Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 3/4
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Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache


94-3/4-380
Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache : das neue einsprachige Wörterbuch für Deutschlernende ; [völlige Neuentwicklung] / Hrsg. Dieter Götz ... In Zusammenarbeit mit der Langenscheidt-Redaktion. - 2. Aufl. - Berlin [u.a.] : Langenscheidt, 1994. - XXVI, 1182 S. ; 22 cm. - ISBN 3-468-49000-3 : DM 48.00
[2231]

Langenscheidts einsprachiges Wörterbuch für den fremdsprachigen Nutzer (Deutsch für Ausländer) wurde zugleich als Lern- und als Nachschlagewörterbuch konzipiert, versteht sich mithin nicht als reines oder bloßes Lernwörterbuch. Wenn ein Lern(er)wörterbuch (pedagogical dictionary, learner's dictionary) durch einen Verwendungszusammenhang definiert ist, in dem ein Nutzer es primär "zum Zwecke der kontrollierten Aneignung, Festigung und Erweiterung seiner Wortschatzkompetenz"[1] einsetzt, so dürfte eine Zuordnung des vorliegenden Wörterbuchs zur Gruppe der Lern(er)wörterbücher gleichwohl statthaft sein. "Das Ziel einsprachiger Lernerwörterbücher ist es, so viel über den Gebrauch des allgemeinen Wortschatzes zu vermitteln, daß die Lernenden die Wörter beim Sprechen, Schreiben und Übersetzen richtig verwenden können und für das Hör- und Leseverstehen verläßliche Hilfe finden" (Vorwort).

An Wörterbücher ergehen zahlreiche komplexe und vielfältig miteinander verbundene (wörterbuch)didaktische Forderungen, zu denen sich im Fall des Lern(er)wörterbuchs zusätzliche lernpsychologische Ansprüche[2] gesellen. Die entsprechenden Kriterien, die hier aus Platzgründen nicht ausformuliert und systematisiert, sondern nur durch grobe Etikette umrissen werden können, lauten: Aktualität (1), Gebräuchlichkeit (2), Definitionsqualität (3), Kontextbezogenheit (4), Grammatikalische Information (5), Aussprachehilfe (6), Bebilderung (7), Informationsdesign (8). An Hand dieser Kriterien sei das vorliegende Wörterbuch getestet.

(1) Es empfiehlt sich durch seinen aktuellen Wortschatz (Besserwessi, Biofarbe, HIV-positiv, Politikverdrossenheit, Ozonkiller). (2) Dem Gebräuchlichkeitskonzept wird durch besondere Beachtung der gesprochenen, idiomatischen Sprache Rechnung getragen (geil, Mathe, Muffensausen). Stilebene und Sprechereinstellung werden markiert (gespr ["sehr salopp, aber noch nicht vulgär"], iron ["ironisch"]). An den Anforderungen unserer Mediengesellschaft orientiert, erleichtert das Wörterbuch - insbesondere durch die starke Berücksichtigung des Wortschatzes aus den Bereichen Politik und Gesellschaft - Fernsehkonsum und Zeitungslektüre (Butterberg, Fünfprozenthürde, PDS). Das genuin bildungsbürgerliche Vokabular, von älteren Wörterbüchern traditionell favorisiert, bleibt gleichwohl nicht ausgeschlossen (Hinterglasmalerei, Sinologie). Insgesamt überrascht mithin die Inklusivität des Wörterbuchs: Es enthält ca. 66.000 Stichwörter und Wendungen, u.a. auch erstaunlich viele der für die deutsche Sprache so wichtigen Komposita (fortschrittsgläubig, Mehrzweckhalle). (3) Die Definitionen - eine der größten Herausforderungen an jeden Lexikographen - zeugen von großem Sachverstand und sicherem Sinn für stilistische Präzision (Scheibenwischer). Gelegentlich, insbesondere bei Abstrakta (Teufelskreis), setzen sie aber beträchtliche Kenntnisse voraus, enthalten niederfrequentes Vokabular, sind zu elaboriert, zu wenig 'assoziativ' oder rekurrieren zu selten auf Standardsituationen- und -kontexte, um - angesichts des intendierten Adressatenkreises - leicht und verständlich zu sein. Facettenreich, weitgehend mit illustrierender Funktion, aber mit einem schwierigen Wort wie "anregend" versehen: die Definition von Kaffee; pragmatisch und alltagsbezogen: die Definition von Paß (als Dokument). (4) Kontexte des Wortgebrauchs, Wortumgebungen, schließlich auch Wortfelder werden durch Kollokationen bereitgestellt ("die Freuden <des Lebens, des Sommers, der Liebe>"), durch Beispiele ("Der redet, als wäre er komplett verrückt"), durch Synonyme und Antonyme. Im Zweifelsfall wird die "didaktische Funktion des Beispiels" (S. VIII) für wichtiger erachtet als dessen Authentizität. (5) Der richtige Sprachgebrauch wird erleichtert durch eingefügte grammatische Tabellen (Beispiel: die Deklination von dieser), durch zahlreiche im einzelnen Lemma angebrachte Strukturmuster (patterns), durch (falls erforderlich) Informationen zur Deklination und Konjugation und - explizite wie implizite - grammatikalische Hinweise: Erfüllung (nur Sg), gutverdienend (nur attr, nicht adv), kooperieren (Vi: [intransitives Verb], transportabel (NB: transportabel - ein transportabler Bohrturm). (6) Betonungshilfen erfolgen für alle Lemmata, Aussprachehilfen nur, wenn die Aussprache nicht "ohne weiteres aus der Schreibung ersichtlich ist" (S. XII). (7) Instruktive Illustrationen erarbeiten wichtige Unterschiede (Axt vs. Beil), vermitteln die Essentials einer Situation bzw. Ensembles (Frühstückstisch), stellen dem Wörterbuchnutzer erste wichtige Differenzierungsmöglichkeiten bereit (Blume: Rose, Tulpe, Schneeglöckchen, Narzisse, Gänseblümchen, Löwenzahn, Krokus). (8) Gewöhnungsbedürftig ist, wie in nahezu allen Wörterbüchern, das Informationsdesign: Gliederung, typographische Auszeichnungen, Abkürzungen, Sonderzeichen (wie vieles andere erläutert in den nicht leicht zu rezipierenden "Hinweise[n] für den Benutzer", S. IX - XXVI). Vielleicht gilt es ohnehin, in bezug auf Sprachwörterbuchartikel - ein Genre, das in besonderem Maße dem Gebot der Wissensverdichtung gehorcht - allzu utopische Hoffnungen an unmittelbar erfahrbare Transparenz, Übersichtlichkeit, Stringenz und Kohärenz aufzugeben. Freilich wird dies die lexikographische Forschung ungern zur Kenntnis nehmen.

Selbstverständlich ist ein Lernwörterbuch in erster Linie für den täglichen Gebrauch und für die Unterbringung in Schreibtischnähe gedacht. Angesichts der enormen Bedeutung, die aufgrund gewaltiger Migrationen der Erlernung der deutschen Sprache in unserer heutigen Gesellschaft zukommt, tun aber auch Bibliotheken, nicht nur öffentliche, gut daran, das qualitätsvolle - angesichts der anvisierten Nutzer aber doch recht anspruchsvolle - Wörterbuch anzuschaffen. Nicht nur hierbei muß in Anbetracht einer "increasingly polyglot, ethnically diverse, multicultural clientele"[3] in stärkerem Maße über eine multikulturelle Erwerbungspolitik nachgedacht werden.

Werner Bies


[1]
Typologie der Wörterbücher nach Benutzungsmöglichkeiten / Peter Kühn. // In: Wörterbücher : ein internationales Handbuch zur Lexikographie / hrsg. von Franz Josef Hausmann ... - Berlin [u.a.] : de Gruyter. - (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; 5). - Teilbd. 1 (1989), S. 111 - 127, Zitat S. 121. - Weitere Literatur zur Definition und Problematik des Lern(er)wörterbuchs: Das englische und französische Lernerwörterbuch in der Rezension : Theorie und Praxis der Wörterbuchkritik / Günter Jehle. - Tübingen : Niemeyer, 1990. - (Lexicographica : Series maior ; 30), bes. S. 5. - Lernerwörterbücher auf dem Prüfstand : oder: Was ist ein Lernwörterbuch? / Eckehard Zöfgen. // In: Bielefelder Beiträge zur Sprachlehrforschung. - 14 (1985), S. 10 - 89. (zurück)
[2]
Zu den Evaluationskriterien für Lern(er)wörterbücher vgl. Dictionaries for foreign language teaching : English / Thomas Herbst. // In: Wörterbücher : ein internationales Handbuch zur Lexikographie / hrsg. von Franz Josef Hausmann ... - Berlin [u.a.] : de Gruyter. - (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; 5). - Teilbd. 2 (1990), S. 1379 -1385. - Les dictionnaires pour l'enseignement de la langue ‚trangŠre : fran‡ais / Franz Josef Hausmann. - Ebd., S. 1386 - 1390. (zurück)
[3]
Multicultural librarianship : an international handbook / ed. for the International Federation of Library Associations and Institutions, Section on Library Services to Multicultural Populations by Marie F. Zielinska with Francis T. Kirkwood. - München [u.a.] : Saur, 1992. - (IFLA publications ; 59), S. 3 - 8 (Vorwort), Zitat S. 3. (zurück)

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