Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 3/4
[ Bestand in K10plus ]
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Der Film der Weimarer Republik


94-3/4-506
Der Film der Weimarer Republik : ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik / im Auftrag der Stiftung Deutsche Kinemathek. Hrsg. von Gero Gandert. - Berlin [u.a.] : de Gruyter. - 24 cm
[2354]
1929 (1993). - XXVII, 916 S. : Ill. - ISBN 3-11-011183-7 : DM 470.00

Von ganz anderer Qualität und mit dem gerade vorgestellten Nachschlagewerk nicht zu vergleichen ist das bislang im ersten Band - für das Berichtsjahr 1929 - erschienene Quellenwerk über die zeitgenössische Kritik zu den Filmen, die während der Weimarer Republik in Deutschland produziert und aufgeführt worden sind. In 15 Jahresbänden sollen alle deutschen Filme vorgestellt werden, die von den Filmprüfstellen in Berlin oder München zugelassen wurden und mindestens eine Länge von 1000 m (d.i. über 36'33 min. Spieldauer) besaßen. Für 1929 sind dies 219 Filme (zum Vergleich die Zahl der Stummfilme laut Lamprecht: 185 und die Zahl der Tonfilme laut Klaus: 14; Dahlke stellt lediglich 15 Filme, darunter einen Tonfilm, vor), hinzu kommen 155 deutsche Filme, die nur außerhalb des Kinoprogramms für Versammlungen und Vereine vorgeführt worden sind, weitere 228 ausländische Filme im regulären Kinoprogramm und 27 ausländische Filme außerhalb des Kinoprogramms; danach folgen noch eine filmhistorische Tageschronik und Register auch für die Autoren der Kritiken und für die zitierten Zeitungen und Zeitschriften. Alle Filme werden mit vollen Stablisten (resp. so vollständigen wie möglich) gemäß den Vorspannangaben und Ergänzungen aus der Literatur vorgestellt, für die deutschen Kinofilme werden auch Datum und Umstände der Premieren genannt, die Zensurentscheidungen z.T. ausführlich zitiert und zeitgenössische Inhaltsangaben aus Filmzeitschriften beigefügt.

Alle deutschen Kinofilme werden aber noch weit genauer vorgestellt und dies macht das Herzstück und genuin Neue der Publikation aus: Aus Zeitungen und Zeitschriften des Premierejahres und des nachfolgenden Jahres werden ausgewählte Kritiken vollständig oder in Auszügen nachgedruckt und weitere durch Literaturhinweise belegt, wobei Anzahl und Umfang der Kritiken, der Ruf der Kritiker und der Zeitungen/Zeitschriften die damalige öffentliche Beachtung, den Ereignischarakter des Films reflektieren sollen. Für 1929 werden insgesamt ca. 1000 Texte aus etwa 50 Tageszeitungen, 15 Filmzeitschriften und 10 sonstigen Zeitschriften zitiert und noch eine weit größere Anzahl in Belegen genannt (leider werden alle Texte etwas ungenau zitiert, d.h. ohne Seitenangaben, lediglich mit Tagesdatum der Zeitung oder der Nummer des Zeitschriftenheftes). Jeder deutsche Kinofilm wird auf mindestens 2 Seiten vorgestellt, den laut der damaligen Kritik wichtigeren Filmen werden auch mehr, gelegentlich bis zu 12 Seiten und auch Filmfotos gewidmet. Die sehr breit angelegte Auswahl der Texte und Nachweise reduziert sich in der Mehrzahl der Zitate jedoch auf die "großen" Berliner Zeitungen und wenige weitere Blätter (insbesondere Berlin am Morgen, Berliner Börsen-Courier, Berliner Tageblatt, Frankfurter Zeitung, Der Montag Morgen, Die Rote Fahne, Tempo, Vossische Zeitung) sowie auf die damaligen Filmzeitschriften. Absolut neu ist auch die Aufmerksamkeit, die der Stummfilmmusik gewidmet wird: Zumeist aus Filmzeitschriften werden Fachkritiken zitiert, die ein ganz eigentümliches Vokabular und Beschreibungsvermögen entwickelten. Zusammen mit den Zitaten aus anonymen und namentlich gekennzeichneten Kritiken prominenter und weniger prominenter Schriftsteller und Journalisten sowie mit gelegentlich beigegebenen "Materialien", d.i. Texten zu den Premieren, zur Filmreklame etc., entsteht ein facettenreiches Kaleidoskop der damaligen Kinokultur, das in seiner Lebendigkeit und Vielfalt, in seinen Widersprüchen, Kontroversen und Belanglosigkeiten ungemein fesselt und eine versunkene Welt wieder ins Leben ruft.

Die einzige Frage, die sich dem Leser nach dem Wiederauftauchen aus dieser vergangenen Welt wohl stellen mag, ist die beckmesserische Frage nach der Relevanz des ganzen Unternehmens, ob die monströse Mühe der Recherche und des Zusammentragens der Texte dem Gegenstand angemessen ist, und weiter, ob der prohibitiv wirkende Preis schon des ersten Bandes von DM 470.00 nicht alle Mühe wieder zunichte macht, die doch der Wiederentdeckung und der Propagierung einer vergessenen Kultur gilt. Aber das sind Fragen, die sich dem wahren Liebhaber nicht stellen!

Wilbert Ubbens


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