Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
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Moderne Mediävistik


01-2-449
Moderne Mediävistik : Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung / Hans-Werner Goetz. - Darmstadt : Primus-Verlag, 1999. - IV, 412 S. ; 22 cm. - ISBN 3-89678-122-7 : DM 98.00[1]
[6296]

Plädoyer für eine "moderne Mediävistik", "Rechtfertigung" der Relevanz von mittelalterlicher Geschichte, Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft oder gar Bestandsaufnahme des gesamten Faches - was will und was kann der anzuzeigende Band sein? Der Autor selbst, Lehrstuhlinhaber für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg, schraubt die Ansprüche bewußt herunter, wenn er den Band nicht als Forschungsbericht verstanden wissen will, wenn "keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit" (S. 381) erhoben wird (wer könnte solches leisten?). Die inhaltliche, methodische und institutionelle Situation der derzeitigen mediävistischen Geschichtswissenschaft wird zwar nicht in allen ihren Facetten, wohl aber exemplarisch in ihren wichtigsten Richtungen und Strukturen dargestellt.

In einem ersten Teil kommen die Aufgaben, die Entwicklung und der heutige Stand der Mediävistik zur Sprache (S. 23 - 149). Hier bietet der Band einen Überblick über den Stellenwert des Faches in der Gesellschaft, setzt sich mit dem Begriff Mittelalter und der Frage nach der Periodisierung, nach den Epochengrenzen auseinander. Weitere Gegenstände sind Mittelalterbild und Mittelalterforschung sowie ein Abriß der Geschichte des Faches bis zur Gegenwart. Dazu gehört auch eine verdienstvolle Skizze der deutschen und ausgewählter ausländischer Institutionen der Mittelalterforschung innerhalb und außerhalb der Universitäten, wobei allerdings wichtige Einrichtungen wie die DFG-geförderten Sonderforschungsbereiche gar nicht erwähnt werden (Näheres über die Arbeit zweier geisteswissenschaftlicher Sonderforschungsbereiche erfährt man stattdessen in den Kapiteln über Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Zeichenhaftigkeit, S. 339 - 370).

Ein zweiter Teil befaßt sich mit neuen Ansätzen, Themen und Methoden des Faches bzw. der Fächer (S. 153 - 379). Einzelne Lücken in der Darstellung oder bei der erwähnten Literatur zu beklagen, scheint angesichts der oben angesprochenen Anlage wenig hilfreich. Sicherlich könnten zentrale Bereiche wie derjenige der Historischen Hilfswissenschaften und Quellenkunde (S. 153 - 173) auf mehr als knapp zwanzig Seiten angemessener behandelt werden. Die Lücken gerade in diesem Bereich, in dem z.B. das gesamte Feld der historischen Bildkunde nur gestreift wird und neue Hilfswissenschaften weitgehend fehlen, zeigen eben auch den Stellenwert dieser klassischen Arbeitsbereiche in der "modernen Mediävistik". An dem umfangreichen und anspruchsvollen Teil des Werkes haben neben Goetz auch die Hamburger Historikerin Hedwig Röckelein (über Psychohistorie und Mediävistik, S. 288 - 299) sowie sechs Teilnehmer eines von Goetz veranstalteten Oberseminars mitgewirkt, die jeweils namentlich gezeichnete Beiträge - etwa zu inhaltlichen Fragen (Konflikte als Thema in der modernen Mediävistik von Steffen Patzold, S. 198 - 205, Schenken als historisches Phänomen von Lorenz Sebastian Benkmann, S. 206 - 212, Heiligenverehrung und Politik im Spiegel aktueller Forschungsinteressen von Jan-Marco Sawilla, S. 218 - 224) - beisteuerten. Auch zu den Abschnitten über Fragen der historischen Anthropologie und der Mediävistik als "Historische Kulturwissenschaft" haben die Seminarteilnehmer (Anja Romeikat: Hat Alltagsgeschichte Zukunft?, S. 310 - 318, Markus Späth: Neue Impulse für die consuetudines-Forschung?, S. 344 - 349 und Elke Petter: Die methodischen Zugriffe auf die Mündlichkeit im Mittelalter, S. 353 - 359) beigetragen. Besonders erfreulich dabei: Ihre Kapitel fallen gegenüber den restlichen Teilen weder sprachlich noch inhaltlich ab und bilden keine Fremdkörper in dem durchweg flüssig geschriebenen Band.

Den Abschluß des zweiten Teils bildet eine Schilderung der Kontroverse um Johannes Frieds Der Weg in die Geschichte;[2] hier werden die Positionen der streitenden Fachkollegen dargestellt ohne einseitig Partei zu ergreifen. An der Auseinandersetzung um Frieds unkonventionell verfaßten Band zeigt Goetz veränderte Geschichtssichten und damit verbundene neue Formen der wissenschaftlichen Darstellung. Schließlich versucht Goetz in einer conclusio (S. 380 - 389) die Frage zu beantworten: "quo vadis, Mediaevista?" Die dabei zusammengetragenen Kennzeichen heutiger Mediävistik sind unter anderem das Durchbrechen methodischer Grenzen, die Vielfalt der Themen und Ausrichtungen, das gesteigerte Problembewußtsein z.B. hinsichtlich der Multikausalität historischer Prozesse. Zu Recht begreift Goetz die heutige Aktualität des Mittelalters, die "anthropologischen Vergleichbarkeiten" und "Gegenwartsbezüge" (S. 388) als Chance, das neue Mittelalterbild, die moderne Mediävistik offensiv zu vertreten. Noch wichtiger - auch über das Fach hinaus - dürfte allerdings die von ihm ebenfalls angesprochene Möglichkeit sein, im Anderssein, im Fremden, in der Alterität des Mittelalters Denkmodelle für den Vergleich mit Phänomenen der Gegenwart zu entdecken.

Das durch zuverlässige Sach- und Personenregister erschlossene Werk vermittelt einen vertieften Einblick in die Geschichte und vor allem in den heutigen Stand der historischen Mittelalterforschung.[3] Angesichts der Vielgestaltigkeit und Unüberschaubarkeit des behandelten Themenkomplexes darf der Band als wichtige Orientierungshilfe in erster Linie für Studierende und Universitätsangehörige (auch aus den benachbarten Fächern) gelten. Der Band sollte in historisch orientierten Spezialbibliotheken ebenso wie in Universitäts- und in entsprechenden Fachbereichsbibliotheken vorhanden sein; es liegt nahe, an eine gestaffelte Aufnahme in Lehrbuchsammlungen zu denken.

Johannes Mangei


[1]
Für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt Best.-Nr. B 14121-0 : DM 78.00. (zurück)
[2]
Der Weg in die Geschichte : die Ursprünge Deutschlands bis 1024 / Johannes Fried. - Berlin : Propyläen-Verlag, 1994. - (Propyläen-Geschichte Deutschlands ; 1). - ISBN 3-549-05811-X. (zurück)
[3]
Im Herbst 2001 fand in Paderborn eine Tagung zum Thema Mediävistik im einundzwanzigsten Jahrhundert statt, deren Untertitel Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung in Anlehnung an das hier besprochene Werk formuliert war. Vgl. den Konferenzbericht u.d.T. Harmlose Querfachlichkeit / Jan Rüdiger. // In: Frankfurter Allgemeine. - 2001-10-31, S. N 6. [sh] (zurück)

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