Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
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Schweizer Lexikon


95-1-140
Schweizer Lexikon : in sechs Bänden. - Luzern : Verlag Schweizer Lexikon, [1991] - 1993. - Bd. 1 - 6. - 26 cm. - Bd. 1 - 2 u.d.T.: Schweizer Lexikon 91. - ISBN (falsch) 3-9520144 : Fr. 1595.00. - (Verlag Schweizer Lexikon Mengis + Ziehr, Winkelbühl 3, CH-6043 Adligenswil)
[1801]

Wichtiges in Kürze. Im Herbst 1993 präsentierte der 1987 eigens gegründete Verlag Schweizer Lexikon sein vollendetes Werk. In nur sieben Jahren realisierten zwei Pioniere und ein entschlossenes Team einen gewagten Plan: ein Schweizer Lexikon in sechs Bänden.[1] Statistisch erfaßt heißt das: 85.000 Stichwörter auf beinahe 5.100 Seiten und bereichert durch 6.000 Abbildungen, einem Fünftel des verfügbaren Platzes. Etwa 75˙% des Inhalts entfällt auf die Schweiz und ihre 26 Kantone. Der Rest ist Allgemeinwissen, der zum Teil vom Bibliographischen Institut, Mannheim, übernommen werden durfte.[2] Die Aktualisierung besorgte aber die Redaktion. Die meisten Artikel, insbesondere die auf die Schweiz bezüglichen, sind mit den Namenskürzeln der ca. 2.300 Mitarbeiter[3] gezeichnet und schließen mit Literaturangaben, die auch Aufsätze berücksichtigen.

Zur Entstehung. Ende 1986 entschloß sich der Walliser Drucker und Verleger Ferdinand Mengis (*˙1924) zu einem solchen Nachschlagewerk und realisierte es auf privater Basis, als sein persönlicher Beitrag zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft. Ihm zur Seite stand der aus Berlin gebürtige Chefredakteur Dr. Wilhelm Ziehr (*˙1938) und seine Frau, die Kunsthistorikerin Dr. Antje Ziehr. Er holte seine lexikographischen Kenntnisse im Hause F. A.˙Brockhaus. Länderkunde und Sachbücher waren sein Aufgabenkreis, darüber hinaus ist er als Lyriker hervorgetreten.

Eine eigene Art universell zu sein. In diesem Werk verliert die Schweiz das Bild der "Alphorn spielenden Sennen" und der "Schokolade", gewinnt aber um so mehr an Kulturgeschichte und Weltoffenheit. Was damit gemeint ist erkennt man z. B. am Artikel über den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Obwohl er aus Berlin stammt und österreichischer Staatsbürger war, wird ihm ein längerer Artikel zuteil als im Brockhaus und das alleine deshalb, weil er in Zürich tätig war. Auch Wahlschweizer wie Hermann Hesse sind ausführlich erwähnt, umgekehrt beansprucht ein Johann Jacob Burckhardt im Schweizer Lexikon keinen zusätzlichen Raum, ist er doch in deutschen Lexika hinlänglich erwähnt.

Über Zaire erfährt man im allgemeinen Teil nicht mehr als in vergleichbaren Werken, doch erwähnt das Schweizer Lexikon die Schweizerkolonie von 370 Personen, von denen über 100 das Doppelbürgerrecht besitzen. Zu Goethe und Schiller wird vieles gedrängt wiedergegeben, aber ihre vielfältigen Beziehungen zur Schweiz werden um so ausführlicher dargelegt.

Die Schweiz wird eingebettet in das heutige Europa und die ganze Welt. Sie erscheint immer wieder verwurzelt im internationalen Geschehen und erweist sich als aktiv im geistigen Austausch mit vielen Ländern. Es ist eine Eigenart dieses Lexikons, sowohl in Biographien als auch in Sachartikeln, immer wieder Bezüge zur Schweiz zu zeigen. Man lese die Artikel BibliothŠque Britannique, Edinburgh oder Johann Jakob Bodmer und Shakespeare. Gelegentlich erinnert sich das Schweizer Lexikon auch unliebsamer Zeitgenossen vergangener Zeiten, die im Laufe der wechselvollen Geschichte aus allen deutschen Lexika eliminiert worden sind. Das Schweizer Lexikon bringt solche Lücken zum Vorschein, und als Beispiel sei der aus Gießen stammende Zoologe Carl Christoph Vogt genannt. Es fehlt aber auch nicht der kritische Blick nach Innen. Viele Stichwörter betreffen das Zeitgeschehen (Gewalt gegen Frauen, Sexismus, Graue Panther, Hausbesetzung), erklären schweizerische Eigenarten (Ammann, Schultheiß, Waisenvogt) oder beschreiben schweizerisches Brauchtum (Sechseläuten, Zibelemärit). Alle diese Aufgaben hat die Redaktion meisterhaft bewältigt und der distanzierte Blickwinkel des Berliner Chefredakteurs war dem Werk bestimmt förderlich.

In vielen Wissensgebieten (z.B. Musik) arbeiteten Fachleute aus mehreren Sprachregionen. So konnte gelegentlich einer dominanten deutschschweizerischen Vormachtstellung eine französische und italienische Meinung hinzugefügt werden, und gerade daraus entstanden neue Aspekte im Bereich des kulturellen Nebeneinanders. Die Erschließung der rätoromanischen Sprache und der bündnerischen Kultur wurde besonders gepflegt und durch enge Zusammenarbeit mit der Lia Rumantscha auch verwirklicht. Außergewöhnlich war es auch, daß der Kanton Graubünden eine Fachkraft zur Verfügung stellte, um die Stichwörter des Kantons zu bearbeiten.

Das Werk richtet sich in gleicher Weise an Benutzer in der Schweiz, vielleicht sogar noch mehr an interessierte Leser im Ausland. Es wäre falsch, zu behaupten, das Schweizer Lexikon sei eine Quelle, aber ich meine, es ist ein absolut tauglicher Ersatz für fehlende Quellen in Bibliotheken und Redaktionsstuben in der weiten Welt. Ernsthafte Schreiber werden kaum über das gesammelte Wissen hinwegschauen können.

Das Äußere, Präsentation und Aufmachung. Die äußere Gestaltung der sechs Bände zeigt eine hohe Perfektion. Nicht nur der Inhalt gehorcht einem eigenen Konzept und strengen Regeln, auch die Präsentation und mit ihr die künstlerische Gestaltung des Werkes sind von ganz feiner Art. Die graphische Ausarbeitung, vierfarbige Bandfrontispize und 26 Buchstabenblätter, wurde dem bekannten Basler Gestalter Celestino Piatti übertragen, der durch die Gestaltung der dtv-Taschenbücher weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist. Als bibliophile Kostbarkeit darf die in weißes Rindsleder gebundene Luxusausgabe angesprochen werden, deren Einbände (vierfarbige Zeichnungen im Siebdruck) derselbe Künstler geschaffen hat.[4]

Eigene Wege ging das Schweizer Lexikon auch in der Wahl der Illustrationen. Auf Agenturbilder und ausgelaugte Klischees wurde weitgehend verzichtet. Neue, meist farbige Aufnahmen aus neuen Blickwinkeln beleben und unterstützen den Textteil. Die eher kleine Zahl von 6.000 Abbildungen wurde durch das Einflechten mehrerer Bilderzyklen (Standesscheiben, Monatsembleme, Stiche usw.) in anspruchsvoller Manier bereichert. Statistiken, Graphiken und Tabellen ergänzen, gliedern aber auch längere Texte, und erhöhen den Informationsgehalt (Immissionswerte, Binnenwanderung, Mineralien). Sie ersparen zweifellos weitere Recherchen. Auch ein belesener Betrachter ist von den vielfältigen Zusammenstellungen beeindruckt, denn vieles ist hier zum ersten Mal zusammengestellt worden.

Die einzelnen Artikel und ihre Präsentation. Ein sehr markanter und durchaus positiver Aspekt im Vergleich zu anderen Lexika ist die überaus flüssige Lesbarkeit der einzelnen Artikel, stets in Kenntnis, daß die Leserschaft niemals Fachexperten, sondern ein Kreis von Allgemeininteressierten sein wird. "Leichtfüssig und beschwingt" sind sie schon genannt worden. Einmal wurde auf unübliche Abkürzungen und einen "alles umfassenden" Satzbau verzichtet. Auch die Schrift ist gegenüber dem Brockhaus vergrößert worden, und das bei gleicher Seitendichte. Es macht Freude in den Bänden zu blättern und zu lesen; wären sie leichter, gäben sie zusätzlich einen ausgezeichneten Fremdenführer für Ferien in der Schweiz ab.

Die Verwirklichung. 2.500 nebenamtliche Mitarbeiter aus 300 Fachgebieten lieferten die Artikel, die in der Redaktion zu einem engvernetzten Ganzen überarbeitet wurden. Viele Vorarbeiten, die Lexikographen längst für gelöst hielten, galten für diese nationale Enzyklopädie plötzlich nicht mehr. Die Buchstaben A - C z. B. benötigten mehr Raum als gewohnt (ein Drittel der Tessiner Gemeinden beginnen mit A, B oder C). Vollständigkeit war für bestimmte Begriffe Voraussetzung und beengte den Spielraum: Es fehlen keine Bundesräte, doch schon andere Politiker mußten an bleibenden Taten gemessen werden. Auch die selbständigen politischen Gemeinden wurden allesamt berücksichtigt und natürlich sind die kleinen und kleinsten Gemeinden unverhältnismäßig ausführlich beschrieben. Alle 26 Kantone wurden großzügig dargestellt und einheitlich gegliedert: Geographie, Bevölkerung, Staat, Wirtschaft, Verkehr, Kultur, Volkskunde und schließlich Geschichte. Ein Novum für jeden Ortsartikel ist ein Abschnitt "Technische Versorgung". So erfährt man die Einführung des Telegraphen und des Telephons, den Zeitpunkt der Elektrifizierung oder Geschichtliches zur Gas- und Wasserversorgung. Sicher war es ein Glücksfall, dazu ein großes privates Archiv entdeckt zu haben, doch nützte Ziehr die Gelegenheit das versteckte Wissen auf breitester Front zugänglich zu machen.

Weshalb sich dieses Lexikon nochmals von anderen unterscheidet zeigt auch ein Längenvergleich von Ortsartikeln. Hat eine Stadt wie Luzern in anderen deutschen Lexika 15 - 55˙Zeilen, so werden ihr hier 541˙Zeilen zugesprochen. Dem restlichen Kanton Luzern widmen deutsche Lexika 35 - 100˙Zeilen, das Schweizer Lexikon dagegen rund 930˙Zeilen. Manch kleinem Ort, der gewöhnlich in vier Zeilen erwähnt wird, widerfährt hier eine ordentliche Abhandlung über 40 - 50 Zeilen. Damit wird klar, daß die innere Struktur dieses Werkes nicht den Regeln eines Universal-Lexikons folgen kann. Das eigene Konzept hat die Redaktion meisterhaft vollendet.

Kritik. Auch die Herausgeber kennen die Fehler und bestimmt ist es anderen Erstauflagen ähnlich ergangen. Vielleicht gibt eine zweite Auflage Gelegenheit das eine oder andere zu verbessern. Vermißt werden vielleicht die generell fehlenden Ortswappen. Der weiße Seitenrand hätte wohl dazu eingeladen, doch der Zeitplan sprach vermutlich dagegen. Die Heraldik kommt aber dennoch in zahlreichen historischen Abbildungen zum Zuge. Ob der 25%-Anteil an Allgemeinwissen die Auflagenhöhe zum Guten beeinflußte, wage ich ebenso zu bezweifeln. Nur geringfügig kann damit ein anderes Lexikon eingespart werden. Daß Lücken in der Stichwortwahl entstanden sind, bedingt keine weitere Erklärung. Perfektion verhinderte schon manches Unternehmen. Die Zeitspanne, die zur Verfügung stand, die möglichen Mittel und der Einsatz eines entschlossenen Teams haben mehr geleistet als erwartet werden konnte.

Mario von Moos


[1]
Weiterführende Besprechungen sind: Das Schweizer Lexikon 91 - ein Geschenk an unser Land / Alfons Müller-Marzohl. // In: Sprachspiegel / hrsg. vom Deutschschweizerischen Sprachverein (DSSV). - 49 (1994), 2, S. 33 - 37. - Jedem sein Lexikon - aber welches? / E. Fritzsch ... // In: Bücher-Markt. - 2 (1993),10, S. 4 - 18; darin S. 11 - 12 zum Schweizer Lexikon [von Otmar Seemann]. - Das Gespräch : Interview mit dem Chefredakteur des "Schweizer Lexikons", Dr. Wilhelm Ziehr. // In: Literatur um 11. - H. 13 (1994), S. 7 - 17. (zurück)
[2]
Wegen des eindeutigen Überwiegens der Information über die Schweiz auf Kosten der allgemeinen Lexikoninformation ist dieses Werk dem Typ Nationallexikon zuzurechnen. Es unterscheidet sich dadurch grundlegend von dem gleichnamigen Schweizer Lexikon : in 7 Bd. - Zürich : Encyclios-Verlag. - 1 (1945) - 7 (1948), bei dem es sich um ein mittelgroßes Allgemeinlexikon handelte, das damals in Deutschland großes Ansehen genoß, da direkt nach 1945 vergleichbare Lexika deutschen Ursprungs noch nicht auf dem Markt waren. Der Unterschied zwischen dem neuen Nationallexikon und dem alten Allgemeinlexikon wird bei einem Vergleich der Umfangsangaben für den Artikel Basel evident: dort 21 Spalten, zzgl. 4 S. mit Stadtplan und Legende für Basel und die beiden Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt, hier 4,5 Spalten für alles. [sh] (zurück)
[3]
Sie werden im Anhang zu Bd. 6 mit Namen und Qualifikation vorgestellt; leider ist diese Verzeichnis nach den vollen Namensformen geordnet und nicht nach den Kürzeln, mit denen die Beiträge gezeichnet sind, so daß es z.T. ausgesprochen mühsam, in einzelnen Fällen auch unmöglich ist, die Namenskürzel aufzulösen. [sh] (zurück)
[4]
SFr. 3665.00. - Vorgesehene Auflage: 1.800 Exemplare. - "Das zart getönte, fast weisse Leder, bedruckt in vier dezenten Farben, unterstreicht den Unterschied zu gängigen Lexika, betont aber gleichwohl den klassischen Charakter grosser Enzyklopädien" (so die Werbung). - Die deutschen Vorbilder grüßen von fern mit Hundertwasser (Brockhaus-Enzyklopädie), Lüpertz (Meyers neues Lexikon) oder Baselitz (Große Bertelsmann-Lexikothek). [sh] (zurück)

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