Aber das ist letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist vielmehr, was den Parlaments- wie den Landesgeschichtlern, den Allgemein- wie den Sozialhistorikern an Daten und Fakten in die Hand gegeben wird. Und das ist - wie gesagt - beeindruckend und reicht von der erstmaligen Erarbeitung von Kurzlebensläufen "durchschnittlicher" oder unbedeutenderer Parlamentarier bis zu "kleinen" Korrekturen und meist wichtigen Ergänzungen in den Viten von Großen der politischen Geschichte, die auch einmal eine zeitlang Mitglied der sächsischen II. Kammer waren; und sei es auch nur, daß z.B. über die Angaben in der Kurzbiographie August Bebels und anderswo im neuen Band enthaltene Daten nun relativ leicht ermittelbar ist, von wann bis wann - tagesgenau - der spätere Führer der deutschen Sozialdemokratie Mitglied im sächsischen Landtag war.
Das Zentrale des neuen Handbuchs soll den Blick nicht verstellen auf die vielen "Extras", die der Band enthält. Das gilt zuerst für die fundierte Einleitung, mit der Wolfgang Schröder eine konzentrierte sächsische Landtagsgeschichte der Jahre 1869 bis 1918 vorlegt. Das gilt weiter für das umfassende und hilfreiche Literaturverzeichnis und - in besonderer Weise - auch für das Verzeichnis der Photographen. Allein dieses Register verdiente eine Besprechung für die Photographie-Geschichtler, die es ja auch gibt, wenigstens aber einen Hinweis in Zeitschriften, die sich der Photographie-Geschichte widmen. Letztlich bieten Elvira Döscher und Wolfgang Schröder ausgezeichnete Personen-, Firmen- und Ortsregister, die die Vernetzung mit anderen prosopographischen und wirtschafts- und ortsgeschichtlichen Werken ermöglichen. Also Hilfen für weitergehende Forschungen und erarbeitete Voraussetzungen für wertende Beurteilungen en masse. Man kann nur hoffen, daß die "Großhistoriker" zur Kenntnis nehmen, was hier - wie auch schon in den anderen prosopographischen Werken zur Parlementsgeschichte in den letzten Jahrzehnten, v.a. in den Büchern von Haunfelder - geboten wurde und nun neu für Sachsen geboten wird.
Gleichwohl: es bedarf einiger kritischer Anmerkungen, die aber nicht
zuerst die Bearbeiter, sondern die "Reihenverantwortlichen" betreffen.
Es ist einfach zu bedauern, daß in der Verantwortung einer Kommission
historische Parlamentshandbücher in verschiedenen Reihen[4] eines
"Programmverantwortlichen" erscheinen und auch immer wieder in
unterschiedlichen Bezugsrahmen stehen. Einmal als Handbücher zur
Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, dann als
Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen
Parteien; und letztere enthalten dann - gut - auch Kompilationen von
Kurzbiographien, die meist selbst wieder als Handbuch bezeichnet
werden. Dann: einmal Werke für die Zeit ab 1867 (diese meist bis
1918), dann ab 1871 (bis 1918 oder auch bis 1933) und nun ab 1869
(hier nun "nur" bis 1918). Schließlich: einmal an dem jeweiligen
Verfassungsorgan (Reichstag, Landtage), dann an den Parteien in einem
Verfassungsorgan (Zentrum im Reichstag) oder schließlich auch an den
Parteien in Verfassungsorganen des Reiches und der Länder
"aufgehängte" Werke. Man kann alles finden, aber die Editionspolitik
erweist sich als Sieg der Unübersichtlichkeit. Warum werden nicht alle
derartigen Werke als "Biographische Handbücher" bezeichnet und in eine
Reihe gestellt, der dann - je nach Quellenlage - die großartigen
Photosammlungen bei- oder angefügt werden? Der Aufbau der
Kurzbiographien wurde angesprochen. Warum gibt es nicht als Vorgabe
für die Bearbeiter von einer so kräftigen Kommission wie der unter dem
Vorsitz Gerhard A. Ritters ein Schema zum Aufbau der Viten, das
wirkliche Vergleichbarkeit erlaubt?
Schließlich zwei Anmerkungen aus der eigenen Erfahrung des Rezensenten
als Bearbeiter derartiger Publikationen:
Erstens: Es wurde oben gesagt, die tagesgenaue Dauer der
Mitgliedschaft August Bebels in der II. sächsischen Kammer, auf die es
in irgendeinem Forschungsfall ankommen kann, sei nur relativ leicht zu
ermitteln. Warum nur relativ leicht? Bei seiner Vita auf S. 344 findet
sich nur das Datum des vorzeitigen Endes der Mitgliedschaft wegen
Mandatsniederlegung; den Beginn der Mitgliedschaft muß man umständlich
auf S. 182 im Kapitel Die Landtage 1869-1918: Tagungszeiten und
Wahltermine suchen. Selbst wenn es Papier kostet, wäre es richtig, bei
jedem Abgeordneten möglichst genau Beginn und Ende der
Parlamentsmitgliedschaft zu verzeichnen - eben um umständliche Suche
an anderen Orten zu vermeiden.
Zweitens: Es kann nicht dringend genug geraten werden, allen
biographischen, sich auf ein Verfassungsorgan beziehenden
Parlamentshandbüchern Übersichten über alle Wahlperioden bzw. - falls
erforderlich - (in der älteren Terminologie) "Landtage" mit Angaben
über die Mitglieder und andere "harte Fakten" (Amtsträger,
Sitzungsperioden, Protokolle u.ä.) voranzustellen. Nur das verhindert,
daß einzelne Abgeordnete, die vielleicht nur wenige Tage nach
Nachwahlen im betreffenden Parlament Einsitz genommen haben
"vergessen" werden und erlaubt Vergleiche darüber, wer mit wem wann
gemeinsam unter welchem Vorsitz in einem Parlament saß und handelte,
und gibt am Ort/im Jahr, für das man sucht, das leichte Auffinden der
Quellen (Protokolle, Stenographische Berichte). Dabei handelt es sich
nicht um eine "Marotte" des Rezensenten; die Erkenntnis von der
Wichtigkeit dieser - zugegebenermaßen platzraubenden - Übersichten
wurde aus den ersten bedeutenden derartigen Werken, den in vielen
Auflagen (zeitweise alle zehn Jahre) vorgelegten Biographical
directory of the United States Congress, 1774 - ...,[5] gewonnen, in
denen diese Teile etwa immer ein Viertel des gesamten Buchumfanges
ausmachen, aber die Benutzbarkeit für den, der derartige
"Knochengerüste" bisher nicht kannte, unglaublich erleichtert.
Diese Bemerkungen mögen eines nicht verstellen: den Blick darauf, daß
der Rezensent sich riesig über die Arbeit von Elvira Döscher und
Wolfgang Schröder freut, sie wichtig und - so wie sie nun einmal
angelegt war - gut gelungen und hilfreich und dazu nicht nur reich
bebildert, sondern auch buchkünstlerisch mehr als nur ordentlich
gemacht, nämlich gut und schön findet.
Jochen Lengemann
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