Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 1
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Metzler-Musik-Chronik


94-1-094
Metzler-Musik-Chronik : vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart / von Arnold Feil. - Stuttgart [u.a.] : Metzler, 1993. - XXIV, 836 S. ; 25 cm. - ISBN 3-476-00929-7 : DM 78.00
[1859]

"Nach Gervinius wird eine Ansammlung von Fakten erst dann zur Geschichtsschreibung, wenn der Historiker die eine Grundidee entdeckt, die gerade diese Reihe von Begebenheiten, die er sich zum Vorwurf nahm, durchdringt", schrieb Carl Dahlhaus einmal zutreffend in einer Rezension.[1] Arnold Feil, der emeritierte Tübinger Professor für Musikwissenschaft und Schubert-Forscher, der die Metzler-Musik-Chronik zu verantworten hat, scheint sich dieses Anspruchs und eines daraus resultierenden möglichen Vorwurfs bewußt gewesen zu sein, da er im Vorwort präventiv behauptet: "Der Gegenstand dieses Buches [ist] die Musikgeschichte als Zusammenhang, und diese gilt es darzustellen". Nun ist das vorliegende Werk mit seinen 836 Seiten tatsächlich nicht nur eine chronologische Aneinanderreihung von Kurzartikeln zu Kompositionen und wichtigen Theoretica "vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart", obgleich dies den Hauptteil des Buches ausmacht. Den Daten und Werken gehen Abschnitte voraus, "in denen historische und gattungsmäßige Zusammenhänge dargestellt sind" (Vorwort). So ergeben sich insgesamt 10 Groß- und 14 Kleinkapitel. Die Großkapitel entsprechen dem herkömmlichen populären Epochenverständnis - Zwischen Antike und Mittelalter bis Musik in der Gegenwart -, die Kleinkapitel gliedern nochmals nach kompositionsgeschichtlich relevanten Zusammenhängen, z.B. die Renaissance : Kapitel V beschreibt die Blütezeit der a-capella-Polyphonie, Kapitel VI das Aufstreben der Instrumentalmusik zur polyphonen Komposition... Ein chronologisches Inhaltsverzeichnis zu Beginn listet die Fakten der Musikgeschichte auf, am Ende hilft dem Suchenden ein Register der Komponisten, ihrer (besprochenen) Werke und der in den Artikeln erwähnten Personen.

Entgegen dem Anspruch der im selben Verlag erschienenen Metzler-Literatur-Chronik[2], die sich ausdrücklich als "Nachschlagewerk" zur "schnellen, sachlichen und zuverlässigen Information auf der Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes" (Vorwort) versteht, handelt es sich bei Feils Werk ebenso ausdrücklich um eine Musikgeschichtsschreibung in etwas anderer Verpackung - und als solche ist sie demzufolge auch zu bewerten. Daß die geistesgeschichtliche Methode längst als "tot und abgetan gilt",[3] zumindest fragwürdig geworden ist, scheint Feil und seine Mitautoren nicht zu belasten. Eisern wird an geistesgeschichtlichen Erklärungsmodellen musikgeschichtlicher Zäsuren festgehalten.[4] Auch hier baut der Verfasser vorsorglich einen Schutzwall: nicht wissenschaftliche Diskussion wolle man bieten, sondern sich an "Kenner und Liebhaber der Musik" wenden. Bleibt die Frage nach der konzeptionellen "Idee" und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand, der den Daten und Fakten zugrunde liegt. Feil im Nachwort: "Hauptstütze im Sachlichen ist Die Musik in Geschichte und Gegenwart [...] In gewisser Weise beruht das Buch auf MGG" [5]. Nun ist dieser, wie sich beim Lesen der Texte zeigt, durchweg kritiklose Rekurs auf die 1949 begonnene und 1968 im Grundwerk abgeschlossene Enzyklopädie weder besonders anspruchsvoll noch originell. Das Buch entlarvt sich mit dieser Konfession als eine Kompilation, als vielseitiges Zeugnis von Belesenheit, nicht Reflektiertheit, vorgetragen in einem Überzeugungston, der ex cathedra belehren, nicht durch die Faszination einer eigenwilligen Sicht zum Nachdenken anregen will.[6] Es sollte auffallen ..., Kaum kann man es deutlicher sagen als ..., Niemand hat das so knapp und deutlich dargestellt wie ... schließlich: das ist so - apodiktisch, mehr auf die Rhetorik vertrauend, als auf Argumente. Es wimmelt nur so von Elativen: Beschreibungen sind unübertroffen, Texte von Autoren, die Feil gern und ausführlich als Autoritäten zitiert, stets hervorragend, vorzüglich oder gescheit. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs Historismus, der eben nicht eindimensional zu begreifen ist - Historismus in der Komposition, der Aufführungspraxis, Editionstechnik und Geschichtsschreibung meint je Verschiedenes - scheint Feil nicht zu kümmern. Er illustriert den "Neuen Historismus in der Musik" des 19. Jahrhunderts mit dem unkommentierten Abdruck eines Zitats aus dem Werk eines Autors von 1954. Erklärt ist damit nichts. Daß er zwar einige Zeilen aus Manfred Hermann Schmids Musik als Abbild [7] als Beleg für die Bedeutung des Freischütz anführt, ohne jedoch die Erkenntnisse der Studie im Artikel zu reflektieren, und wenige Sätze zuvor behauptet, zu Webers Oper sei "fast nichts musikalisch Relevantes geschrieben worden", dies zeugt eher von des Autors Unverständnis, denn von wissenschaftlicher Seriosität. Und an anderer Stelle: "Die Streichquartette Bartóks sind wohl seine bedeutungsvollsten Werke". Auch dies nur ein unkommentiert abgedrucktes Zitat aus einem Büchlein von 1954. Wesentlich mehr erfährt der Leser zu diesen kompositionsgeschichtlich bedeutenden Werken nicht. Soweit pars pro toto zum Niveau der Werkbesprechungen.

Die Metzler-Musik-Chronik erweist sich angesichts anderer, ambitionierterer Musikgeschichten schlicht als redundant. Hier hat ein Wissenschaftler seine Chance leichtfertig vertan.

Reiner Nägele


[1]
Neue Zeitschrift für Musik. - 130 (1969), S. 192. (zurück)
[2]
Metzler-Literatur-Chronik : Werke deutscher Autoren / Volker Meid. - Stuttgart [u.a.] : Metzler, 1993. - 724 S. ; 25 cm. - ISBN 3-476-00941-6 : DM 58.00. - Eine Rezension ist für eines der nächsten Hefte IFB vorgesehen. (zurück)
[3]
Epochen und Epochenbewußtsein in der Musikgeschichte / Carl Dalhaus. // In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein / hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. - München : Fink, 1987. - (Poetik und Hermeneutik ; 12), S. 81. (zurück)
[4]
Dagegen schreibt Volker Meid in seinem Vorwort zur Metzler-Literatur-Chronik: "Bei der Konzeption der Chronik wurde von vornherein auf eine Gliederung nach Epochen verzichtet." Als einen wesentlichen Grund für diese Entscheidung nennt er die "Problematik mancher Epochenbegriffe". (zurück)
[5]
Die Musik in Geschichte und Gegenwart : allgemeine Enzyklopädie der Musik / hrsg. von Friedrich Blume. - Bd. 1 - 17. - Kassel [u.a.] : Bärenreiter-Verl., 1949 - 1989. Vgl. zuletzt ABUN in ZfBB 37 (1990),1, S. 51 - 53. (zurück)
[6]
Daß dies in der Musikgeschichtsschreibung möglich ist, beweisen, unabhängig davon, wie sie im einzelnen zu bewerten sind, z.B. die folgenden Entwürfe: Die Musik des Abendlandes im geistigen Gefälle der Epochen : ein historisch-phänomenologischer Entwurf / Andreas Liess. - Wien ; München : Jugend & Volk, 1970; Musik im Abendland : Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart / Hans Heinrich Eggebrecht. - München [u.a.] : Piper, 1991 oder, mit eingeschränkter Thematik, das folgende, von Feils Lehrer stammende Werk Musik und Sprache : das Werden der abendländischen Musik ; dargestellt an der Vertonung der Messe / Thrasybulos Georgiades. - Unveränd. Nachdr. der 2. Aufl. - Berlin [u.a.] : Springer, 1984. - (Verständliche Wissenschaft ; 50).
Die Metzler-Musik-Chronik ist jedoch wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit und Sachlichkeit auch kein Hand- oder Lehrbuch, wie beispielsweise Musikgeschichte im Überblick / Jacqus Hadschin. - 4. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 2., erg. Aufl. - Wilhelmshaven [u.a.] : Heinrichshofen, 1982 oder Geschichte der Musik : ein Studien- und Nachschlagebuch / Karl Heinrich Wörner. - 6. Aufl. / erg. von Ekkehard Kreft. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1975). (zurück)
[7]
Musik als Abbild : Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner / Manfred Hermann Schmid. - Tutzing : Schneider, 1981. - 368 S. - (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte ; 33). (zurück)

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