Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 2
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Textgrammatik der deutschen Sprache


94-2-271
Textgrammatik der deutschen Sprache / Harald Weinrich. Unter Mitarb. von Maria Thurmair ... - Mannheim [u.a.] : Dudenverlag, 1993. - 1111 S. ; 23 cm. - ISBN 3-411-05261-9 : DM 89.00
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Wir sprechen nicht in Wörtern oder Sätzen, sondern in Texten. Zu Recht erkennt die neuere Linguistik daher im Text die natürliche Vorkommensweise von Sprache. Eine Grammatik der deutschen Sprache, die diesen methodischen Ansatz ernst nimmt, muß sich folglich als Textgrammatik verstehen. Um Anliegen, Programmatik und terminologischen Hintergrund einer solchermaßen verstandenen Grammatik - hier insbesondere des Werkes von Harald Weinrich - zu verdeutlichen, wenden wir uns zwei eher unauffälligen Beispielen aus vorliegender Textgrammatik zu. So kennzeichnet Weinrich - bereits hervorgetreten durch eine Textgrammatik des Französischen[1] - die Präposition an u.a. als "mit dem Merkmal <KONTAKT>" versehen (S. 621) und erläutert diese semantische Markierung anhand des Beispieles "/das Bild an der Wand/": "Das Bild (= Basis) hat Kontakt ("Berührung") mit der Wand (= Adjunkt): so wird die Basis vom Adjunkt her determiniert" (S. 622). An erweise sich auch als "Präposition des Sozialkontaktes, insbesondere des kommunikativen Kontaktes" (Beispiel "/ich denke ständig an meine Kinder/", S. 622). Die "Kontakt-Anweisung dieser Präposition" könne sich sowohl auf den "Raumkontakt" (/"wir holen dich am Bahnhof ab/") als auch auf den Zeitkontakt ("/Ankunft am Morgen [...]/", S. 624) beziehen. (Die Schrägstriche kennzeichnen die Beispiele als Textsegmente, "zu denen vorher und nachher Kontext hinzugedacht werden soll", S. 26). An anderer Stelle bespricht der Autor die Alternativfragen ("Wahlfragen", "disjunktive Fragen"), "deren Bedeutung mit der Merkmalkombination <LÜCKE> und <WAHL> zu beschreiben ist. Alternativfragen stellen mit Hilfe des Selektiv-Junktors oder die Geltung von zwei oder mehr Möglichkeiten zur Wahl" (Beispiel: /"soll ich die Rechnung bar bezahlen, oder wollen Sie den Rechnungsbetrag überwiesen haben? ö besser in bar/", S. 883). (Das Zeichen "ö" markiert einen Sprecherwechsel.)

Die Beispiele belegen: 1. Da Autoren von Textgrammatiken sich nicht primär am Wort oder am Satz orientieren, sondern textbezogen argumentieren, konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf alle sprachlichen Mittel, die den Zusammenhang von Texten begründen und zu ihrer Profilierung und Konturierung beitragen. In der vorliegenden Grammatik werden daher die Strukturbeschreibungen der deutschen Sprache an textlinguistischen Konzepten wie 'Anaphorik', 'Kataphorik', 'Junktionen', 'Gesprächsrollen', 'Handlungsrollen', 'Horizont' und 'Fokus' (s. dazu "Grundbegriffe der Grammatik", S.17 - 27) ausgerichtet. Bei alledem verliert die ohnehin schon fragwürdige Grenze zwischen 'Grammatik' und 'Semantik' weiterhin an Bedeutung. - 2. Textgrammatiken stellen die kommunikative Leistung der Sprache in den Vordergrund, sind dialogzentriert, berücksichtigen stärker als traditionelle Grammatiken die gesprochene Sprache. - 3. Der durchaus philosophische Habitus von Weinrichs Argumentationsführung unterstreicht den kulturanthropologischen Erkenntnisanspruch dieser Grammatik, der sich augenfällig in der Aufstellung von dreißig paarigen semantischen Merkmalen äußert, die zueinander in einem Verhältnis binärer Opposition stehen wie <Bereitschaft> vs. <Aufschub>, <Anfang> vs. <Ende>, <Identität> vs. <Alterität>, <Rahmen> vs. <Inhalt>, <Hoch> vs. <Niedrig> ("Verzeichnis der semantischen Merkmale", S. 1081 - 1088).

Weinrich kennzeichnet seine Grammatik als nicht normativ, sondern deskriptiv (S. 19), d. h. als um die Beschreibung tatsächlich vorkommender Sprachäußerungen bemüht; aber selbstverständlich bietet er dennoch dem ratsuchenden Leser vielfältige Orientierungen und letztlich auch Vorgaben (man denke nur an die Tabellen von Konjugationsformen). Auch in dieser Hinsicht ist dem vorliegenden Werk "eine deutliche Option für Sprachkultur eingeschrieben" (S. 19). Gewöhnungsbedürftig ist Weinrichs Textgrammatik für alle, die noch mit den Denkweisen und Termini der traditionellen Grammatik erzogen wurden (das sind bis zum heutigen Tag die meisten), nicht nur aufgrund der bereits vorgetragenen Charakteristika und einiger Neudefinitionen (so heißt der Konjunktiv II hier "restriktiver Konjunktiv oder Restriktiv", S. 20). Ungewohnt ist auch die Gliederung, die sich von der klassischen Einteilung des Grammatik-Dudens[2] (dort auf der ersten Gliederungsebene: 1. Das Wort, 2. Der Satz) deutlich abhebt: 1. Grammatische Theorie, 2. Das Verb und sein Umfeld, 3. Das Verb und seine Einstellungen, 4. Das Nomen und sein Umfeld, 5. Das Adjektiv, 6. Das Adverb, 7. Syntax der Junktion, 8. Syntax des Dialogs, 9. Wortbildung. Glücklicherweise wird aber die Konsultation durch ein hilfreiches Register der grammatikalischen und linguistischen Termini und der erklärten Wörter (nicht aber der zitierten Autoren) erleichtert.

Weinrichs durch Anschaulichkeit, Beispielfülle und ausführliche textgrammatische Kommentare exemplarischer Texte (Beispiel Kochrezept, S. 281) bestechende Textgrammatik empfiehlt sich für alle, die bei der punktuellen Lösung eines sprachlichen Zweifelfalles auf der Suche nach einer Vorgabe, einem Kommentar oder (häufig am wichtigsten) einem Beispiel sind. Die Lektüre größerer Abschnitte, die über eine Einzelfallklärung hinausgeht, wird für alle professionell mit Sprache Arbeitenden von großem Wert sein. Fazit: Ein unverzichtbares Nachschlagewerk, das in den Informationsbestand einer jeden Bibliothek gehört, aber selbstverständlich die Nutzung des klassischen, stärker normierenden Grammatik-Dudens nicht ersetzt.

Werner Bies


[1]
Textgrammatik der französischen Sprache / Harald Weinrich. - Stuttgart : Klett, 1982. (zurück)
[2]
Duden "Grammatik der deutschen Gegenwartssprache" / hrsg. und bearb. von Günther Drosdowski in Zsarb. mit Gerhard Augst ... - 4., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. - Mannheim [u.a.] : Bibliographisches Institut, 1984. - (Der Duden in 10 Bänden ; 4) (zurück)

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