Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
[ Bestand in K10plus ]

Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart


01-2-453
Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart : Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945 / hrsg. von Ralf Schnell. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000. - VI, 565 S. ; 24 cm. - ISBN 3-476-01622-6 : DM 58.00
[6236]

Wer kann das alles schon so genau definieren, was Gegenwart, was Wirklichkeit ist, kurz all das, wovon dieses Lexikon handeln soll. So nimmt der Herausgeber Zuflucht zur geballten Metaphorik aus Architektur, Stadtplanung und Geodäsie: "Das Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart unternimmt den Versuch, sich den 'neuen Typen', den Phänomenen unserer Gegenwartskultur zuzuwenden, das 'Gewinkel' ihrer 'neuen Häuser' zu erschließen, die 'Zubauten', die sie erfahren hat, die 'neuen Vororte' mit ihren Gebäuden und Straßen, welche die Kartographen der Kulturgeschichte und der Kulturtheorie bislang noch kaum vermessen haben" (S. V). Einmal ganz abgesehen davon, daß die Kartographen nicht das Geschäft der Geodäten betreiben, das klingt ja alles zugleich neckisch und bombastisch - aber was steckt dahinter. Um es vorwegzunehmen: viel, viel heiße Luft!

Da gibt es einen Eintrag Stiftung, unter dem auf den Artikel Kulturstiftung verwiesen wird. Eine der ersten Informationen dort lautet, 1999 seien von 8000 Stiftungen "lediglich 11 % der Kultur verpflichtet" gewesen; en passant erfährt man, daß die "Kulturstiftung der Länder" Ankäufe "wertvoller Kunstwerke für deutsche Museen" ermögliche, nichts aber über die Breite ihrer sonstigen Aufgaben z.B. im Bereich der Bibliotheken und Archive: nur exemplarisch sei hingewiesen auf die Förderung des Erwerbs des Ernst-Jünger-Archivs, auf die Unterstützung des Ankaufs der Nachlässe von Alfred Döblin sowie von Heiner und Inge Müller, auf die zahlreichen Fundraising-Broschüren (etwa für das Gerhart-Hauptmann-Haus in Kloster auf Hiddensee). Kein Wort zu lesen schließlich über die zahlreichen Fördermaßnahmen gemäß dem sog. Mitwirkungsabkommen, die etwa Ausstellungen wie der documenta oder Einrichtungen wie den Franckeschen Stiftungen zu Halle, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem Deutschen Literaturfonds e.V., der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften, den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen usw. usf. zugute kommen.

Ein anderes Beispiel: Da gibt es einen - noch dazu angesichts des knappen Raums - recht informativen Artikel zur Zensur. Doch bei den - ohnehin immer recht kurz gehaltenen - Literaturangaben fehlt ausgerechnet der überaus informative Katalog zur Wolfenbütteler Zensur-Ausstellung,[1] handelt sich doch um einen Panoramablick auf das Phänomen, der nicht etwa - wie man angesichts der herausgebenden Institution denken könnte - auf die Frühe Neuzeit beschränkt ist. So werden dort etwa aus so kundigen Federn wie denjenigen von Hartmut Walravens, Heddy Pross-Werth, Wilém Precan und Helgard Sauer behandelt: das Exil nach 1945, Samisdat in Rußland, Unabhängige Literatur und Samizdat in der Tschechoslowakei der 70er und 80er Jahre und Unerwünschte Drucke in der DDR. Das Stichwort DDR kommt im Text des Artikels Zensur nicht einmal vor; dennoch ist die DDR nicht vergessen worden, so als hätte es dort keine Zensur gegeben. Man muß sich nur ein wenig hineinversetzen in die wahrscheinliche Entstehungsgeschichte des Buches, und wer das tut, der sucht dann die DDR-Zensur gar nicht unter Zensur, sondern gleich unter Staatssicherheit. Ein Tütchen Verweisungen bei der Schlußredaktion - hat's eine gegeben? - hätte hier und in anderen ähnlichen Fällen geholfen. Keine Nachsicht aber verdient, wenn bei den Literaturangaben zum Artikel Staatssicherheit der fast 900 Seiten umfassende Band von Joachim Walther[2] nicht genannt wird; da vergeht auch dem begabtesten Spötter der Spaß.

Für's Rezensieren braucht man zwar gelegentlich eine Wünschelrute, etwa um wie hier von Zensur auf Staatssicherheit zu kommen, für's Büchermachen aber genügt offensichtlich zuweilen vor allem eines, nämlich eine heiße Nadel.[3]

Da weiß man nicht, ob man schmunzeln oder bedauern soll, daß sich der sach- und sprachkundige Verfasser des Artikels Konzert - nur eben eine Spalte hat er zur Verfügung gehabt, während der zum Föderalismus doppelt so lang ist - notgedrungen nur noch elegant aus der Affäre ziehen kann, indem er zu Ironie und Flapsigkeit seine Zuflucht nimmt und feststellt, "auch Stars der Klassikszene wie die von der Schallplattenindustrie gepuschte [sic!] Geigerin A.-S. Mutter oder die Sängerin C. Bartoli [besäßen] längst Kultcharakter" (S. 260). Dabei hat die Sopranistin sich in Gestalt des Engagements, mit dem sie in ihrer Heimat an den auch dort allüberall vergessenen Metastasio erinnert, einer ganz und gar unspektakulären, aber um so wichtigeren kulturellen Aufgabe verschrieben.

Durchaus kein unentbehrliches Buch, weder für den Privatmann noch für die Bibliotheken! Aber eines, das auf Gedanken bringen könnte, z.B. auf den folgenden: Sollte doch etwas dran sein an dem meist hinter vorgehaltener Hand geäußerten Verdacht, daß der in unseren Universitäten modisch gewordene Schwenk zur Kulturwissenschaft etwas mit der Suche nach dünnen Brettchen zu tun hat, die sich leicht bohren lassen - für Lehrende und Lernende, deren gemeinsames Bemühen um denselben Gegenstand einem alten Humboldtschen Gerücht zufolge die Universität ausmacht?

Hans-Albrecht Koch


[1]
Der Zensur zum Trotz : das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa / [Ausstellung und Katalog: Paul Raabe mit Beiträgen von Hellmut G. Haasis ...]. - Weinheim : VCH, Acta Humaniora, 1991. - IX, 317 S. : zahlr. Ill., Kt. - (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek ; 64). (zurück)
[2]
Sicherungsbereich Literatur : Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik / Joachim Walther. - 1. Aufl. - Berlin : Links, 1996. - 888 S. - (Analysen und Dokumente : wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ; 6). - ISBN 3-86153-121-6 : DM 68.00. - Jetzt auch als durchges. Aufl. - Berlin : Ullstein, 1999. - 1054 S. - (Ullstein-Buch ; 26553 : Propyläen-Taschenbuch). - ISBN 3-548-26553-7 : DM 34.90. (zurück)
[3]
Vgl. etwa DUDEN, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache : in 8 Bänden (Bd. 5. 1994, S. 2350): "mit heißer/mit einer heißen Nadel genäht sein (ugs.; ... 2. hastig und darum unsorgfältig ausgeführt sein". (zurück)

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