Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 2(1994) 1
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Lexikon der Interpreten klassischer Musik im 20.


94-1-090
Lexikon der Interpreten klassischer Musik im 20. Jahrhundert / Alain Pƒris. Übers. und bearb. von Rudolf Kimmig. - Gemeinsame deutsche Erstausg. - München : Deutscher Taschenbuch-Verlag ; Kassel : Bärenreiter, 1992. - XX, 1032 S. ; 19 cm. - (Dtv ; 3291). - Einheitssacht.: Dictionnaire des interprŠtes et de l'interprétation musicale au XXe siŠcle <dt.>. - ISBN 3-423-03291-X (Dtv) - ISBN 3-7618-3291-5 (Bärenreiter) : DM 39.80
[1799]
94-1-091
Dizionario degli interpreti musicali : musica classica e operistica. - Milano : Editori Associati, 1993. - XVIII, 656 S. - (I dizionari). - ISBN 88-7819-195-7 : Lit. 39.000
[1967]

Das Dictionnaire des interprŠtes et de l'interprétation musicale au XXe siŠcle[1] ist in seinem Ursprungsland bereits in der 3. Auflage im Handel. Rudolf Kimmig hat das voluminöse Nachschlagewerk übersetzt und für den deutschen Markt aufbereitet und dem Vorwort zufolge um 400 "für das deutsche Musikleben unverzichtbare" Stichwörter erweitert. Verzeichnet sind insgesamt 2352 Biographien von Sängern, Instrumentalisten und Dirigenten sowie 615 Einträge zu Opernhäusern, Chören, Symphonieorchestern und Kammermusikensembles. Das Buch gliedert sich in mehrere Teile. Teil 1 listet alphabetisch die stets im erzählenden Präsens geschriebenen Biographien der Interpreten auf. Teil 2 widmet sich den Ensembles, gegliedert nach Opernhäusern, Chören und Vokalensembles, Symphonieorchestern, einer Sparte "Kammerorchester und spezialisierte Instrumentalensembles" sowie Kammermusikensembles. Die Feingliederung im zweiten Teil folgt dem Alphabet der Städte in denen die Orchester ansässig sind. Wer freilich nicht weiß, daß die Philharmonia Hungaria ihren Sitz in Marl, oder daß das Hallé Orchestra den seinen in Manchester hat, verbringt ärgerlich viel Zeit mit Blättern; Zwischentitel mit den Namen der Städte fehlen, ebenso fehlt im ansonsten reichen Anhang ein alphabetisches Register zu den Symphonieorchestern. Der letze Abschnitt in Teil 2 - Kammermusikensembles - ordnet sinnvollerweise nach den jeweiligen Namen. Ein umfassender Registerteil zu den Interpreten (nach Sparten getrennt) und Ensembles schließt sich an.

Als Kriterien der Auswahl nennt der französische Herausgeber "Bekanntheit und Kohärenz". Nun mag der schwer zu prüfende Anspruch der Kohärenz für das französische Original mit einigem Wohlwollen nachvollziehbar sein,[2] zur qualitativen Prüfung der Verzeichnung jedoch ("umfassend" und "zuverlässig" laut Klappentext) ist es sicher nicht tauglich, ebensowenig ist es das Argument der "Bekanntheit". Pasquale Amato, Richard Bonelli, Louis Graveur, die bei Ewen[3] zu finden sind, sucht man hier vergeblich, nach dem Edward-Tarr-Brass-Ensemble, dem RaschŠr-Saxophon-Quartett oder dem New Zealand Symphony Orchestra blättert man erfolglos. Einige Namen französischer und osteuropäischer Interpreten, die in der französischen Ausgabe aufgeführt sind, fehlen. Die Zahl der Einträge ist dennoch beachtlich, ein gewisses unvermeidliches Defizit gegenüber Speziallexika (für Dirigenten[4], Orchester[5], vor allem Sänger[6]) wäre zu akzeptieren. Doch liest man die Artikel genauer, verdüstert sich das Bild merklich. Die Texte sind zum größten Teil bei den identischen Stichworten wörtlich aus dem französischen Original von 1982 übersetzt, was etwa bei Ivo Pogorelich zu dem Kuriosum führt, daß dessen Biographie am Beginn der Karriere abbricht. Hinzu tritt die Lust der Autoren, geschwätzig über Motive und künstlerische Neigungen zu spekulieren. Ein Beispiel unter vielen: "Sein Repertoire reicht von Ludwig van Beethoven bis Arnold Schönberg, wobei er immer alles in Frage stellt und sich, ohne sich um Publikum und Erfolg zu kümmern, mit jeder Komposition auseinandersetzt" (Alfred Brendel). Dieser nicht nur durch die Übersetzung verschuldete unbeholfene Stil, der seine Nähe zum französischen Idiom nicht leugnen kann, mag vielleicht nur eine sprachliche Schwäche sein, doch es gibt auch im Faktischen Trübungen. Der Bratschist des Melos-Quartetts heißt mal Hermann, mal Herbert Voss; Jessye Norman gewann ihren karrierefördernden Wettbewerb erst 1969 und nicht, wie das Lexikon schreibt, 1968; die Berganza debütierte bereits 1957, nicht erst 1958 und sie ist eben nicht nur Sopranistin, sondern ebenso für ihre bravourös gesungenen Koloratur-Alt-Partien bekannt; "als Achtjährige", raunt das Lexikon ganz privatim, "äußert sie den Wunsch, Sängerin zu werden", der Artikel verschweigt dagegen ihren Geburtsnamen Teresa Vargas beharrlich - was ja faktisch interessant gewesen wäre. Mag sein, daß diese Stichproben nicht repräsentativ für das Ganze sind, aber sie genügen, um Mißtrauen zu wecken, zumal es sich bei den Zitierten keineswegs um zweitrangige Künstler handelt.[7] Solange freilich kein dem Umfang nach vergleichbares und sorgfältiger gemachtes Interpretenlexikon auf dem deutschen Markt existiert, wird der nur flüchtig Information suchende Konzertbesucher dankbar in den vorliegenden 1030 Seiten blättern.

Seinem Anspruch und seiner Anlage nach ist das Dizionario vergleichbar mit dem sehr kritisch bewerteten Lexikon der Interpreten klassischer Musik im 20. Jahrhundert. Die einzelnen Artikel haben einen ähnlichen Umfang, und auch die Anhänge, die dem biographischen Teil folgen, legen einen solch direkten Vergleich nahe. Je ein Verzeichnis der Kammermusikensembles, der Kammerorchester, der Symphonieorchester,[8] der Theaterorchester und Chöre bilden den Schlußteil des Buches. Im Vergleich zum deutschen Lexikon fehlen allerdings die dort angehängten diversen Register, und die Zahl der Einträge ist im Dizionario etwas geringer, nämlich ca. 2000 gegenüber 2352 im deutschsprachigen Nachschlagewerk. Das hat unterschiedliche Gründe. Das italienische Nachschlagewerk ist ein erweiterter Auszug aus dem vielbändigen Dizionario enciclopedico universale della musica e dei musicisti.[9] So mag es sein, daß ein Künstler bereits im Dizionario enciclopedico nicht verzeichnet ist (z.B. der in Italien geborene Tenor Franco Ghitti), oder daß er zwar im "großen" Dizionario aufgeführt ist, aber, aus welchem Grund auch immer, nicht in den vorliegenden Band übernommen wurde (beispielsweise der italienische Cembalist Ruggero Gerlin). Andererseits kennt das deutschsprachige Lexikon nur einen Abbado (Claudio), das italienische dagegen vier (Michelangelo, Marcello, Claudio, Roberto). Doch es wäre müßig, die Einträge im einzelnen gegeneinander aufrechnen zu wollen. Daß das italienische Lexikon tendenziell mehr italienische, und das deutschsprachige seiner Herkunft gemäß mehr französische Interpreten berücksichtigt, bestätigen Stichproben, ist aber als Feststellung trivial. Zudem handelt es sich hierbei allermeist um solche Künstler, die im Ausland bislang wenig oder gar nicht bekannt sein dürften. Gegenüber dem Dizionario enciclopedico wurden in den vorliegenden Band 150 Interpreten neu aufgenommen, nach dem Urteil des Herausgebers "nuovi talenti che si sono affermati in questi anni" (Vorwort), eine Einschätzung, die für Thomas Zehetmair (geb. 1961) noch bedingt nachvollziehbar ist, bei Marcello Viotti (geb. 1953) allerdings eher befremdet.[10] Doch, wie gesagt, die quantitative Differenz im Vergleich der beiden Lexika ist letzlich unerheblich. Was die Artikel im Dizionario positiv auszeichnet, ist ihre strikte Konzentration auf das Biographisch-Faktische, auf Ausbildungs- und Karrieredaten sowie Highlights des Repertoirs womit es sich vorteilhaft von der nicht selten unerträglichen Geschwätzigkeit des deutschsprachigen Lexikons unterscheidet. Die Texte sind weitgehend identisch mit den Artikeln im Dizionario enciclopedico, um wenige Sätze im Bereich der Charakterisierung der künstlerischen Tätigkeit erweitert, da das einbändige Lexikon bei komponierenden Künstlern etwa keine eigene Rubrik "Werkverzeichnis" kennt. Das Interesse gilt beim "kleinen Bruder" ja vorrangig dem interpretatorischen Wirken. Demzufolge - und für den Nutzer erfreulich - schließt sich den meisten Artikeln eine Diskographie an, allerdings nur der CD-Veröffentlichungen. Diese Rubrik ist nicht selten umfangreicher als es die Texte selbst sind. Bei Bühnenwerken werden sogar die weiteren Rollenbesetzungen mit aufgeführt. Einziges nennenswertes Defizit gegenüber dem deutschsprachigen Pendant ist das Fehlen der dort vorhandenen Interpreten-Register. Diese hätten bei dem sehr solide gemachten italienischen Lexikon auch einen nützlichen sachlichen Zugriff über die Instrumente oder die Stimmlage zugelassen.

Reiner Nägele


[1]
Dictionnaire des interprŠtes et de l'interprétation musicale / Alain Pƒris. - Paris : Laffont, 1982. - 3. éd. 1989. (zurück)
[2]
Der gesamte erste Teil der französischen Ausgabe (S. 7 - 115) ist der Theorie einer Interpretationsgeschichte gewidmet, mit graphisch anschaulich aufbereiteten Stammbäumen zu Lehrer-Schüler-Beziehungen und essayistischen Kommentaren zu "situation et évolution de l'interprétation au XXe siŠcle". Dies fehlt leider in der deutschen Ausgabe gänzlich. (zurück)
[3]
Musicians since 1900 : performers in concert and opera / comp. and ed. by David Ewen. - New York : Wilson, 1978. (zurück)
[4]
Z.B. Das Atlantisbuch der Dirigenten : eine Enzyklopädie / hrsg. von Stefan Jaeger. - Zürich : Atlantis Musikverlag, 1985. (zurück)
[5] Zu nennen wäre u.a. Symphony orchestras of the world : selected profiles / ed. by Robert R. Craven. - New York ; London : Greenwood Press, 1987. (zurück)
[6]
Hier vor allem die folgenden deutschsprachigen Werke: Sängerlexikon / Karl Josef Kutsch ; Leo Riemens (vgl. IFB 94-1-092 - 093) und Die grossen Sänger / Jürgen Kesting. - Düsseldorf : Claassen, 1986. - Bd. 1 - 3 (vgl. die Rezension in ABUN in ZfBB 34 (1987), 5, S. 230 - 235.) (zurück)
[7]
Daß die schlimmen Ahnungen des Rezensenten, was die Solidität vieler Artikel betrifft, nicht trogen, belegt ein Verriß, den der soeben erwähnte Alfred Brendel, mit zahlreichen Beispielen belegt, in der FAZ auf zwei über die ganz Seite reichenden Spalten veröffentlicht hat: Schall und Wahn : Warnung vor einem Musiklexikon / von Alfred Brendel. // In: Frankfurter Allgemeine. - 1994-01-12, S. 23. (zurück)
[8]
Hier glücklicherweise nicht unter dem Ort, sondern unter dem jeweils gebräuchlichen Namen alphabetisch aufgelistet, mit Verweisungen von der landessprachlichen Bezeichnung auf den Eintrag in italienischer Sprache: z.B. Berliner Philharmoniker --> Orchestra Filarmonica di Berlino. (zurück)
[9]
Dizionario enciclopedico universale della musica e dei musicisti / dir. da Alberto Basso. - Torino : Utet, 1983 - 1990. - 1 - 13. (zurück)
[10]
Zu ersteren kann man auch den jungen Ingo Metzmacher rechnen, der zur Zeit auf dem sich wieder einmal drehenden Generalmusikdirektoren-Karussell der Stuttgarter Staatsoper sitzt, von dem Dennis Russel Davis längst abgestiegen ist (er fährt derzeit auf anderen Karussells); während ersterer (verständlicherweise) in beiden Lexika fehlt, berücksichtigt das Dizionario letzteren selbstverständlich, während er im deutschen Lexikon fehlt. [sh] (zurück)

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