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96-1-126

Rezensionen von Nachschlagewerken in amerikanischen Bibliothekszeitschriften : eine Nachbemerkung aus deutscher Sicht

von

Klaus Schreiber

Es gibt keine Nation in der mehr Nachschlagewerke produziert werden als in den USA und es gibt auch kein anderes Land, in dem den Nachschlagewerken ebenso große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die beachtliche Zahl von Bibliothekszeitschriften, die ausschließlich oder in größerer Zahl Rezensionen von Nachschlagewerken veröffentlichen, stellt allerdings nicht allein eine Antwort auf die große Zahl von Neuerscheinungen dar, sondern erklärt sich aus dem hohen Stellenwert, den unsere amerikanischen Kollegen den reference books als Gattung zubilligen; dieser leitet sich wiederum von dem ebenso hohen Stellenwert und der Qualität der bibliothekarischen Auskunft her. Daß reference books im Bewußtsein der amerikanischen Bibliothekare eine eigene Literaturgattung darstellen, zeigt schon die Gliederung der Rezensionen in Choice oder im Library journal: obwohl beide nach Fachgruppen gliedern, steht in beiden Fällen die Gruppe Reference (books) voran, in der sowohl allgemeine als auch fachliche Nachschlagewerke besprochen werden, ohne daß dann in den weiteren Fachgruppen auf einschlägige Titel verwiesen würde. Das bedeutet, daß ein Fachreferent z.B. für Kunst immer auch im allgemeinen Abschnitt nachschauen muß, in dem die Nachschlagewerke zur Kunst jedoch nicht beisammen stehen, sondern rein alphabetisch unter die allgemeinen und die der anderen Fächer gemischt sind. Diese Anordnung geschieht ganz sicherlich in Hinblick auf den reference librarian, der in dieser Rubrik alle für die Auskunftserteilung nützlichen Werke an einer Stelle versammelt findet.

Mit dem hohen Stellenwert von reference service und reference books ist auch das Erscheinen von Spezialzeitschriften zu diesen Bereichen zu erklären, nämlich RQ, Reference services review und The reference librarian, die alle drei für den Zeitschrifteninhaltsdienst von IFB berücksichtigt werden. Während erstere sowohl Rezensionen als auch Aufsätze und die zweite Aufsätze und Komplexrezensionen veröffentlicht, enthält letztere keine Rezensionen. Aufsätze zum reference service und über reference books finden sich aber keineswegs nur in diesen beiden Spezialzeitschriften. Es erscheinen auch immer wieder Aufsätze, in denen amerikanische Bibliothekare so ziemlich alles untersuchen, was man über reference books und natürlich auch über das Rezensionswesen in diesem Bereich untersuchen kann. Auch wenn dabei gelegentlich mit großem Aufwand an Befragungen eher triviale Erkenntnisse zutage gefördert werden, enthalten diese Aufsätze genügend interessante Ergebnisse, als daß man sie hierzulande völlig außer acht lassen könnte. Und selbst wenn das allermeiste nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann, könnten sie methodische Anregungen vermitteln, gewisse Phänomene im Bereich der Nachschlagewerke aus deutscher Sicht und unter Berücksichtigung der hiesigen Verhältnisse zu untersuchen: hier lägen nicht wenige Themen bereit, deren sich die Studenten unserer bibliothekarischen Ausbildungsstätten annehmen könnten.

Daß amerikanische Bibliothekszeitschriften über hauptamtliches Personal verfügen, ist dort ebenso selbstverständlich, wie es hierzulande bei den Zeitschriften zumindest für das wissenschaftliche Bibliothekswesen unbekannt ist. Beachtlich ist auch das große Heer an Rezensenten, das amerikanische Bibliothekszeitschriften mobilisieren können.

Betrachtet man die Auflagenhöhe der amerikanischen Bibliothekszeitschriften, so ermißt man zugleich die Größe des Marktes, der amerikanischen Verlegern von Nachschlagewerken offensteht und der Auflagen ermöglicht, von denen selbst international tätige Verlage in Deutschland nur träumen können. Das ist auch ein Grund dafür, daß viele amerikanische Verlage wenig oder gar kein Interesse daran haben, ob ihre Nachschlagewerke in ausländischen Zeitschriften besprochen werden.

Die Existenz einer symbiotischen Verbindung von Verlagen und Rezensionswesen manifestiert sich in den meisten amerikanischen Bibliothekszeitschriften. Die Verlagsanzeigen in Choice und im Library journal nehmen beträchtlichen Raum ein und sie sind häufig strategisch günstig in der Nähe der jeweiligen Rubriken plaziert. Von besonderer Bedeutung für einen Verlag ist sicherlich, wenn er mit möglichst vielen Titeln auf den "Bestenlisten" vertreten ist. So erscheinen dann - noch im selben Heft, in dem die Bestenliste abgedruckt wird - entsprechende Anzeigen, in denen die Verlage mit ihren z.B. von Choice in der Liste Outstandig academic books herausgestellten Titeln werben.

"Verrisse" finden sich ausgesprochen selten, das Urteil not recommended begegnet dagegen schon öfter, recommended oder gar highly recommended ist eher die Regel. Vermutlich machen sich die Verlage auch nichts daraus, wenn sie im Programm ein paar Titel haben, die mit not recommended bewertet werden, da die negativen Folgen für den Absatz sicher auch nicht gravierender sein werden, als bei einem Verriß hierzulande (wo die Bibliothekare entweder bereits gekauft haben, oder am Jahresende, wenn Geld auszugeben ist und der Verleger dem Bibliotheksdirektor persönlich aufwartet, eine negative Rezension längst vergessen ist).

Auffällig ist ferner, daß sich das amerikanische Rezensionswesen, soweit die Bibliothekszeitschriften betroffen sind, so gut wie ausschließlich auf englischsprachige Titel beschränkt und dazu auch noch auf solche, die in den USA vertrieben werden. Das kann man natürlich auch damit erklären, daß es kaum etwas gibt, für das nicht auch ein englischsprachiges Nachschlagewerk existiert, das vermutlich auch besser auf die Bedürfnisse der amerikanischen Benutzer und ihre Mentalität eingeht. Dahinter steht die sicher auch nicht unbegründete Überlegung, daß die Spezialisten, die auch nicht-englischsprachige Nachschlagewerke zu benutzen wissen, andere Möglichkeiten haben, sich über deren Existenz zu informieren. Daß es eine Elite fremdsprachenkundiger Bibliothekare in den USA gibt, die die europäischen Neuerscheinungen bestens kennen, zeigt der hierzulande völlig unbekannte WESS newsletter, der zwar keine Rezensionen, sondern nur Kurzhinweise auf Neuerscheinungen fremdsprachiger Nachschlagewerke bringt, unter denen auch der Verfasser dieser Zeilen immer wieder Titel entdeckt, die ihm bisher entgangen waren. Mit dem Interesse dieser relativ kleinen Gruppe von Bibliothekaren an zusätzlichen kritischen Informationen über europäische Nachschlagewerke ist es zu erklären, daß innerhalb kürzester Frist die IFB Abstracts ins Leben gerufen werden konnten, die die Rezensionen überwiegend von nicht-englischsprachigen Nachschlagewerken aus IFB laufend, aktuell und insgesamt sehr kompetent in englischsprachigen Abstracts für englischsprachige Benutzer zugänglich machen. Auch dabei war es für hiesige Verhältnisse atemberaubend zu sehen, wie schnell ein großer Kreis von Mitarbeitern nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien rekrutiert werden konnte. Dieses Projekt hat inzwischen so viel Anklang gefunden und Eigendynamik entwickelt, daß es konkrete Pläne gibt, es in erweiterter Form unter dem Titel Reference Reviews Europe / IFB Abstracts in gedruckter Form zu publizieren und dabei auch unabhängig von IFB weitere Nachschlagewerke aus europäischen Verlagen in eigenständigen Rezensionen vorzustellen.

Eine erfreuliche Ausnahme von der in den amerikanischen Zeitschriften anzutreffenden Blindheit für alle nicht-englischsprachigen Nachschlagewerke macht der Guide to reference books, der eine breite Auswahl fachlicher Nachschlagewerke in anderen als der englischen Sprache berücksichtigt (und dafür auch schon Prügel von manchen amerikanischen Bibliothekaren bezogen hat, die meinen, man könne auf alle diese Titel, die doch keiner lesen kann, verzichten). Eine noch adäquatere und vor allem raschere Berücksichtigung ausländischer, nicht-englischsprachiger Titel im Guide to reference books wäre durchaus erwünscht[1] und müßte sich z.B. mit Hilfe von IFB Abstracts auch bewerkstelligen lassen. In dieser Hinsicht ist der Guide to reference books auch seinem britischen Gegenstück, dem Guide to reference material überlegen, von der Solidität der Verzeichnung und Annotierung ganz zu schweigen, Bereichen, in der sich das amerikanische Werk erfreulich von der Schlampigkeit des britischen abhebt.

Einer besonderen Erwähnung bedarf American reference books annual,[2] mit dem sich weltweit nichts vergleichen läßt, auch nicht - zumindest bisher - das britische Jahrbuch The year in reference.[3] ARBA verzeichnet seit nunmehr einem Viertel Jahrhundert möglichst vollständig die Jahresproduktion amerikanischer Verlage an Nachschlagewerken unter Einschluß der in den USA ausgelieferten Werke ausländischer Verlage (darunter sind dann ganz gelegentlich auch nicht-englischsprachige Titel). Selbst wenn die Qualität der insgesamt eher kurzen Rezensionen nicht selten zu wünschen übrig läßt, hat man die Gewähr, hier so gut wie alle Nachschlagewerke aus den USA zu finden. Selbst wenn ein erheblicher Teil dieser Werke keineswegs für alle amerikanischen Bibliotheken von Interesse ist, von den ausländischen Bibliotheken ganz zu schweigen, ist die jährliche Durchsicht des gewichtigen Bandes ein Muß für jeden Bibliothekar hierzulande, wenn er sicher sein will, kein wichtiges Nachschlagewerk verpaßt zu haben. Von diesem Unternehmen geht seit jeher eine starke Faszination auf den Verfasser dieser Zeilen aus, ohne daß er eine realistische Möglichkeit sieht, unter den obwaltenden Verhältnissen hierzulande ein entsprechendes Jahrbuch für die Nachschlagewerke der deutschsprachigen Länder auf den Weg zu bringen, das bei weitem nützlicher wäre, als die einer veralteten Konzeption verpflichtete Bibliographie der Bibliographien[4] unserer Nationalbibliothek.


[1]
Auf entsprechende Defizite soll in der Rezension der neuesten, 11. Auflage eingegangen werden, die Anfang April beim Rezensenten einging:
Guide to reference books. - 11. ed. / ed. by Robert Balay. - Chicago ; London : American Library Association, 1996. - XXVII, 2020 S. ; 29 cm. - ISBN 0-8389-0669-9 : $ 275.00 [3307]. (zurück)
[2]
ABUN in ZfBB 25 (1978),1, S. 49 - 50. (zurück)
[3]
IFB 94-3/4-337. (zurück)
[4]
IFB 93-3/4-120. (zurück)

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