Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4

Vorspann zu 99-1/4-482 bis 99-1/4-497


Neue orthographische Wörterbücher
von Theodor Ickler

"Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Verlages in die staatliche Kompetenz zurückzuholen." (Karl BIOml, Mitglied des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie und der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, im Standard vom 31. Januar 1998).


Die sogenannte Rechtschreibreform empfiehlt sich als "klein" und "behutsam".[1] Dennoch ist sie eine Reform und keine Fortschreibung der bisherigen orthographischen Entwicklung, wie sie der Duden von Auflage zu Auflage nachvollzog. Ein äußerliches, aber beweiskräftiges Zeichen ist die Tatsache, daß auf einen Schlag alle orthographischen W"rterbücher sowie die anhängende Rechtschreibliteratur bis hin zu den Schulfibeln neu angeschafft werden müssen. Die scheinbar großzügig bemessene Übergangszeit von 1998 bis 2005 erwies sich nicht nur aus Gründen des Konkurrenzdrucks als wenig wirksam, sondern auch deshalb, weil die meisten Kultusminister auf der vorfristigen Einführung der Reform in den Schulunterricht bestanden - und dies war wiederum nur m"glich, weil die entsprechenden W"rterbücher bereits für den Sommer 1996, also zwei Jahre vor dem Stichtag, zugesichert waren und auch tatsächlich erschienen. Nach den Erfahrungen mit früheren Reformversuchen hatten sich die Reformbetreiber das Ziel gesetzt, m"glichst rasch so viele vollendete Tatsachen zu schaffen, daß die betroffene Bev"lkerung keine Gelegenheit zum Protest mehr haben würde. Das Zusammenspiel von Verlegern und Politikern funktionierte ausgezeichnet. Innerhalb weniger Monate wurden mehrere Millionen neue W"rterbücher verkauft. Im Jahre 1996 erlebte folglich der Dudenverlag den gr"ßten Umsatzsprung seiner Geschichte. Auch andere lexikographische Unternehmungen profitierten zunächst davon. Wirtschaftliche Motive spielten bei dieser Reform von Anfang an eine entscheidende Rolle, da es insgesamt um ein Milliardengeschäft geht.[2] Mehr als ein Dutzend Mitglieder des ehemaligen Reformarbeitskreises und die Mehrheit der neuen, dem Arbeitskreis in weitgehender Personalunion verbundenen Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission sind in die private Vermarktung der Reform verwickelt. Eine Korrektur oder Rücknahme der Reform hätte für einige wenige Unternehmen nachteilige Auswirkungen, während sie die Mehrzahl der anderen Verlage sowie die gesamte Wirtschaft und Verwaltung vor hohen Umstellungskosten bewahren würde. Die Schulbuchverleger geben große Summen für die Bekämpfung der Reformkritiker aus. Allein zur Beeinflussung des Volksentscheids in Schleswig-Holstein führten sie eine Kampagne durch, die nach eigenen Angaben 400.000 DM kostete. Nach dem Sieg der Reformkritiker und der Entlassung der verantwortlichen Kultusministerin verschenkte der Bertelsmann-Konzern im Verbund mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 10.000 Exemplare der Neuen deutschen Rechtschreibung an die schleswig-holsteinischen Schüler, um sie dennoch für die Reform zu gewinnen. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, daß die Bertelsmann-Rechtschreibung sich wegen ihrer mangelhaften Qualität kaum noch verkaufen ließ und ohnehin verramscht werden mußte. Der Verkauf von neuen W"rterbüchern aller Art stagniert aber auf breiter Front, weil die Unsicherheit angesichts der verfahrenen Lage auch ganz unbeteiligte Produkte in ihren Strudel reißt.

Daß die Neuregelung keine Zukunft hat, beweist nicht zuletzt der im Dezember 1998 gefaßte Beschluß der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen, eine von der amtlichen bewußt abweichende Neuschreibung einzuführen. Auch dies kann zwar wegen extremer Fehlerhaftigkeit des vorgelegten Entwurfs nicht gelingen, eine Rückkehr zur amtlichen Neuregelung scheint jedoch ebenfalls nicht mehr m"glich. Nur die bisherige, fast überall noch praktizierte Orthographie ist als bewährte und konsensfähige Einheitsschreibung geeignet. Übrigens hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14. Juli 1998 der Neuregelung eine bemerkenswert schlechte Akzeptanzprognose gestellt.

Weder aus politischer noch aus rein wirtschaftlicher Sicht konnte die Tatsache hinreichend gewürdigt werden, an der letzten Endes Erfolg und Mißerfolg der Reform sich entscheiden: Die Neuregelung ist von so schlechter fachlicher Qualität, daß sie im strengen Sinne gar nicht durchgeführt werden kann.[3] Seit die Rechtschreibkommission im Dezember 1997 selbst erklärt hat, die Reform sei in der gegenwärtigen Form nicht zu halten, wäre es ein kostspieliger Leichtsinn, irgendwelche neuen W"rterbücher, Schulbücher oder Kinderbücher anzuschaffen - es sei denn, um ein Sammlerinteresse an kuriosen Fehldrucken zu befriedigen.

In den W"rterbüchern werden die neuen Regeln teils richtig, teils falsch ausgelegt, mit Tausenden von Widersprüchen im einzelnen, die von vornherein fragen lassen, wie es um die Präzision der Neuregelung bestellt ist. Was ist von einer Reform zu halten, die Zweifel daran aufkommen läßt, wie ganz alltägliche W"rter, zum Beispiel wohlschmeckend, geschrieben werden? Wie ist es m"glich, daß mehrere W"rterbuchverfasser - erwachsene Sprecher der deutschen Sprache - ernsthaft glauben k"nnen, es heiße künftig ein Maschinen geschriebener Brief (Bertelsmann)? Die Nachrichtenagenturen wollen gemäß einer am 8. Februar 1999 von dpa verbreiteten Beispielliste folgendermaßen schreiben: Mode bewusst, Schluss folgern usw. Das sind zwar keine korrekten Auslegungen dessen, was die Reformer wollten, aber daß es zu derart grotesken Verst"ßen gegen grundlegende Baugesetze der deutschen Sprache kommen kann, liegt sehr wohl in ihrer Verantwortung. Denn sie waren es, die ebenso sprachwidrige Neuschreibungen (das nichts Sagendste, wie Recht du doch hast, am tief schürfendsten usw.) eingeführt haben, die nun in deutschen Schulen an Millionen Schüler weitergegeben werden.

Objektiv Unsinniges und Falsches "korrekt" in W"rterbüchern darzustellen ist von vornherein ein zweifelhaftes Unternehmen. Nur unter diesem allgemeinen Vorbehalt lohnt es sich, einen vergleichenden Blick auf die neuen W"rterbücher zu werfen.

Orthographische W"rterbücher im strengen Sinne sind in Deutschland sehr selten, da sich der maßstabsetzende Duden sehr bald zu einem eigenartigen Mischw"rterbuch entwickelt hat, das vielen anspruchslosen Benutzern zugleich als Bedeutungsw"rterbuch oder gar als Konversationslexikon dient. Im folgenden werden zunächst vier Werke vorgestellt, die sich bereits in der Titelei mehr oder weniger deutlich als Rechtschreibw"rterbücher ausweisen; auch sie füllen ihre Seiten aber mit zahlreichen Angaben zur Aussprache, Grammatik, Bedeutung und Stilistik und k"nnen daher als verkümmerte Universalw"rterbücher in der Dudentradition gelten. Es folgen einige W"rterbücher, die tatsächlich jedes Wort erklären und die Rechtschreibung nur beiläufig dokumentieren. Auch sie sind jedoch gezwungen, die neuen Regeln zu interpretieren, und tun dies in aufschlußreicher Weise. Abschließend wird die neueste Phase der Rechtschreibdiskussion anhand des Duden-Praxisw"rterbuchs, des ersten rein orthographischen Nachschlagwerks sowie einer Neuberarbeitung von Bertelsmann-Wahrig dargestellt.


[1]
Mit verblüffend ähnlichen Worten wurde 1944 die Rechtschreibreform des Reichserziehungsministers Rust vorgestellt: "Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt." usw. (Dortmunder NS-Zeitung vom 28.6.1944). "Klein" und "behutsam" ist eine Reform offenbar dann, wenn sie auf die Einführung der Substantivkleinschreibung verzichtet. (zurück)
[2]
So der Geschäftsführer des Verbandes der Schulbuchverlage in der Zeit vom 7.8.1997 (Teure Ignoranz). (zurück)
[3]
Der genaue Nachweis wird in folgender Publikation geführt: Kritischer Kommentar zur "Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" : mit einem Anhang zur "Mannheimer Anh"rung" / Theodor Ickler. - 2., durchges. und erw. Aufl. - Erlangen ; Jena : Palm und Enke, 1999. - 289 S. ; 21 cm. - (Erlanger Studien ; 116). - ISBN 3-7896-0992-7 : DM 29.00. - Vgl. auch: Die sogenannte Rechtschreibreform : ein Schildbürgerstreich / Theodor Ickler. - 2. Aufl. - St. Goar : Leibniz-Verlag, 1997. - 207 S. ; 21 cm. - ISBN 3-931155-09-9 : DM 19.80. (zurück)

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