Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 3/4
[ Bestand in K10plus ]

Lexikon Sportwissenschaft


94-3/4-525
Lexikon Sportwissenschaft : Leistung, Training, Wettkampf / Hrsg.: Günter Schnabel ; Günter Thieß. - 1. Aufl. - Berlin : Sportverlag, 1993. - Bd. 1 - 2. ; 25 cm. - ISBN 3-328-00454-8 : DM 298.00
[2448]

Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde sportwissenschaftliche Terminologiearbeit in der DDR systematisch betrieben. Die Vorarbeiten zum Lexikon Sportwissenschaft reichen immerhin 25 Jahre zurück. Das Lexikon Sportwissenschaft wurde ursprünglich als Lexikon der Trainingswissenschaft geplant.[1] Erst durch die spätere Einbeziehung der Erkenntnisse und Wissensbestände einer Reihe beitragsfähiger Wissenschaften (wie z.B. der Sportmedizin, der Biomechanik, Sportmotorik, -psychologie, -soziologie und -pädagogik) wurde aus dem Lexikon Trainingswissenschaft in den Augen der Herausgeber das Lexikon Sportwissenschaft (S. 8). Dennoch liefert die Trainingswissenschaft das Grundgerüst dieses Lexikons.

Das Lexikon Sportwissenschaft enthält um die zentralen Begriffe Leistung, Training und Wettkampf etwa 3.200 Lemmata, deren Auswahl auf Basis einer Aufteilung der Sportwissenschaft in 29 Themenbereiche erfolgte. Diese Terminologie vereint - unter Ausklammerung wesentlicher Teildisziplinen der Sportwissenschaft, wie z.B. der Sportgeschichte und des Schulsports - Begriffe der Praxissprache im Trainingsprozeß und der Wissenschaftssprache. Unter diesem Blickwinkel erhebt das Lexikon den Anspruch, eine Brücke zwischen Sportwissenschaft und Sportpraxis zu schlagen.

Ausgehend von der Hypothese der weitgehenden Übereinstimmung der Fachtermini der Sportpraxis und der Trainingswissenschaft im gesamten deutschsprachigen Raum will das Lexikon Sportwissenschaft einen Beitrag zur weiteren Vereinheitlichung der Terminologie der Sport- und Trainingswissenschaft leisten (S. 7). Dementsprechend wird darauf hingewiesen, daß die Ausarbeitungen im wesentlichen den Erkenntnisstand der gesamtdeutschen Sportwissenschaft und außerdem des internationalen Sports wiedergeben. Wie im Sportwissenschaftlichen Lexikon wird auch im Lexikon Sportwissenschaft den definierten Lemmata jeweils ein englischsprachiger Terminus zugeordnet.

Kritischer Vergleich

Die große Divergenz zwischen dem Sportwissenschaftlichen Lexikon und seinem dreisprachigen Pendant auf der einen und dem Lexikon Sportwissenschaft auf der anderen Seite hinsichtlich der Anzahl der aufgenommenen Begriffe macht deutlich, daß die Begriffsauswahl - wie bereits oben angedeutet - zu einem wesentlichen Problem sportwissenschaftlicher Lexikographie zählt. Dieses Problem wird vom Sportwissenschaftlichen Lexikon insgesamt überzeugender gelöst, indem auf inhaltlich orientierte Begriffe grundsätzlich verzichtet wird. Der Auswahl der Begriffe des Lexikons Sportwissenschaft liegt zwar eine systematische Gliederung des Gegenstandsbereiches in Themenkreise (Facetten, s.o.) zugrunde, nach welchen Kriterien einzelne Begriffe jedoch in diese Facetten aufgenommen oder ausgeklammert wurden, bleibt unklar. Da das Lexikon nicht zwischen wissenschaftlichen und technisch-inhaltlichen Begriffen differenziert, ergibt sich ein Sammelsurium von Termini, die auf unterschiedlichster Ebene liegen, das beim Rezipienten implizit immer die Frage entweder nach Ausklammerung (vor dem Hintergrund des im Titel formulierten wissenschaftlichen Anspruchs) oder aber nach Einbeziehung weiterer praktischer Begriffe aufwirft (vor dem Hintergrund der bereits aufgenommenen Begriffe und der damit erfolgten Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Praxis). Sollten Begriffe wie beispielsweise Ball, Ballhalten, Beinarbeit, Beinschraube, Fallschirm, Halbzeit, Handstand, Hopserlauf, Kimme, Klimmziehen, Kniehebelauf (die weder im Sportwissenschaftlichen Lexikon noch im dreisprachigen Wörterbuch der Sportwissenschaft zu finden sind) zu Recht im Lexikon Sportwissenschaft enthalten sein, so stellt sich die Frage, warum viele andere, auf gleicher Ebene liegende Begriffe nicht aufgenommen wurden (wie z.B. Ballführen, Beinstellen, Beinkreisen, Fiberglasstab, Griffhöhe, Tiefsprung ... ). Aber auch hinsichtlich der im engeren Sinne wissenschaftlichen Begriffe weist das Lexikon Sportwissenschaft Lücken auf. So finden sich beispielsweise die sowohl im Sportwissenschaftlichen Lexikon als auch im Wörterbuch der Sportwissenschaft enthaltenen wichtigen Begriffe aerob-anaerobe Schwelle, Anthropometrie, Bewegungslehre, Leistungssport als Hauptlemmata nicht im Lexikon Sportwissenschaft.

Der Anspruch des Lexikons Sportwissenschaft, ein gesamtdeutsches Begriffsrepertoire wiederzugeben, wurde nicht eingelöst. Das Lexikon enthält zahlreiche Begriffe, die ganz offensichtlich nur die Sichtweise der Trainings- und Sportwissenschaft der ehemaligen DDR reflektieren. Ausdauerkonzept, intensitätsunabhängiges, Bestimmtheit des Trainings durch Leistungsprognose und -struktur, Voraussetzungstraining, Trainager, Popgymnastik sind hierfür nur einige Beispiele. Hierdurch macht das Lexikon eher auf Unterschiede als auf Gemeinsamkeiten aufmerksam. Auch die Definitionen bestimmter Begriffe weichen von denen im Sportwissenschaftlichen Lexikon oder im Wörterbuch der Sportwissenschaft in wesentlichen Punkten ab (s. z.B. die Begriffe Hochleistungs- bzw. Spitzensport, Trainingsmittel und Trainingsmethode). Literaturhinweise finden sich im Lexikon Sportwissenschaft nicht im Anschluß an die Definition der Hauptlemmata, sondern im Anhang zu jedem Themenkreis. Ein Überprüfen bzw. Vertiefen der einzelnen Definitionen ist daher unmöglich.

Besonders kritisch ist im Lexikon Sportwissenschaft die Übersetzung der Begriffe ins Englische zu sehen. Ohne Berücksichtigung der englischen Sprachrealität wird meist wörtlich übersetzt, was zu kuriosen Ergebnissen führt: Absprunggeschwindigkeit wird mit jump-off velocity übersetzt (korrekt: take-off velocity), Abwurf mit throw-off (korrekt: release oder delivery), Anlaufgeschwindigkeit mit in-run velocity (korrekt: approach oder run-up velocity), Angstgegner mit anxiety-opponent (korrekt: bogy opponent) usw. Die internationale Kommunikation wird auf diese Weise nicht gefördert, Mißverständnisse sind vorprogrammiert. Das Sportwissenschaftliche Lexikon ist hinsichtlich der englischen Terminologie zwar grundsätzlich besser, doch auch hier finden sich einige Fehlübersetzungen: Autogenes Training wird mit autogenious training übersetzt (korrekt: autogenic training); Haltungsschaden mit lesion of attitude (korrekt: postural defect); Herz-Kreislauf-System mit heart circulation system (korrekt: cardiovascular system). Auch diese Reihe ließe sich fortsetzen. Besonders ärgerlich ist, daß selbst diese Begriffe im Vorwort des Sportwissenschaftlichen Lexikons implizit als termini technici der englischen sportwissenschaftlichen Fachsprache charakterisiert werden.

Übersetzungsdefizite finden sich auch im Wörterbuch der Sportwissenschaft, wobei diese hier sicherlich schwerer ins Gewicht fallen, da sich dieses Wörterbuch ja die Auflösung internationaler Verständigungsschwierigkeiten ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat. So wird Sportherz wörtlich mit Sport heart übersetzt. Zusätzlich wird durch die Kennzeichnung mit zwei Sternchen darauf hingewiesen, daß die englische bzw. französische Fachterminologie keinen entsprechenden Begriff anzubieten hat. De facto jedoch ist der Begriff athlete's heart in der englischsprachigen Sportmedizin gängig und folglich auch in einschlägigen einsprachigen Wörterbüchern verzeichnet.[2] Auch andere Begriffe werden unberechtigt mit Sternchen versehen. Auf diese Weise wird der sinnvolle Ansatz, durch besondere Markierung auf ein vom Deutschen abweichendes fremdsprachliches Begriffsverständnis hinzuweisen, zumindest teilweise konterkariert. Diese Schwächen machen deutlich, daß auch bei Übersetzungen zumindest in potentiell strittigen Fällen Quellenangaben unverzichtbar sind.

Ausgesprochen verwirrend ist in den untersuchten Nachschlagewerken auch der Umgang mit der Synonymie. So besteht nur in wenigen Fällen Einigkeit hinsichtlich der einem bestimmten Begriff zuzuordnenden Synonyme. Selbst in eindeutigen Fällen differieren die Synonymverweisungen. So werden dem Begriff Erholung in dem ansonsten mit Synonymverweisungen recht großzügig umgehenden Lexikon Sportwissenschaft keine Synonyme zugeordnet, während unter dem gleichen Begriff im Sportwissenschaftlichen Lexikon immerhin auf drei Synonyme, nämlich Regeneration, Relaxation und Entspannung verwiesen wird. In anderen Fällen werden im Lexikon Sportwissenschaft offensichtliche Synonyme zugeordnet (z.B. Knochenbruch zu Fraktur), während dies beim gleichen Begriff sowohl im Sportwissenschaftlichen Lexikon als auch im Wörterbuch der Sportwissenschaft unterbleibt.

Aber die untersuchten Nachschlagewerke differieren nicht nur untereinander hinsichtlich der Synonymverweisungen, auch isoliert betrachtet ist in keinem der untersuchten Wörterbücher der Hinweis auf Synonyme stringent gelöst. Es werden zwar Begriffe zu anderen synonym gesetzt, diese Begriffe ihrerseits werden jedoch nicht immer zurückverwiesen (in diesem Punkt ist das Lexikon Sportwissenschaft grundsätzlich konsequenter und damit logischer als das Sportwissenschaftliche Lexikon und das Wörterbuch der Sportwissenschaft). Auch werden im Falle mehrerer Synonyme eines Begriffes diese Synonyme nicht untereinander verwiesen. In einigen Fällen wird sogar der Hinweis auf Synonymie unter dem angeblichen Synonym wieder zurückgenommen.[3] Grotesk ist auch das künstliche Erzeugen von Synonymen im Wörterbuch der Sportwissenschaft. Hiermit ist das reine Übersetzen der einem deutschen Schlüsselbegriff zugeordneten deutschen Synonyme ins Englische gemeint (z.B. sind die dem englischen Begriff Lead-up games zugeordneten Synonyme Rough and tumble games, school games und Variety games ledigliche Übersetzungen der dem deutschen Begriff Kleine Spiele zugeordneten Synonyme Tummelspiele, Schulspiele und Bunte Spiele). Dies ist besonders störend, wenn einem deutschen Begriff, der mit einem als unenglisch gekennzeichneten Begriff übersetzt wird, ein angebliches Synonym zugeordnet wird, das ebenfalls als in der fremden Sprachrealität nicht existent charakterisiert wird. So wird im Wörterbuch der Sportwissenschaft Herzleistungsquotient mit Quotient of cardiac work capacity (zwei Sternchen) übersetzt; als englisches Synonym wird Cardiac performance quotient angegeben (ebenfalls zwei Sternchen).

Sicherlich kann man die Meinung vertreten, daß eine logische und konsistente Synonymie kein entscheidendes Kriterium einer sauberen sportwissenschaftlichen Lexikographie darstellt. Die hier aufgezeigten Schwächen verweisen jedoch auf das einleitend angeführte grundsätzliche Problem sportwissenschaftlicher Terminologiearbeit, nämlich die bislang noch nicht erreichte Festigkeit und Standardisierung der Fachterminologie.

Fazit

Wie nicht anders zu erwarten, schlagen sich die wissenschaftstheoretischen Probleme der Sportwissenschaft auch in den entsprechenden Lexika nieder. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang die unklaren Grenzen der Sportwissenschaft zu ihren Mutterwissenschaften sowie zwischen Sportpraxis und Sporttheorie. Definitorische Divergenzen, vor allem jedoch das in allen drei untersuchten Nachschlagewerken mehr oder weniger offensichtliche Problem der Synonymie, machen deutlich, daß auch viele Begriffe hinsichtlich ihrer Bedeutung noch der weiteren Klärung bedürfen. Ein besonderes Problem sind in diesem Zusammenhang die teilweise noch bestehenden Unterschiede zwischen der Fachterminologie der alten und der neuen Bundesländer. Einer Angleichung, aber zumindest vergleichenden Klärung, sollte in Zukunft besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Hinsichtlich der Erleichterung der internationalen Kommunikation liefert das dreisprachige Wörterbuch der Sportwissenschaft gute Ansätze. Allerdings stellen die deutschen Begriffe unbegründet die Ausgangsbegriffe dar. Die Aufschlüsselung müßte idealerweise von allen drei Sprachen her geleistet werden. Sonst besteht die Gefahr, daß wichtige Begriffe in anderen Sprachen, die im Deutschen keine Entsprechung haben, nie Eingang in ein derartiges Wörterbuch finden. Fremdsprachige Begriffe sollten unbedingt durch Quellentexte belegt werden, und fragwürdige Begriffsübersetzungen sollte man weglassen und nur die Inhalte der Begriffe in der jeweiligen Sprache definieren.

Grundsätzlich ist festzuhalten, daß keines der drei untersuchten Wörterbücher das jeweils andere ersetzt. Am ausgereiftesten hinsichtlich Konzeption und praktischer Umsetzung ist das Sportwissenschaftliche Lexikon. Dem - mit DM 298.00 übrigens erheblich zu teuren - Lexikon Sportwissenschaft und dem dreisprachigen Wörterbuch der Sportwissenschaft sind eine ebenso große Chance zur Ausreifung zu wünschen.

Jürgen Schiffer


[1]
Vgl. "Lexikon der Trainingswissenschaft" entsteht / Günter Schnabel und Günter Thieß // In: Theorie und Praxis der Körperkultur. - 39 (1990),1, S. 43 - 48. (zurück)
[2]
So z.B. in: Encyclopedic dictionary of sports medicine / David F. Tver ; Howard F. Hunt. - New York ; London 1986, S. 16 oder im Dictionary of the sport and exercise sciences / Mark H. Anshel, ed. - Champaign, Ill. : Human Kinetics Books, 1991, S. 12 oder auch in The Oxford dictionary of sports science and medicine / Michael Kent. - Oxford [u.a.], 1994, S. 45. (zurück)
[3]
So wird im Wörterbuch der Sportwissenschaft Absolutkraft zu Grenzkraft synonym gesetzt, unter dem Hauptlemma Grenzkraft findet der irritierte Leser dann jedoch den Hinweis: "G. ist leicht mit Absolutkraft zu verwechseln." (zurück)

Zurück an den Bildanfang