Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 2
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Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945


94-2-281
Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 / Ralf Schnell. - Stuttgart [u.a.] : Metzler, 1993. - XI, 611 S. ; 25 cm. - ISBN 3-476-00914-9 : DM 58.00
[1974]

Dieses Werk gliedert sich in einen darstellenden Hauptteil und ein 60 Seiten umfassendes Autorenlexikon.

Das einleitende Kapitel zum Literaturbetrieb stellt Verbände, Verlagswesen, Buchhandel, Kulturpolitik, Kulturzeitschriften, Literaturwissenschaft, Bibliotheken u. a. m. knapp und zumeist auch treffend dar. Freilich sollte ein 1993 publiziertes Buch über die Neuen deutschen Hefte (S. 47) nicht mitteilen, daß dies "politisch-kulturelle" Periodikum "liberaler Prägung" "seit 1954" erschienen ist, sondern auch sein Ende im Jahre 1990 vermerken, das zusammenfällt mit dem Tode des Herausgebers und Verlegers Joachim Günther. Der Name Günthers, der mit erstaunlicher literatur-seismographischer Kraft begabt war, fällt allerdings im ganzen Buch nicht einmal, ebensowenig der seines ursprünglichen Helfers Paul Fechter. In der Revue der Kultur- und Literaturzeitschriften begegnen die westdeutschen in großer Zahl. Von Sinn und Form wird berichtet, daß das Periodikum sich hat erhalten können. Nichts liest man dagegen zu Funktion und Wirkung der beiden anderen wichtigen DDR-Zeitschriften Weimarer Beiträge und ndl/neue deutsche literatur, die besonders als Debütantenforum Interesse verdient. Auch die Frage, ob die DDR mit ihrer Kulturpolitik … la longue nicht auch zu ihrer Selbstauflösung beigetragen hat, käme bei der Analyse der Zeitschriften wohl am ehesten in den Blick. Nur en passant sei festgehalten, daß eine Beschreibung "Die Deutsche Bibliothek ist wie die Deutsche Bücherei eine Bundesanstalt" (S. 62) die Verhältnisse nach dem Einigungsvertrag nicht adäquat wiedergibt. Statt der Ausführungen zu Regional-, Fachbibliotheken usw. wünschte man sich wenigstens ein paar Hinweise auf die Literaturarchive (Marbach, Berlin, Bern).

Die Hauptabschnitte des darstellenden Teils sind der Literatur in der DDR (S. 113 - 237) und der Literatur in der Bundesrepublik (S. 239 - 512) gewidmet, während die Schweizer und die Österreichische Gegenwartsliteratur - entgegen der Titelformulierung - nur in zwei Exkursen von wenigen Seiten abgehandelt werden. So werden wichtige Schweizer Autoren wie Dürrenmatt und Frisch - offenkundig aufgrund der Wirkungszusammenhänge - im Abschnitt Bundesrepublik behandelt, der Österreicher Thomas Bernhard begegnet ebenda und noch einmal im Exkurs zur österreichischen Literatur. Die auslandsdeutsche Literatur ist vollständig ausgeblendet.

Über Einzelheiten der historiographischen Gewichtung wird man streiten können. Merkwürdig mutet an, daß manche Namen im Autorenlexikon auftauchen, das nur eine knappe Auswahl von rund 250 Namen bietet, nicht jedoch im Darstellungsteil. Das gilt z. B. für Hans-Jürgen Heise, der mit Recht im Lexikon steht, dessen frühe Distanzierung von den autoerotischen Spielen der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna auch im Text ihren Platz hätte finden müssen. Vorzüglich gelungen ist dagegen z. B. die abwägende Problematisierung der Frankfurter Affäre um die Aufführung von R. W. Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. Irre, Prosadebüt von Rainald Goetz im Jahre 1983, wird nur als "Panaorama des Wahnsinns" (S. 498) erwähnt, nicht jedoch als (überholter?) sprachlich-formaler Rückgriff auf den Expressionismus beschrieben. Dabei gehört doch gerade zu den interessantesten Aspekten des Buches der insgesamt gelungene methodische Ansatz, sozial- und formgeschichtliche Betrachtung - beide sind viel zu lange nebeneinander hergelaufen - zu verbinden, "die Schnittpunkte zwischen literarischer und gesellschaftlicher Entwicklung herauszuarbeiten, die sich fassen lassen an gattungsveränderungen und Formenwandel"!

Weder im Text noch im Lexikon begegnen Elisabeth Borchers, Milo Dor, Dieter Fringeli, Fritz Hochwälder, Gert Hofmann, Franz Innerhofer, Mascha Kaléko, Norbert Conrad Kaser, Gertrud Leutenegger, Jürgen Lodemann, Jürgen Mauthe, Andreas Okopenko, Leonie Ossowski, Gerhard Roth u. v. a. m. - Lücken, die angesichts des Gesamtumfangs des Werkes nicht gerechtfertigt sind, zumal zahlreiche unbedeutendere Autoren im Darstellungsteil beiläufig erwähnt sind. Julian Schutting findet sich nur als Jutta Schutting.

Hans-Albrecht Koch


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