Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 2
[ Bestand in K10plus ]

Geschichte der Musik


94-2-296
Geschichte der Musik : ein Studien- und Nachschlagebuch / Karl H. Wörner. - 8. Aufl. / neu bearb. von Wolfgang Gratzer ... - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1993. - XV, 694 S. ; 25 cm. - ISBN 3-525-27811-X (geb.) : DM 112.00 - ISBN 3-525-27812-8 (br.) : DM 88.00
[2137]

Nunmehr in der 8. Aufl. erschienen und in wesentlichen Teilen gänzlich neu bearbeitet, erhebt auch diese vorläufig letzte Ausgabe den selbstbewußten Anspruch, "das Standardwerk" (Verlagswerbung) unter den musikgeschichtlichen Studien- und Nachschlagebüchern zu sein. Eine Überarbeitung und somit eine Neuausgabe war dringend notwendig geworden, da die vorhergehenden Auflagen nur ergänzende Fortschreibungen des Grundwerks von 1954 darstellten. Nicht nur ein inhaltliches Lifting kam dabei dem Werk zugute: Befreiung von unnötigem oder längst überholtem Wissensballast[1], Aktualisierung des Forschungsstandes[2] und Einarbeitung der Geschichte nach 1945 mit entsprechender Erweiterung des biographischen Anhangs.[3] Auch der formale Aufbau wurde gegenüber den früheren Ausgaben modifiziert. Zwar ist die Musikgeschichte - in der Einschränkung: abendländisch - nach wie vor gattungsgeschichtlich aufbereitet,[4] wie von Wörner ursprünglich konzipiert, aber die früher unübersichtliche, da gemischte Gliederung des Stoffes nach Epochen (bis 1600) und Gattungen (ab 1600) ist nun klarer gefaßt. Die Jahrhunderte geben die Großgliederung vor, Gattungsbegriffe bilden die Unterkapitel.[5] Der in den Vorgängerwerken noch eisern befolgte Grundsatz Wörners, konsequent auf Notenbeispiele zu verzichten,[6] wurde nun glücklicherweise zugunsten größerer Anschaulichkeit aufgegeben. Der Erschließungsteil mit Namen- und Sachregister ist nach wie vor übersichtlich angelegt, die Verweisungen auf die Hauptstellen im Text sind kursiv abgesetzt. Warum allerdings charakterisierende Begriffe, die im Text im Vergleich mit den früheren Ausgaben nach wie vor auftauchen, aus dem Sachregister der 8. Aufl. getilgt[7] und andere zentrale Begriffe, die sogar ausführlich abgehandelt werden, gar nicht erst aufgenommen wurden[8] bleibt rätselhaft und ärgerlich. Gerade ein Nachschlagewerk mißt sich nicht unwesentlich an der Qualität seiner Register.

"Das Werk ist eine Mischung von Musiklexikon und Musikgeschichte" zitiert das Verlagsprospekt einen Rezensenten früherer Auflagen. Genau diese Zwitterstellung aber benennt Stärke und Schwäche des Buches. Das Riemann-Sachlexikon[9] ist natürlich im rein Faktischen ergiebiger. Wer wissen will, was ein Generalbaß ist, schlage dort nach. Im Vermitteln von geschichtlichen Zusammenhängen wiederum ist Handschins Musikgeschichte im Überblick[10] - immer noch - hilfreicher, wenngleich dieses Buch aufgrund der geschlossenen und betont narrativen Darstellungsweise als Nachschlagewerk weniger geeignet ist.[11] Wörners Geschichte der Musik ist dann nützlich, wenn man bereits die Zusammenhänge kennt, denn die Namen, Daten und Begriffe runden sich nur mühsam zu einem geschlossenen Bild, obwohl gerade durch die Präsentation der Stichwörter in ihrem historischen Umfeld ein solches synthetisches Verständnis angestrebt ist. Der verlagseigene Anspruch, Standardwerk sein zu wollen, ist gewiß zu relativieren, aber als Vorlesungsbegleiter zur Musikgeschichte oder Stichwortgeber für die Prüfungsvorbereitung mag "der Wörner" weiterhin, wie bisher auch, gute Dienste leisten.

Reiner Nägele


[1]
Die Würdigung des musikgeschichtlich unbedeutenden Balladenkomponisten Martin Plüddemann wurde erst in der neuesten Auflage aus dem entsprechenden Kapitel gestrichen. (zurück)
[2]
Vorwort: "Strukturgeschichtliche Prozesse wurden eingearbeitet." So gibt es jetzt auch, beispielsweise, ein eigenes kleines Kapitel zum "Sozialcharakter" des Liedes (S. 443). (zurück)
[3]
Berio, Boulez, Cage, Henze, Ives, Kagel, Ligeti, Messiaen, Nono, Penderecki und B. A. Zimmermann sind neu aufgenommen. (zurück)
[4]
Andere denkbare Ansätze (in Auswahl) sind: Das neue Handbuch der Musikwissenschaft / hrsg. von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. - Laaber : Laaber-Verl. 1984 ff. - Bd. 1 - 12. - Ein "Handbuch", desses Schwerpunkt die Strukturgeschichte bildet. - Als Werk, dem ein ideengeschichtliches Konzept zugrunde liegt, wären zu nennen: Die Musik des Abendlandes im geistigen Gefälle der Epochen : ein historisch-phänomenologischer Entwurf / Andreas Liess. - Wien ; München : Jugend & Volk. - 1970. Ebenso: Musik im Abendland : Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart / Hans Heinrich Eggebrecht. - München [u.a.] : Piper, 1991. - Musikgeschichte als Faktengeschichte präsentiert die Metzler-Musik-Chronik : vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart / Arnold Feil. - Stuttgart [u.a.], 1993. (IFB 94-1-094). - Eine an den Biographien herausragender Personen entlang geschriebene "Heroen"-Geschichte, wie sie einst Hans Joachim Moser mehrbändig verfaßte, ist dagegen in der Forschung heute nicht mehr diskutabel. (zurück)
[5]
Nun endlich wird auch die Instrumentalmusik des 15. und 16. Jahrhunderts in einem eigenen Kapitel gewürdigt. In der 6. Aufl., die dem Rezensenten unmittelbar zum Vergleich vorlag, wurde diese Zeit nach wie vor vokal interpretiert (Kapitel 17: "Die franko-flämische Musik des 15. und 16. Jahrhunderts"). Marginale Bemerkungen zur Instrumentalmusik waren ausschließlich unter der Kapitelüberschrift "Die Venezianische Schule" zu finden. (zurück)
[6]
Vorwort zur 2. Aufl., S. 6. (zurück)
[7]
So etwa coro spezato, a-capella-Stil, liturgisches Drama obwohl im Textteil der Terminus geistliches Drama auf S. 58 als eigener Gattungsbegriff genannt ist; auch dieser Begriff fehlt im Register. (zurück)
[8]
Minimal Music (S. 601). (zurück)
[9]
Riemann-Musik-Lexikon. Sachteil. - Mainz : Schott, 1967. (zurück)
[10]
Musikgeschichte im Überblick / Jaques Handschin. Hrsg. v. Franz Brenn. - 6. Aufl. - Wilhelmshaven : Heinrichshofen, 1990. - 450 S. (zurück)
[11]
Dennoch ist Handschin, nach Stichproben, im Detail sogar ergiebiger und präziser, z. B. bei den Ausführungen über Antonio Cestis Stil: Bei Wörner wird unspezifisch von "blühender musikalischer Erfindung" und "Ausbildung geschlossener musikalischer Szenen" gefaselt (S. 201), wogegen Handschin präzise die Arien- und Rezitativentwicklung erläutert (S. 289). Die geschichtliche Entwicklung von "recitativo secco" und "accompagnato", entfällt bei Wörner gänzlich; stattdessen werden diese Begriffe nur typologisch im Zusammenhang mit der "opera seria" genannt. (zurück)

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