Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 2
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Die Wiener Tageszeitungen


94-2-174
Die Wiener Tageszeitungen : eine Dokumentation / Gabriele Melischek ; Josef Seethaler (Hrsg.). Österreichische Akademie der Wissenschaften. - Frankfurt am Main [u.a.] : Lang. - 21 cm. - (Publikationen der Historischen Pressedokumentation)
[1872]
Bd. 3. 1918 - 1938. - 1992. - 263 S. - ISBN 3-631-44409-5 : DM 74.00

Mit dem vorliegenden Band 3 wird eine auf fünf Bände geplante Reihe zur Dokumentation der Wiener Tagespresse von 1848 bis 1945 eröffnet. In den ersten vier Bänden sollen nicht allein die möglichst vollständigen bibliographische Daten und Bestandsnachweise zusammengetragen werden, sondern darüber hinaus auch aus den Quellen heraus über die äußere und die institutionelle Struktur der Wiener Presse informiert werden. Im vorgesehenen Abschlußband sollen dann vor allem die Ergebnisse einer Analyse von Eigentums- und Produktionsverhältnissen der Wiener Zeitungen veröffentlicht werden. Hier wird eine Arbeit begonnen, die einen der damals reichsten und vielfältigsten (auch mehrsprachigen) lokalen Pressemärkte - nur vergleichbar mit Paris, London oder Berlin - bibliographisch und analytisch erschließen will.

Ausgangspunkt der Dokumentation ist ein 1988 abgeschlossenes Forschungsprojekt des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung zur Einrichtung einer Datenbank der Wiener Tageszeitungen von 1918 bis 1938, die inzwischen bis 1945 fortgeführt worden ist (die Veröffentlichung des entsprechenden Teilbandes ist bereits angekündigt). Das Projekt mündete in einer jetzt etablierten Forschungsstelle "Historische Pressedokumentation" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, mit dem Auftrag, die gesamte Wiener Tagespresse von 1848 bis 1945 zu dokumentieren und für die weitere Forschung aufzubereiten. Besonderes Interesse soll hierbei auf die durch die Tageszeitungen vermittelten politischen Positionen gelegt werden.

Zu diesem Zweck wurde ein EDV-gestütztes Dokumentationssystem entwickelt (programmiert in CLIPPER 87 auf Personalcomputern), mit dem in Autopsie alle aus den vorliegenden Zeitungen erkennbaren bibliographischen und drucktechnischen Daten, Erscheinungsweisen, Preise, Impressa (Eigentümer, Verleger, Herausgeber, Redaktionsmitglieder, Druck), Druckorte, Motti etc. incl. ihrer mit Datum notierten Änderungen dokumentiert werden. In einem Kommentar werden Querverweise auf zusammengehörige Titel, gemeinsame Ausgaben, Abonnementspreise, Auflagenhöhen u.a.m. notiert. In Vor- und Nachtexten werden Titelverknüpfungen (auch mit Wochenzeitungen u.a. ansonsten nicht erfaßten Presseorgangen) mitgeteilt; schließlich werden alle Beilagen angegeben. Aus Pressehandbüchern, Katalogen von Annoncenexpeditionen etc. werden jahresweise ergänzende Hinweise zum politischen Standort der Zeitung, zur Auflagenhöhe etc. notiert, wobei davon ausgegangen wird, daß diese Daten i.w. von den Zeitungsverlagen zur Selbstdarstellung eingesetzt worden sind. (Solche Angaben liegen derzeit etwa für die Hälfte der dokumentierten Zeitungen vor.) Als Bibliotheksdaten werden besitzende Institutionen, Signaturen, Art der Aufbewahrung und Bestandsdaten angegeben. Schließlich wird die nach 1945 erschienene Sekundärliteratur zu den jeweiligen Zeitungen verzeichnet. Nach allen Kategorien, vorrangig nach Titeln, Tagesdaten und Zeiträumen, aber auch nach einzelnen Personennamen, Bibliotheksstandorten u.a.m. kann recherchiert werden. Schließlich sind auch Vergleiche mit den Daten einer in gleichartigen Kategorien, aber auf Sekundärangaben aufgebauten Datenbank "Dokumentation der Berliner Tageszeitungen 1918 - 1933" möglich, in der bislang 125 Titel nachgewiesen sind. In einem längeren Prozeß sollen zudem inhaltsanalytische Untersuchungen zu politischen Tendenzen und Wandlungen in der Wiener Presse durchgeführt und für die Datenbank dokumentiert werden. Dies geschieht zunächst anhand der Berichterstattung zu politischen Gedenktagen, Wahlen und Wahlkämpfen, wobei z.B. Wahlempfehlungen in den Zeitungen zur Bestimmung der politischen Tendenz genutzt werden. Die Ergebnisse sollen auch den Benutzern als qualitatives Suchkriterium angeboten werden.

Für die Datenbank wurden inzwischen 194 Tageszeitungen erfaßt, wobei "Tageszeitungen" definiert werden durch eine primär aktuelle und universale Nachrichtenübermittlung und durch ein mindestens zweimal wöchentliches Erscheinen. Die Titel der Zeitungen werden zur Bestimmung der bibliographischen Einheit verwendet, - nicht etwa die "publizistische Einheiten" (d.h. die verlegerischen Unternehmen) oder deren einzelne Ausgaben (in zeitlicher oder regionaler Art), da die Analyse der verlegerischen Struktur ja erst noch geleistet werden soll.

Im vorliegenden Band 3. 1918 - 1938 der Bibliographie werden 125 Wiener Tageszeitungen vorgestellt, die in der beschriebenen Weise in der Datenbank dokumentiert sind. Zusätzlich wurden 15 Titel aufgenommen, die in zeitgenössischen Sekundärquellen erwähnt sind, aber bisher noch durch kein überliefertes Exemplar belegt werden konnten. Die Titel werden in alphabetischer Folge unter Voransetzung des faksimilierten Zeitungstitels anhand der angegebenen Kategorien der Datenbank beschrieben, allerdings werden keine Sekundärhinweise auf die politische Tendenz oder die Druckauflage angegeben, so daß für die Druckfassung leider ein wesentlicher Aspekt der Dokumentation nicht erschlossen wird. In einem umfangreichen Anhang folgen eine Gesamtliste der in Wien gedruckten Tageszeitungen 1918 - 1945, eine jährliche Übersicht über neu erschienene resp. eingestellte Zeitungen, die ausführliche Bibliographie der im Hauptteil nur in Kurztiteln angegebenen Sekundärliteratur, ein Personenregister und auf einem Beiblatt eine graphische, zeitliche Übersicht über die Gesamtzahl der Ausgaben, Titel und publizistischen Einheiten 1918 - 1945. Im einleitenden Teil werden Aufgabe, Datenbasis, Kategoriensystem und Organisation von Datenbank und Bibliographie sowie die Anfragemöglichkeiten an die Datenbank detailliert beschrieben und am Beispiel der Stichtagsauswertung zum 16.2.1919 (Wahl der konstituierenden Nationalvesammlung) beispielhaft vorgestellt.

Die vorliegende (Teil-)Druckveröffentlichung hat im engeren Sinne nur einen hinweisenden Charakter auf die hinter ihr stehende Datenbank und deren angebotene Analysemöglichkeiten. Insofern bedeuten Kritikpunkte an der Buchveröffentlichung keine grundsätzliche Kritik an der dokumentarischen Arbeit, die hier geleistet wird. Trotzdem ist entschieden zu bedauern, daß in der Buchveröffentlichung keine Auflagenzahlen und keine Hinweise auf die politische Tendenz der Tageszeitungen aufgenommen worden sind, die doch die zielgerichtete Nutzung der dokumentarischen Arbeit wesentlich erleichtern würde und die auch dem gestellten Ziel der politischen Charakterisierung der Presse entspräche. Die Frage, warum keine zeitgenössische Sekundärliteratur zur Presse in den Belegen aufgeführt wird, scheint schon eher nachrangig, obwohl auch sie die Frage aufwirft, warum solche, für die Dokumentation doch genuinen Charakteristika nicht in die Druckfassung aufgenommen worden sind, sondern nur für die Benutzer der Datenbank bereitgehalten werden. Erstellung und Unterhaltung der Datenbank freilich sind ein Unternehmen, das höchste Anerkennung verdient und ohne jeden Zweifel Vorbildcharakter besitzt. Es bliebe zu wünschen, daß der historische Rahmen noch bis in die Vormärz-Zeit oder gar bis zu den Anfängen der Presse ausgedehnt werden könnte und räumlich vielleicht auf das gesamte (jetzige?) Österreich. Eine Übertragung von Arbeitsprogramm und -organisation auf deutsche Verhältnisse, so überaus wünschenswert und notwendig sie wäre, wagt der Rezensent unter den hier gegebenen Umständen nicht einmal zu erträumen.

Wilbert Ubbens


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