Das vorliegende Handbuch hat zwei umfangreiche Bände, großes Lexikonformat, der Text beider Bände entspricht 1700 DIN-A-4-Seiten. Man fragt sich, ob der neue Schulverlag Drofa nicht einen Umfang gewählt hat, der das Material für ein Unterrichtsfach erheblich übersteigt. Der Untertitel "Nachschlagewerk" scheint solche Bedenken zu senken, haben doch jeder Lehrende und Lernende besondere Vorlieben. Jedoch ein kurzer Blick in das Inhaltsverzeichnis verstärkt die Bedenken: Die im Untertitel genannten 11 Autoren für den ersten Band und 13 für den zweiten geben den vollständigen Bestand der erfaßten Schriftsteller wieder. Zwar dürften für den Schulbetrieb 24 Autoren ausreichen, nicht aber als Hilfe beim Universitätsstudium.
Die Auswahl der in ein Lexikon einzubeziehenden Schriftsteller ist immer ein etwas strittiges Problem. Die Entscheidung für den Band zum 19. Jahrhundert überzeugt weitgehend. Nur auf Nikolaj Leskov hätte man nicht verzichten dürfen, eher auf Nikolaj Nekrasov. Auch das Fehlen des wichtigsten Dramatikers Aleksandr Ostrovskij und des Satirikers Michail Saltykov-Scedrin ist schwer zu vertreten. Die Auswahl für den Band zum 20. Jahrhundert ist problematisch. Gut ist die Einbeziehung der Emigranten Ivan Bunin, Ivan Smelev und Evgenij Zamjatin, sie zeigt eine politisch nicht der Vergangenheit verhaftete Haltung. Vor 1985 hätte man Emigranten und einen Regimekritiker wie Boris Pasternak nicht in einen Kreis von 13 führenden Autoren einbezogen. Selbstverständlich ist es richtig, daß Anna Achmatova, Aleksandr Blok, Marina Cvetaeva, Sergej Esenin, Vladimir Majakovskij und Andrej Platonov aufgenommen sind. Doch zweifelhaft ist die Einbeziehung von Michail Solochov, da dessen Autorschaft am Stillen Don keineswegs unumstritten ist und er außer diesem, auf Wunsch der Partei zunehmend verfälschten Werk nichts Nennenswertes vorgelegt hat. Aleksander Tvardovskij wären auch viele andere vorzuziehen gewesen. Über ihn und seine großen Verdienste als Herausgeber von Novyj mir hat Vladislav A. Zajcev als langjähriger Spezialist für die Sowjetlyrik gut geschrieben. Aber es gibt zahlreiche wichtigere Schriftsteller. So fehlt der in der Welt wohl bekannteste Autor des 20. Jahrhunderts Aleksandr Solzenicyn, dessen Werke der russischen Literatur wesentliche neue Impulse gaben (Dorfliteratur, Lagerwahrheit). Auch ein weiterer Nobelpreisträger, Iosif Brodskij, ist nicht berücksichtigt worden. Es fehlen weltberühmte Autoren wie Michail Bulgakov, Vladimir Nabokov, Konstantin Paustovskij oder Michail Zoscenko. Kein einziger Dramatiker ist vertreten, da hätte man gut Viktor Rozov wählen können, der seit Beginn des "Tauwetters" die Wahrheit in einem politisch mutigen und menschlich wesentlichen Ausmaß auf die Bühne brachte und damals der meistgespielte Dramatiker war. Vielleicht war es ein Prinzip, keine Lebenden aufzunehmen. Sollte das der Grund gewesen sein, war er falsch.
Die politische Haltung scheint frei vom Ungeist der sowjetischen Vergangenheit zu sein. Darin liegt wohl das Hauptverdienst der Herausgeberin.
Die einzelnen umfangreichen Beiträge sind meist auf die Biographien konzentriert. Natürlich kann der Fachmann bei solchen Überblicken und Einführungen kaum Neues erwarten, aber die Lektüre wird durch weniger bekannte Einzelheiten oder Akzentsetzungen zum Gewinn. So geht T. Sotnikova auch auf Anton Cechovs Tätigkeit als Arzt ein, betont, daß er sein Leben lang dafür keine Honorar nahm. So stellt A. N. Archangel'skij Nikolaj Gogol' auch als einen tief gläubigen Christen dar, analysiert ausgewogen dessen letzte Lebensjahre, insbesondere den "Ausgewählten Briefwechsel mit Freunden", Gogol's geistige Beziehung zum Kloster Optyna Pustyn' und seine Fahrt nach Jerusalem. K. A. Stepanjan, der Herausgeber des jährlichen Almanachs Dostoevskij i mirovaja kul'tura (Dostojewski und die Weltkultur), bezieht in seinen Dostoevskij-Beitrag auch näher die religiöse Seite ein. Erfreulicherweise bietet er auch größere Interpretationen der großen Romane. P. V Basinskij hat ein Porträt von Maksim Gor'kij gegeben, das sich restlos von der sowjetischen Idealisierung des angeblichen Urvaters des Sozialistischen Realismus abhebt.
Die Bände haben keine Einführung, die über solche und andere
Prinzipien informieren könnte, keine Vorstellung aller Mitarbeiter
(nicht einmal ihre Vor- und Vatersnamen), keine Bibliographie, kein
Register, keine Zitatnachweise. Für Schüler und Lehrer ist das als
Edition ein schlechtes Beispiel. Wie sinnvoll war dagegen die Anlage
der Autorenlexika, die der Econ-Verlag in den achtziger Jahren
innerhalb seines Hermes-Handlexikons veröffentlichte und die zu jedem
Autor außer einem Essay, Dokumente zur Wirkungsgeschichte, eine
detaillierte Zeittafel und eine Bibliographie mit Primär- und
Sekundärliteratur enthielten.[2] Die Kombination dieser exakten Fakten
mit dem Text ermöglicht rasche Information und kann zum Originaltext
führen. Sie hätte es auch bei dreifachem Umfang für jeden
Schriftsteller getan. Aber siebzig bis hundert Schreibmaschinenseiten
ohne solche Hilfsmittel zeugen von falscher Anlage.
Übersieht man einmal die Behauptung, das Ganze sei ein Nachschlagewerk
"für Schüler und Studienanfänger" und nimmt es als eine Sammlung
neuer, umfangreicher, wissenschaftlicher, vornehmlich biographischer
Artikel einer kleinen Auswahl von 24 wichtigen russischen
Schriftstellern, dann sind die beiden Bände anzuerkennen und auch im
wissenschaftlichen Bereich in Deutschland zu empfehlen.
Wolfgang Kasack
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