Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 2
[ Bestand in K10plus ]

Charlie Parker


95-2-225
Charlie Parker : kritische Beiträge zur Bibliographie sowie zu Leben und Werk / Thomas Hirschmann. - Tutzing : Schneider, 1994. - X, 256 S. ; 25 cm. - (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft ; 31). - Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1991. - ISBN 3-7952-0768-1 : DM 130.00
[2504]
95-2-226
The Charlie Parker discography / by Robert Bregman, Leonard Bukowski, and Norman Saks. - Redwood, NY : Cadence Jazz Books, 1993. - 88 S. ; 23 cm. - ISBN 1-881993-25-6 : $ 14.00. - (Cadence Jazz Books, Cadence Building, Redwood, NY 13679)
[2506]

Noch heute, nach einem halben Jahrhundert, ist die wichtigste Stilform des Jazz, der Bebop, selbst für viele Jazzliebhaber ein Buch mit sieben Siegeln. So äußert sich der Herausgeber der Münchner Jazz-Zeitung und in Deutschland bisher einzige Betreiber eines ausschließlich dem Jazz gewidmeten Rundfunksenders, Hans Ruland, im Editorial der Ausgabe Februar 1995 der Jazz-Zeitung: "... als der aus der Blues- und Gospeltradition entstandene Hardbop den nervösen, bis heute nur schwer vermittelbaren Bebop ... ablöste." In der Tat setzen Bebop und andere, später folgende Erscheinungsformen des Jazz wie Hardbop und Free Jazz eine intensivere Beschäftigung voraus als lediglich den Konsum. Heute gilt der Bebop als die wichtigste und essentiellste Entwicklung im Jazz, ohne die die heutige Jazzszene nicht denkbar wäre. So spontan und "verrückt" nach bürgerlichen Maßstäben gemessen wie das wirkliche Leben des Charlie Parker, der den Bebop mit einigen Weggenossen maßgeblich definiert hat, ist auch die Musik. Die Reliquien aus der Pionierzeit finden sich in Musikkonserven mit schlechter Qualität, in einem 2-minütigen Filmchen oder auf Auktionen wieder, wie letzthin die der Chan Parker Collection bei Christie's, auf der z.T. stolze Preise erzielt wurden.[1] Viel wichtiger ist jedoch das, was in den Köpfen der Musiker "hängengeblieben" ist, was sie heute als "Vermächtnis" spielen und wiederverwerten und was als Lebensgefühl auch bei den Zuhörern erhalten geblieben ist.

Wer war dieser Charlie Parker, wie war sein musikalischer Werdegang und wie ist die umfangreiche Literatur über den bedeutendsten Musiker des modernen Jazz zu bewerten? Thomas Hirschmann hat sich dieser Aufgaben im Rahmen einer Dissertation gewidmet, die nun als Buchhandelsausgabe erschienen ist. Im Kapitel Das Quellenmaterial zu Leben und Werk untersucht Hirschmann das musikalische Werk: Ton- und Tonfilmmaterial der Musik Parkers sowie Handschriften, Briefe, Photographien, amtliche Urkunden und andere Dokumente, erhaltene Gespräche und Interviews; ein Exkurs zur Problematik des Quellenbestandes in zwei Publikationen[2] führt sehr lebendig vor Augen, wie fahrlässig mit Quellenmaterial umgegangen wurde. Vieles erscheint jetzt in einem neuen Licht. Die Parker-Rezeption in der Fach- und Tagespresse zur Zeit von Parkers Wirken schließt das Kapitel ab. Parker in der Sekundärliteratur untersucht Veröffentlichungen aus dem jazz-journalistischen Bereich, aus dem wissenschaftlichen Bereich, Diskographien und Bibliographien sowie Transkriptionen von Parkers Musik. Im Kapitel Zur Biographie Parkers werden Quellenzitate aus den einzelnen Lebensabschnitten aufgeführt. Das Resümee faßt die wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammen. Ein Anhang enthält eine Chronologie der von Parker erhalten gebliebenen Ersteinspielungen und späteren Versionen seiner Bebopstücke.

Hirschmann hat mit seinem Buch eine hervorragend konzipierte und gut lesbare, kritische Biographie vorgelegt, die zahlreiche Originalzitate mit genauer Quellenangabe enthält, die den Zusammenhang zu den Textpassagen herstellen und ihn vertiefen. Selten ist ein so stark bibliographisch orientiertes Werk so lesbar geschrieben worden wie im vorliegenden Fall. Wie in einem Kriminalroman werden sehr spannend die Zusammenhänge detektivisch aufgedeckt, Fälscher Fälscher genannt, Manipulationen Manipulationen, Abschreiber Abschreiber. Zugleich erfährt man so viel Neues und Interessantes aus dem Leben Parkers wie sonst nur in ausschweifenden, und dann vielleicht doch nicht so exakten Biographien. In der Jazzliteratur tummeln sich nach wie vor Liebhaber, Journalisten, Angeber und Mystifizierer. Wie wohltuend ist dann ein solches Buch, dem man trotz (oder wegen) seiner wissenschaftlichen Gründlichkeit viele Leser wünschen muß. Wer so exakt forschen und dann auch noch flüssig schreiben kann, sollte sich weiterhin auf diesem Gebiet betätigen. Man wünscht sich jetzt ein solches Buch über Louis Armstrong, Miles Davis, John Coltrane und Frank Zappa.

Hirschmann berücksichtigt bibliographische Quellen bis zum Jahr 1989, weshalb die neue Charlie Parker discography von Bregman/Bukowski/Saks von 1993 noch nicht verzeichnet ist, sondern lediglich ihr 1989 als Privatdruck erschienener Vorgänger.[3] Dank der Diskographie von Koster/Bakker konnte "die vorliegende Untersuchung ... von relativ gesicherten diskographischen Grundlagen aus durchgeführt werden" (S. 81). Dieses Urteil entschädigt etwas über die sonst teilweise erschütternden Erkenntnisse von Hirschmann über die Qualität der Jazzliteratur.

Die neue Ausgabe der Charlie Parker discography von 1993 enthält die derzeit vollständigste Liste aller Parker-Einspielungen. Mit wenigen Ausnahmen wurden alle Sessions und Privatmitschnitte verifiziert und in 219 Eintragungen dokumentiert, jeweils mit Besetzung (Musiker und Instrumente), Aufnahmeort und -datum, aufgenommene Titel und Labelnummer bei Veröffentlichungen (letzteres leider sehr unvollständig). Auch diese Diskographie bedient sich also der mittlerweile beliebten Verfahrensweise, von Einspielungen auszugehen und nicht von Tonträgern (vgl. IFB 94-2-299 - 300).[4] Die Zuordnung von Schallplatten und CDs ist damit fast unmöglich, aber das musikalische Schaffen Parkers ist in diesem Bändchen auf 77 Seiten gut dokumentiert. Es folgen Register der Musiker und der Titel. Die Aufmachung des dünnen Heftchens erweckt allerdings das Gefühl, daß die große, definitive und der Bedeutung Parkers angemessene Diskographie noch erscheinen muß.

Charlie Parker wäre in diesem Jahr 75 geworden; der Jazz ist nur wenig älter. Allen, die sich heutzutage ernsthaft und wissenschaftlich mit dem Jazz befassen, fällt es schwer, zuverlässige Quellen aufzutun. Jazzgeschichte ist immer noch weitgehend oral history, wobei mit jeder Tradierung etwas eigenes hinzugetan wird. Die Hauptursache dafür, daß die Wissenschaft sich schwertut, liegt daran, daß sie lange Zeit den Jazz nicht ernst genommen hat und auch heute noch nicht in dem Maß ernst nimmt, wie es erforderlich wäre. Wer ein Gebiet wie den Jazz und auch die populäre Musik dem Journalismus, der Industrie und den Fans überläßt, braucht sich nicht zu wundern, daß nach 50 Jahren kaum etwas Zuverlässiges, nur Geschöntes herausgekommen ist.

Bernhard Hefele


[1]
So für Parker's Grafton Altosaxophon 144.500 Dollar. - Vgl. Jazz now, Dec. 1994/Jan. 1995, S. 9. (zurück)
[2]
Hear me talkin' to ya (1955) und Bird : the legend of Charlie Parker / Robert G. Reisner (1962). (zurück)
[3]
Es handelt sich um folgende Diskographien in chronologischer Folge: Jepsen (1968); Williams (1968 - 1970); Owens (1975); Koster/Bakker (1974 - 1976); Yamato (1983); Saks/Bukowski/Bregman (1989). Von diesen z.T. unselbständig erschienenen Diskographien ist die folgende die wichtigste, die von den beiden folgenden nur fortgeschrieben wurden: Charlie Parker / Piet Koster & Dick M. Bakker. - Alphen / R. : Micrography, 1974 - 1976. - 1 - 4. - [Zus. 162 Bl.] (zurück)
[4]
Wer eine annotierte, konventionelle Auswahldiskographie der wichtigeren Schallplattenveröffentlichungen von Parker sucht - und sei es aus nostalgischen Gründen - sei auf folgenden Titel verwiesen: Charlie Parker : sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten / Peter Niklas Wilson ; Ulfert Goeman. - Schaftlach : Oreos-Verlag, 1988. - 188 S. - (Collection Jazz ; [ ]). - ISBN 3-923667-12-9. Den größten Raum (S. 75 - 178) nimmt die Diskographie von Goeman ein; sie spiegelt den Stand vor dem Siegeszug der CDs wider, von denen nur die relativ wenigen damals im Handel erhältlichen auf S. 172 - 178 kurz verzeichnet sind. Darunter sind zwar auch die beiden CDs mit den Aufnahmen, die Parker für Dial gemacht hat, doch liegen diese inzwischen in einer vollständigen Ausgabe mit allen takes auf 4 CDs vor (Spotlite SPL-CD 4-101) und ebenso eine Kassette mit 10 CDs sämtlicher Aufnahmen für Verve (837 141-2). [sh] (zurück)

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