Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
[ Bestand in K10plus ]

Deutschsprachige Literatur des Mittelalters


01-2-291
Deutschsprachige Literatur des Mittelalters : Studienauswahl aus dem "Verfasserlexikon" (Bd. 1 - 10) / besorgt von Burghart Wachinger. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 2001. - XXVI S., 1108 Sp. ; 24 cm. - Vollst. Ausg. u.d.T.: Die deutsche Literatur des Mittelalters. - ISBN 3-11-016911-8 : DM 68.00
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Mit der anzuzeigenden Studienauswahl konnte eine schon länger beklagte Lücke geschlossen werden: Ein anspruchsvolles Nachschlagewerk zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, das die Autoren und ihre Werke auf überschaubarem Raum behandelt und zu einem für Studierende erschwinglichen Preis angeboten wird, fehlte bisher. Weil dazu das zehnbändige Verfasserlexikon[1] auf "etwa acht Prozent des Gesamtumfangs" (S. V) reduziert werden mußte, die Einträge aber nicht gekürzt werden sollten, sind Abstriche bei der Zahl der berücksichtigten Artikel selbstverständlich. Wenn diese Abstriche allerdings dazu führen, daß der Auswahl gerade die "wesentlichen Vorzüge" des Gesamtwerks genommen werden, sind Fragen nach dem Wert des neuen Bandes, nach der Berechtigung des Projektes insgesamt nicht von der Hand zu weisen. Dabei ist hervorzuheben, daß dem Bearbeiter der Studienausgabe die konzeptionellen Mängel und Probleme offenbar durchaus bewußt waren: So ist Burghart Wachingers Vorwort etwa zu entnehmen, daß im anzuzeigenden Band der Anspruch, "umfassend über das volkssprachliche und breit über das lateinische Schrifttum des Mittelalters im deutschsprachigen Raum" zu informieren, "von vornherein aufgegeben" werden mußte. Das am Gesamtwerk hochgeschätzte Prinzip, "nicht nur die sogenannte schöne Literatur aufzunehmen, sondern auch theologische, juristische, historische, medizinische und technische Schriften, auch Erbauungsliteratur und lebenspraktische Texte ... mußte erheblich eingeschränkt werden". Während manche Textsorten in relativ dichter Form vertreten sind, fehlen "die nicht-mystische geistige Literatur mit katechetischen Texten, Bibelübersetzungen, Predigten, Traktaten, Liedern und Gebeten ... sehr weitgehend".

Besonders negativ macht sich das Auslassen rein lateinischer Werke (und ihrer Autoren) bemerkbar, deren Mitberücksichtigung als eine der Stärken des Gesamtwerkes galt; kann man doch nur so den Interdependenzen in den verschiedenen Formen des Neben-, Vor- und Nacheinanders von Latein und Volkssprache(n) in der Literatur des europäischen Mittelalters gerecht werden. Waren auch schon dem Gesamtwerk in dieser Hinsicht gewisse Schwächen zu eigen (insbesondere im Hinblick auf das Altfranzösische), so soll in der Studienausgabe die Aufnahme weniger Einträge zu Autoren wie Notker, Meister Eckhart oder Sebastian Brant genügen, um "die enge Verflechtung von lateinischer und deutscher Schriftkultur" zu dokumentieren. Als Begründung dieses Vorgehens wird unverblümt die verlegerische Überlegung angegeben, einen eigenen Auswahlband für lateinische Werke und Autoren vorzulegen.

Angesichts der genannten Streichungen drängt sich die Frage auf, welches denn die übrig gebliebenen inhaltlichen Schwerpunkte der Studienauswahl sind. Auch dazu genügen die Ausführungen des Vorworts: "Bevorzugt wurden diejenigen Bereiche, die - vielleicht ja nicht ganz zu Unrecht - im akademischen Unterricht der germanistischen Institute am ehesten vorkommen: neben den ganz berühmten Autoren und Werken vor allem das 9. Jahrhundert, die Zeit von 1150 bis 1250, die Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts, Kleinepik und Fastnachtspiel." Die kritische Beurteilung dieses Vorgehens wird von Wachinger selbst geliefert: "Selbstverständlich sind diese Grundsätze und viele Einzelentscheidungen nicht unproblematisch, und man mag meiner Auswahl insgesamt vorwerfen, sie leiste der Verfestigung eines Kanons bevorzugter Lehr- und Forschungsgegenstände Vorschub" (S. VI). Dagegen sollen die häufigen Verweisungen helfen, auch auf solche Artikel, die in der Studienauswahl fehlen.

Mit Befremden nimmt der Leser zur Kenntnis, wie durch Verweisungen (in verschiedenen Pfeilformen) die beschriebenen Defizite auch noch zu einer positiven didaktischen Maßnahme umgedeutet werden: "Wer sich daran gewöhnt hat, im handlichen Auswahlband zu nachzulesen, wird, wo dieser versagt, vielleicht den Weg in eine Bibliothek, in der das Gesamtwerk steht, weniger scheuen" (S. V). Zumal aus bibliothekarischer Sicht sicherlich die Hoffnung besteht, daß die angesprochene Scheu auch ohne den anzuzeigenden Studienband überwunden werden könnte, ist der Gedanke, ein derart lückenhaftes Werk zu produzieren und daß von vornherein Behelfe zu seiner Lückenergänzung einkalkuliert werden, zumindest als unkonventionell zu bezeichnen.

Positiv zu vermerken sind die bei jedem Artikel ergänzten Angaben zum jeweiligen Erscheinungszeitpunkt der betreffenden Lieferung und zur jeweiligen Fundstelle im Gesamtwerk sowie der vergleichsweise günstige Preis. Außerdem ist zu begrüßen, daß die berücksichtigten Einträge ungekürzt übernommen wurden. Im Vorwort wird darüberhinaus die für ein Lexikon gewiß nicht ungewöhnliche "lexikalische Anordnung" der Artikel und die Fokussierung auf die Autoren als "Basis für eine Diskussion historisch adäquater Autorschaftskonzepte" hervorgehoben (S. VI).

Die Frage nach einer eventuellen Anschaffung der Studienauswahl muß für jede wissenschaftliche Bibliothek nach den örtlichen Gegebenheiten entschieden werden: Sicherlich zielt der Verlag in erster Linie auf die Studierenden selbst, sicherlich sind in zahlreichen Bibliotheken die zehn Bände des Gesamtwerks bereits vorhanden. Bibliotheken mit Präsenznutzung, die bereits über das vollständige Werk verfügen (z.B. Institutsbibliotheken), dürften kaum Verwendung für die Auswahl haben. Allerdings könnten sich trotz der vorgebrachten Bedenken gerade Universitätsbibliotheken für die Anschaffung der Auswahl entscheiden, insbesondere wenn entsprechende Angebote z.B. im Rahmen einer Lehrbuchsammlung bereitgestellt und genutzt werden.

Johannes Mangei


[1]
Die deutsche Literatur des Mittelalters : Verfasserlexikon / begr. von Wolfgang Stammler. Fortgef. von Karl Langosch. - 2., völlig neu bearb. Aufl. / unter Mitarb. zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Burghart Wachinger. Zus. mit Gundolf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder, Franz Josef Worstbrock. Red. Christine Stöllinger-Löser. - Berlin [u.a.] : de Gruyter. - 24 cm. - (Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). - Aufn. nach Bd. 10 [0792].
Zuletzt: Bd. 10. Ulrich von Lilienfeld - 'Das zwölfjährige Mönchlein'. - 1999. - IX S., 1652 Sp. - Ursprünglich in 5 Lfg. 1996 - 1999 ersch. - ISBN 3-11-015606-7 : DM 562.00. - Rez.: IFB 00-1/4-155.
Seitdem erschien: Bd. 11. Nachträge und Corrigenda. - Lfg. 1 (2000). - Sp. 1 - 320. - ISBN 3-11-016829-4 : DM 110.00.
Im folgenden als "Gesamtwerk" zitiert. (zurück)

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