Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
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Clandestine erotic fiction in English


95-1-018
Clandestine erotic fiction in English : 1800 - 1930 ; a bibliographical study / Peter Mendes. - Aldershot : Scolar Press, 1993. - XVIII, 479 S. ; 24 cm. - ISBN 0-85967-919-5 : œ 75.00
[1711]

Der angelsächsische Markt für Unterhaltungsliteratur ist seit den sechziger Jahren überschwemmt von Titeln, die das "Gütezeichen" viktorianisch in Anspruch nehmen. Vielleicht ist es Nostalgie in Erinnerung an die lange Regierungszeit der Monarchin vor den Weltkriegen - jedenfalls scheint sich das Epitheton verkaufsfördernd auszuwirken. Spätestens seit dem autobiographischen Mammut-Roman My secret life[1] ist generell bekannt, daß die prosperierende Gesellschaft unter Königin Viktoria eine Meisterschaft der Doppelmoral entwickelt hatte, und zu wilhelminischen Zeiten war es keineswegs anders. Kurz viktorianisch und anonymous muß etwas sein, um bei den "historischen" Titeln verkäuflich zu sein; notfalls tut es auch Edwardian. Den Beweis dafür, daß es sich um echte "Memoiren", "Beichten", "Geständnisse" und "Erinnerungen" handelt, bleibt der Verlag gewöhnlich schuldig. Und sobald sich ein Titel gut verkauft, folgt sehr bald "der gerade aufgefundene Fortsetzungsband".

Ein wenig Licht in dieses bibliographische Gestrüpp bringt die vorliegende Bibliographie von Peter Mendes. Der Titel täuscht etwas: Während der Autor durchaus in der Einführung und in Ergänzungslisten die Zeit ab 1800 behandelt, beginnt die ernsthafte Verzeichnung von Titeln erst mit dem Jahr 1885. Mit gutem Grund: Die drei Standardbibliographien von Henry Spencer Ashbee[2] (1834 - 1900) bieten bis zum Stichjahr soviel Authentisches und aus zeitgenössischer Kenntnis Untermauertes, daß es schwer fällt, dem viel hinzuzufügen. Problematisch wird es in der Zeit nach dem Erscheinen der Bibliographien von Pisanus Fraxi (so Ashbees Anagramm); denn während dieser Blütezeit der Erotica-Publikation gibt es wenig, auf das man sich mit Sicherheit stützen kann. Ashbee hat seine private Erotica-Sammlung (mit offenbar zahlreichen von James Campbell Reddie, einem begnadeten Bibliographen und Verfasser von Erotica, übernommenen Stücken) dem damaligen British Museum vermacht, das indessen mehr an der Cervantes-Sammlung des Stifters interessiert war und die Beigabe mit wenig Begeisterung entgegennahm. Wie Mendes in einem Anhang dokumentiert, wurden aus Ashbees Sammlung zahlreiche "Dubletten" usw. aussortiert und der Vernichtung preisgegeben, wobei der Verdacht sich erhärtet, daß es sich dabei nicht zuletzt um die zeitgenössische Erotica-Produktion handelte, während ältere Drucke Gnade vor den Augen der Bibliothekare fanden.[3] Dies ist der Grund dafür, warum man als Bibliograph heute die größten Schwierigkeiten hat, Ausgaben nachzuweisen und zu identifizieren, obwohl sie doch eigentlich in Ashbees Sammlung existiert haben müssen.

Mendes hat sich bei seinen Untersuchungen natürlich der Sammlung der British Library bedient und die Handexemplare von Ashbees Bibliographien zu Rate gezogen, die manche handschriftliche Ergänzung enthalten. Darüber hinaus hat er Privatsammlungen und die Bestände verschiedener anderer Bibliotheken, zum Beispiel des Kinsey Institute in Bloomington, Indiana und der University of Sydney Library, herangezogen. Da er den Umkreis seiner Untersuchung auf schöne Literatur in englischer Sprache, und zwar solche, bei denen der Urheber (Verlag) nicht deutlich angegeben ist, beschränkt, bleibt manches unberücksichtigt; so wird man z.B. solche Lehrbücher wie den Duftenden Garten des Scheich Nafzaui vergeblich suchen.

Das Material ist chronologisch nach dem Erscheinungsjahr geordnet. Verschiedene Ausgaben desselben Titels stehen unter dem ersten Erscheinungsjahr; damit folgt Mendes der richtungsweisenden Bibliographie du roman érotique au XIXe siŠcle von Louis Perceau (Paris, 1930). Klandestine Druckwerke einem Verlag oder einem Drucker zuzuordnen, ist gar nicht so einfach, da ja diese Angaben meist unterdrückt werden. Deshalb hat Mendes die Typographie sorgsam untersucht und die Druckwerke zu Gruppen zusammengefaßt, die Ähnlichkeiten aufweisen, so daß sie möglicherweise vom selben Drucker stammen. Während von einigen Druckern bekannt ist - z.B. durch "offene" Publikationen - für welche Verleger sie arbeiteten, gibt es natürlich verschiedene, die für mehrere Firmen tätig waren. Teils haben die Verlage auch die Drucker je nach Situation gewechselt, denn das Geschäft im Untergrund weist viele Risiken auf und führt daher zu vielen Imponderablilien bei der sicheren bibliographischen Beschreibung. Insofern sind die ermittelten und etablierten Gruppen auch nur von relativem Wert. Hinzu kommt die Auswertung von (klandestinen) Verlagskatalogen und Anzeigen in den Büchern selbst. Hieraus lassen sich manche Schlüsse ziehen. Desgleichen helfen manchmal zeitgenössische Bibliographien weiter, so die (im Manuskript erhaltene) Erotica-Bibliographie des Kanadiers Lawrence Forster (1913),[4] der seine Arbeit offensichtlich bei Charles Carrington, einem bekannten Pariser (zeitweise Brüsseler) Erotica-Verleger drucken lassen wollte.

Die Titelaufnahmen sind sehr sorgfältig, mit Kollation und Zeilensprung, Fundstellen in Verlagskatalogen und dem Nachweis von Exemplaren, die allerdings häufig nur in (nicht identifizierten) Privatsammlungen vorhanden sind. Die Sammlung des bekannten und inzwischen verstorbenen Erotica-Verlegers Charles Skilton (Luxor Press), ist allerdings nicht mehr existent. Sonstige sachdienliche Angaben (über Autor, Genese des Werkes oder die Ausgabe) sind in einer Kategorie Notes zusammengefaßt.

Wichtig ist die Einleitung des Werkes, die einen Überblick über die bedeutendsten Erotica-Verleger und -Drucker seit 1873 gibt, indem sie identifiziert und die sie betreffenden, vielfach außerordentlich mageren Daten zusammengestellt werden. Manchmal ist selbst der "richtige" Name nicht bekannt, wie im Falle von William Lazenby alias D. Cameron - wie hieß er nun wirklich? Dabei unterscheidet Mendes drei Schwerpunkte verlegerischer Tätigkeit: London 1873 - 1910, Amsterdam und Rotterdam 1887 - 1912 und Paris ca. 1889 - 1930. Paris war ja seit langem eine wichtige Quelle für englischsprachige Erotica und hier ist besonders Charles Carrington zu nennen, dessen Geschäft um die Jahrhundertwende blühte (so wie später die Obelisk Press und die Olympia Press, womit aber der Zeitraum der vorliegenden Bibliographie bereits überschritten ist). Dann werden die ermittelten Gruppen von Druckerzeugnissen anhand typographischer Kennzeichen zusammengestellt und durch einige Illustrationen erläutert. Auf diese Gruppen wird bei den Titelaufnahmen häufig Bezug genommen, wenn sich auch immer wieder erweist, daß nur Ähnlichkeiten zu Gruppen bestehen, bzw. ein Titel keiner Gruppe guten Gewissens zuzuordnen ist.

Die Anhänge enthalten eine Reihe von dokumentarischen Texten, z.B. Presseberichte zu den Prozessen gegen den Verleger Lazenby/Cameron in den Jahren 1876 - 1886, Charles Hirschs Memorien bezüglich der Genese von Teleny (gewöhnlich Oscar Wilde zugeschrieben) sowie Texte zu Leonard Smithers, Charles Carrington, Ashbees Erotica-Sammlung usw. Den Abschluß bilden Register der Themen (der erotischen Romane), der Titel und der Verlage, Drucker und Autoren. Außerdem gibt es Übersichten über klandestine englischsprachige Drucke 1800 - 1884 und klandestine Verlagskataloge.

Die Bibliographie ist außerordentlich beeindruckend. Die Fülle der Titel und ihre genaue Beschreibung ist Ergebnis einer mühsamen Detektivarbeit. Problematischer ist dann schon die Zuordnung und Identifikation; hier ist vieles Indizienbeweis oder Vermutung anhand verschiedener Kriterien und Hinweise. Außerordentlich viele Vermutungen werden geäußert, die dem Leser in etlichen Fällen nicht recht nachvollziehbar sind, aber zweifellos einen guten Grund in der gesammelten Erfahrung des Autors haben. So gewinnt man öfter den Eindruck, daß es ja richtig sein mag, daß es aber auch genau so gut anders gewesen sein könnte.

Wenn etwas stört, dann ist es die nicht geringe Zahl von Satzfehlern, von denen etliche konsequent durchgehalten sind wie z.B. Appollinaire (statt Apollinaire) und Theime (statt Thieme, Drucker in Nymwegen). Probleme scheint der Autor mit ei vs. ie zu haben (entsprechend der englischen Aussprache; so liest man Texiera de Mattos, Vervine (statt Vervaine) und Sadopaidiea (statt Sadopaideia).

Wenn ein Wunsch geäußert werden dürfte, so wäre es ein Hinweis auf Neuausgaben. Viele der beschriebenen Titel liegen inzwischen im Neudruck (meist als Taschenbuch) vor, teils unter ganz anderen Titeln. Und vieles dürfte dem Bearbeiter bekannt geworden sein; denn ungestraft verwendet man nicht Jahre auf dergleichen Detektivarbeit. Aber die Information hat er leider für sich behalten.

Insgesamt: Ein ungewöhnliches, akribisch bearbeitetes, viel Neuland erschließendes bibliographisches Werk, das in Fortsetzung zu Ashbees Bibliographien ein Standardwerk der englischen Erotica-Bibliographie genannt zu werden verdient.

Hartmut Walravens


[1]
Bekanntlich von G. Legman nach dem Motto se non Š vero, Š ben trovato H. S. Ashbee zugeschrieben. (zurück)
[2]
Index librorum prohibitorum (1877). - Centuria librorum absconditorum (1879). - Catena librorum tacendorum (1885). (zurück)
[3]
Zur Geschichte der unter der Bezeichnung Private Case bekannten Erotica-Sammlung der British Library vgl. jetzt ausführlich: The Private Case : a history / Paul James Cross. // In: The Library of the British Museum : retrospective essays on the Department of Printed Books / ed. by P. R. Harris. - London : British Library, 1991, S. 201 - 240; speziell zur Sammlung Ashbee S. 206 - 209. [sh] (zurück)
[4]
Catalogus librorum prohibitorum Britannica : or the library of Venus. - Brussels, 1913. - Vgl. Bayer/Leonhardt, Nr. 44. (zurück)

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