte und Studierende von italienischer Geschichte und Kultur vielfach haben, ist diese Option wichtig. Die Umsetzung dieses Postulats gelingt allerdings nicht in allen Kapiteln gleich befriedigend - mit Blick auf Petronio sei gesagt, daß seine Darstellung in den meisten Fällen eine überzeugendere Verknüpfung der gesellschaftlich-historischen und der kulturell-literarischen Entwicklung erbringt. Letzteres gilt beispielsweise nicht für das Kapitel Settecento in der Kappschen Literaturgeschichte (H. Felten): Aufgrund des vom Autor favorisierten "postmodernen" bzw. intertextuellen Betrachtungsansatzes, der die Historizität von Literatur auf die Ebene der Kommunikation zwischen Texten beschränkt, wirken die einleitenden Ausführungen zur politischen und gesellschaftlichen Situation Italiens im 18. Jahrhundert wie ein Fremdkörper. Anlaß zu kritischer Diskussion, durchaus im produktiven Sinne, bieten Feltens Ausführungen und insbesondere seine Schwerpunktsetzungen in den Abschnitten zum Theater des Settecento. Da Ponte, Mozarts Librettist, wird als Verfasser "postmoderner" Libretti - die doch nicht losgelöst von der Mozartschen Kompositionskunst ihre Bedeutung erhalten haben - hoch gewürdigt, ebenso wie Gozzi, während Goldoni mit dem konventionellen (und in weiten Teilen der heutigen Goldoniforschung wesentlich modifizierten) Etikett der "Wirklichkeitstreue" gleichsam den "schwarzen Peter" in der Darstellung zugeschoben bekommt. Die metaliterarischen Qualitäten Gozzis erscheinen aus der Sicht postmoderner Literaturtheorie bedeutsamer als die Goldonische Theaterreform und ihre literarische Umsetzung - dies aber ist nur ein Aspekt!

Einen gelungenen Versuch, literaturgeschichtliche Darstellung konsequent aus einer Zentralperspektive heraus zu schreiben, die literarisches Handeln in struktureller Entsprechung zu historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen versteht, stellt das Kapitel Novecento dar, das Heinz Thoma und Hermann H. Wetzel verfaßt haben. So wird die literarische Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts - basierend auf Gramscis Entwurf einer Geschichte der Intellektuellen - als Versuch der literarischen Intelligenz interpretiert, die gesellschaftlichen Spannungen des postrisorgimentalen und doch nicht geeinten Italien künstlerisch zu verarbeiten. Gerade im Vergleich mit den entsprechenden Abschnitten in Petronios Literaturgeschichte erweist sich die Qualität dieses Kapitels (vgl. etwa die Abschnitte zu Gramsci oder zu Calvino). Petronio vermag aufgrund seines Festhaltens am Postulat der Ideenliteratur, dem Beharren auf der letztlich moralischen Aufgabe von Literatur zu ungunsten einer ästhetischen Dimension sowie der Überbetonung des Inhaltselements wenig Überzeugendes zur zeitgenössischen Literatur zu sagen: Welchen Erkenntnisgewinn hat sein Vorwurf gegenüber Pavese, dieser habe das Gefühl existenzieller Einsamkeit nicht überwinden können? Autorpsychologie anstelle von Texterläuterung. Ein Moravia-Zitat, das Pavese als "decadente di provincia" etikettiert (S. 960 - in der Übersetzung abgeschwächt!), wird vorgeschoben, was den Zitierten allerdings nicht davor schützt, selbst als Dekadenter abgekanzelt zu werden. Die Überlegungen von Thoma/Wetzel zum Scheitern des Neorealismus in Italien ziehen zwar auch das dekadente Erbe ein, verkürzen das Dekadenzphänomen jedoch nicht - wie Petronio es tut - auf autorenpsychologische Dimensionen, sondern rekurrieren vielmehr weiter auf Ursachen, die mit dem politischen und mentalitätengeschichtlichen Wandel in Zusammenhang gebracht werden. Ebenso wenig instruktiv sind Petronios Ausführungen zum Phänomen der "postmodernen" Literatur. Die deutsche Darstellung sieht die europäisch-internationale Dimension dieser jüngsten Literaturentwicklung deutlicher und widmet ihr mehr Raum. Dies liegt sicherlich auch daran, daß etwa die Gruppe der sog. giovani scrittori von der bundesrepublikanischen Forschung (und dem deutschen Buchmarkt!) in ihrer Bedeutung recht hoch eingeschätzt worden sind. Auch wenn man postmodernes Erzählen durchaus als eine neue Spielart manieristischer Literatur verstehen kann, so sollte die Qualifikation "manieristisch" nicht als Kategorie der Wertung - wie bei Petronio -, sondern der Beschreibung eingesetzt werden. Während Petronios Darstellung von Calvinos Biographie informativer ist als die entsprechenden Ausführungen von Thoma/Wetzel, gelingt letzteren wiederum die überzeugendere Analyse des Werks, indem dieses auch in die europäische Erzählliteratur eingeordnet und in vielen Facetten besprochen wird.

Die Gegenüberstellung der beiden Darstellungen fällt vor allem für die Literatur des 20. Jahrhunderts deutlich zu ungunsten Petronios aus; die Bedeutung seiner Darstellung liegt in der breiten Dokumentation, dem erzählenden Verfahren (auch wenn deutsche Leser an mancher Stelle mehr Nüchternheit erwarten), vor allem aber in der konsequenten Handhabung seines methodischen Inventariums, wenngleich eben darauf einige grundsätzliche Mängel zurückzuführen sind. Nicht nur aufgrund des deutlichen Preisgefälles und der ansprechenden Gestaltung wird mancher studentische Leser sich für Kapps Literaturgeschichte entscheiden: der Informationsgehalt ist durchweg höher, der historiographische Ansatz in seiner Pluralität ist zeitgemäßer. Ein Platz in Lesesälen der Bibliotheken[3] gebührt beiden Darstellungen allemal.


[1]
Der Autor ist durch zahlreiche Monographien bestens ausgewiesen. Vgl. u.a.: Carlo Goldoni : sein Leben, sein Werk, seine Zeit. - München : Piper, 1993. - Das italienische Theater von der Renaissance bis zur Gegenreform. - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984. - Italienische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Grundzügen. - 2., überarb. und erw. Aufl. - Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990 (1. Aufl. 1979); weiterhin hat er Monographien zu Leben und Werk MoliŠres, zu Pietro Aretino sowie zu Cesare Pavese verfaßt. (zurück)
[2]
Vgl. die Rezensionen zu Petronio in: Italienisch. - 31 (1994), S. 84 - 87 (Manfred Hinz). - Zibaldone. - 16 (1993), S. 153 - 157 und 18 (1994), S. 147 - 152 (Elisabeth Arend-Schwarz). - Italienische Studien. - 14 (1993), S. 186 - 191 (Ulrich Schulz-Buschhaus) sowie zu Kapp in: Italienisch. - 30 (1993), S. 126 - 128 (Helmuth Wilhelm Heinz). (zurück)
[3]
Die meisten der in den Anmerkungen genannten Darstellungen zur italienischen Literaturgeschichte sowie zu Theorie und Geschichte der italienischen und deutschen Literaturgeschichtstradition sollten zum (Lesesaal-) Bestand wissenschaftlicher Bibliotheken gehören. (zurück)

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