Im ersten Artikel (Was ist Kinder- und Jugendliteratur? Ein Beitrag zu
ihrer Definition und zur Terminologie ihrer wissenschaftlichen
Beschreibung, 16 S.) stellt Hans-Heino Ewers "eine Serie von
Definitionen" bereit zum nicht mehr "klar umgrenzten Gegenstandsfeld"
KJL, sondern "aus einer Gruppe kultureller Felder" bestehendem Bereich
KJL, die sich "in hohem Maße überlappen" (S. 2) und sich gegenseitig
beeinflussen können - ein Ansatz, den er mit der aktuellen
KJL-Forschung teilt. [5] Die fünf zuerst beschriebenen, nicht auf der
Text-, sondern auf der "literarischen Handlungsebene" agierenden
Definitionen haben seiner Ansicht nach alle ihre Berechtigung.
"Lektüreentscheidungen", "Auswahlakte und Absichtsbekundungen" sind
als dingfest zu machende Handlungen ein "entscheidendes Kriterium",
ein "korpusbildender Faktor" für die Begriffsbestimmung von KJL (vgl.
S. 5 - 6). Bei einer zweiten Gruppe von weiteren fünf Definitionen
siedelt Ewers die Korpusbildung auf der Textebene an ("besonderes
literarisches Symbolsystem", S. 6 ff.), z.B. die Definition als
Erziehungsliteratur, als einfache oder sich an der Hochliteratur
ausrichtenden Literatur. Auch diese - obwohl "so alt und mannigfaltig
wie der Gegenstand selbst" (S. 6) - textbezogenen und normativen
Definitionen bleiben seiner Ansicht nach "wissenschaftlich durchaus
verwendbar" (S. 9). Als Ergänzung zu seinen Definitionen von KJL geht
Ewers kurz auf die Vermischung und falsche Verwendung von
literarischen, buch- und bibliothekarischen Kategorien ein (z.B.:
"Kinder- und Jugendbuch" wird fälschlich gleichgesetzt mit
"Kinder- und Jugendliteratur"; Text- und Buchgenres werden gemischt,
z.B.
"Bilderbuch" neben "Kinderlyrik"). Dies sei besonders auf die große
Bedeutung von Fachtermini zurückzuführen, die aus den Bereichen
Buchhandel und öffentliches Bibliothekswesen stammen, und darauf, daß
diese Gruppen sowie Lehrer "für eine geraume Zeit den theoretischen
Diskurs über Kinder- und Jugendliteratur allein" bestimmt hätten (S.
9). Einige Sätze widmet Ewers noch den "buchpädagogischen bzw.
bibliothekarischen Ordnungsbegriffen" (S. 10). Als "Ausflug in die
Begriffsgeschichte" wird abschließend die Entwicklung des Gebrauchs
der (Altersstufen beschreibenden) Begriffe "Kind/Kindheit", "Jugend",
"Kinderliteratur", "Jugendliteratur", "Kinder- und Jugendliteratur",
"Jugendlektüre", "Jugendschrifttum" u.a. vom 18. Jahrhundert, über die
KJL-Kritik des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute dargestellt.[6]
Drei weitere "Grundlagen"-Artikel beschreiben die Geschichte der KJL
von den Anfängen bis 1945, die KJL der Bundesrepublik nach 1945 und
die KJL der DDR. Brunken liefert einen - den Rahmen eines
Handbuchartikels fast schon sprengenden - umfangreichen "Überblick"
(S.17 - 96) über die Geschichte der KJL, beginnend beim Mittelalter,
das wie auch die folgenden Jahrhunderte bis zur "philantropistische[n]
Kinderliteraturreform" (S. 24) ca. 1780, noch kein eigenständiges
kinder- und jugendliterarisches System kannte, trotzdem aber Schriften
hervorbrachte, die "unter anderem oder sogar ausschließlich für Kinder
und Jugendliche bestimmt waren" (S. 18). Es folgen sieben Kapitel zu
den Epochen der KJL ab dem Philanthropismus, wobei der Kaiserzeit zwei
Kapitel (mit den Schwerpunkten der KJL als "Teil der
Unterhaltungskultur" und KJL "unter dem Einfluß der
Jugendschriftenbewegung") gewidmet sind.[7] Die Kinder- und
Jugendliteratur der DDR (S. 137 - 156) skizziert kurz und sich im
wesentlichen auf die Thematik "kindliches Leben im DDR-Alltag" (S.
154) beschränkend Karin Richter. Sie teilt die DDR-KJL in vier Phasen
ein, die sie mit jeweils ein bis drei längeren Textbeispielen
(typographisch abgesetzt) näher zu charakterisieren versucht. Sie geht
davon aus, daß die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-KJL noch
nicht abgeschlossen ist und daß deshalb zur Zeit die wichtigste
Aufgabe darin bestehe, "die Texte selbst zur Kenntnis zu nehmen" (S.
137). Als entscheidenden Unterschied zur westlichen KJL sieht sie
deren Einbindung in gesellschaftliche Prozesse. Am Ende des Beitrages
werden die hier nicht abgehandelten "poetischen Erscheinungen" der
DDR-KJL als Forschungsdesiderate aufgeführt.
Den größten Teil des ersten Bandes nehmen 17 Gattungsartikel ein (S.
158 - 565), verfaßt von ausgewiesenen Spezialisten (z.B. Jens Thiele
zum Bilderbuch, Dagmar Grenz zur Mädchenliteratur, Carsten Gansel zum
Adoleszenzroman, Bernd Dolle-Weinkauff zu Comics). Alle Beiträge
enthalten Darstellungen zu Geschichte, Begriff, Typologie und Funktion
der Gattungen, ansonsten sind die weiteren Schwerpunkte
unterschiedlich gewählt und gewichtet. Auch die formale Gestaltung ist
nicht einheitlich, teils sind Textbeispiele und -erkärungen
typographisch hervorgehoben (z.B. im längsten Beitrag
Adoleszenzroman), teils auch Abbildungen einbezogen (Bilderbuch;
Comics). Die meisten Artikel bieten in ihrem Literaturverzeichnis
neben der Forschungsliteratur auch Primärliteratur, teils in größerem
Umfang.
Bd. 2 beginnt mit der 3. Abteilung Medien und Sachbuch mit den
Bereichen Kinder- und Jugendtheater, Kinderfunk und Hörspiele,
Kinderfilm, Kinderfernsehen und Zeitschriften. Gerd Taube führt in die
Formen, die Geschichte und das aktuelle Repertoire des Kinder- und
Jugendtheaters ein (S. 568 - 589), Rezeptions- und didaktische Aspekte
spielen in den drei Artikeln zu den neuen Medien eine große Rolle
(Jan-Uwe Rogge, Michael Sahr, Hans Dieter Erlinger S. 590 - 636).
Leider kann der Beitrag zum Kinderfilm allein schon wegen der Kürze
der Darstellung der Bedeutung des Themas nicht gerecht werden.
Bernhard Meier nennt in seinem Aufsatz (S. 637 - 656) die
"Forschungslage zur Kinder- und Jugendzeitschrift ... desaströs" (S.
653), eine Einschätzung, die sich teils auch hier widerspiegelt: So
nennt der Abschnitt zur Geschichte der KJ-Zeitschrift zum 19.
Jahrhundert kein einziges Beispiel, sondern kennt nur undifferenzierte
Pauschalurteile ("Kaum politische Inhalte", "viel Moral"); mehr
Basisinformation bietet u.a. eine ziemlich aktuelle Statistik von 1998
zu 116 Zeitschriften aus 46 Verlagen, inkl. Auflagenhöhen etc. Der
umfangreiche Beitrag Sachbücher (Herbert Ossowski, S. 657 - 682)
ergänzt auf einer Metaebene die in der zweiten Abteilung
untergebrachten entsprechenden Gattungsartikel (z.B. Geschichtliche
Kinder- und Jugendliteratur) und führt außerdem in weitere Bereiche
des Sachbuches ein (z.B. Lexikon). Fraglich ist die Unterbringung an
dieser Stelle, als Anhängsel an die Medien.
Die 4. Abteilung Ausgewählte thematische Aspekte schließt sich mit
sieben Beiträgen an: Familie, Schule, Natur und Umwelt, Außenseiter,
Multikulturalität, Dritte Welt und Philosophie benennen gleichzeitig
die derzeitigen Modethemen in der aktuellen KJL; ob dies bei allen
Themen in einigen Jahren noch Gültigkeit besitzt, sei dahingestellt.
Es wird, teils bereichert um historische Bezugnahme, die Entwicklung
dieser, auch als Problemliteratur betitelten KJL, seit 1945 oder der
Sache entsprechend (das Thema Ökologie gab es vor den siebziger Jahren
nicht) noch später einsetzend dargestellt. Meist wird dem didaktischen
Aspekt Raum gegeben, Beispiele und Textauszüge sowie umfangreiche
Primärliteraturverzeichnisse sind u.a. auch ein Service für die
unterschiedlichsten Arten von Vermittlern, wenngleich selbst die
neueste angegebene Literatur größtenteils bereits jetzt nicht mehr auf
dem Markt sein wird.
In Abteilung 5 Ausgewählte poetologische Aspekte beschreiben Maria
Lypp Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur (S. 828 - 843),
Wilhelm Steffens Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- und
Jugendliteratur der Gegenwart (S. 844 - 861) und Gabriele Czech Komik
in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart (S. 862 - 887).
Mit ihrem Beitrag Der deutsch(sprachig)e Kinder- und Jugendbuchmarkt
(S. 889 - 900) eröffnet Gabriele Wenke die 6. Abteilung Produktion und
Rezeption. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme des heutigen
KJL-Marktes in der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz, den
sie als einen Markt bezeichnet. Die - leider nur relativen - Zahlen
sind der Statistik von 1998 entnommen (z.B. KJL-Anteil am Umsatz im
Einzelhandel ca. 10 %, die auch interessante absolute Zahl wird nur
vage wiedergegeben: "es sollen ca. 4.500 Titel pro Jahr sein", S.
895). Sie bezieht folgende Aspekte ein: Buchmarkt (Verkaufsstellen,
Bibliotheken, Preisbindung, Wettbewerb), Wie wirkt der Markt auf die
Bücher? (Lektorat, Vertrieb, Buchhändler, Käufer, Kritiker,
Autorpflege), Verlage. Die Bestandsaufnahme schließt auch eine herbe
Kritik an der heutigen Bibliothekspolitik ein, die durch anhaltende
Mittelkürzungen als mitverantwortlich für den "Rückgang der
Lesefähigkeit" bezeichnet wird. Denn im Gegensatz zum Anteil beim
Selbstkaufen von KJL durch Kinder und Jugendliche (ca. 10 %) wählen
diese in "möglichst gut ausgestattenen" öffentliche Bibliotheken
selbst aus, und solche "gut geführten Kinderbibliotheken" können sich
"vor LeserInnen kaum retten" (vgl. S. 892 - 893), wird überspitzt
(aber durchaus in die richtige Richtung zeigend) formuliert. Öfter
sind die Ausführungen Wenckes zu allgemein und bestehen teils aus mehr
oder weniger versteckten (unsachlichen und unnötigen) Anklagen
(Profitverhalten seitens der Verlage). Ein Defizit: Die Rezensentin
wüßte gerne, wie die Computergeneration mit dem Internet-Buchhandel
umgeht. Kaufen hier die Kinder und Jugendlichen in größerem Umfang
selbst? Bettina Hurrelmann untersucht in ihrem Artikel Kinder- und
Jugendliteratur in der literarischen Sozialisation (S. 901 - 920) die
Bedeutung von kinder- und jugendliterarischen Texten "für den Prozess
der individuellen Leseentwicklung", den Gebrauch, den die
"gesellschaftlichen Instanzen der Lesesozialisation (Familie,
Jugendkultur, Schule) von ihnen machen" und in Bezug auf Schule auch
die sich aus dem Medienwandel ergebenden "didaktischen
Funktionsverschiebungen" (S. 901). Einleitend werden 'Kinder- und
Jugendliteratur' und 'literarische Sozialisation' konzeptionalisiert.
Ausgehend von den "harten Fakten der persönlichen Medienausstattung"
(S. 921) und Erhebungen zur Mediennutzung berichtet Erich Schön über
Kinder und Jugendliche im aktuellen Medienverbund (S. 921 - 940). Für
das Bücherlesen von Kindern und Jugendlichen sieht er im Gegensatz zu
den "Kulturpessimisten" (S. 926) keinen Beweis einer abnehmenden
Lesefähigkeit und -kompetenz.
Der zweite Band wird abgeschlossen mit drei gesonderten Beiträgen zur
Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht (Günter Lange mit einem
grundlegenden Forschungsüberblick, der auch empirische Aspekte
einschließt, S. 942 - 967; Elvira Armbröster-Groh zum Aspekt
Literarisches Lernen, S. 968 - 977; Kaspar H. Spinner zum
Handlungs- und Produktionsorientierte[n] Umgang, S. 978 - 990).
Das Taschenbuch informiert umfassend über viele Bereiche der
Kinder- und Jugendliteratur und ersetzt nicht nur die beiden
Vorgängerwerke,
sondern erweitert deren Themenspektrum erheblich. Die meist von
Literaturwissenschaftlern, Didaktikern, Lehrern, auch einem Berater,
einem Medienpädagogen, einem Theaterwissenschaftler, einer Publizistin
verfaßten Artikel bieten den aktuellen Forschungsstand, fundiert und
materialreich dargestellt und komplettiert mit meist umfangreichen
Sekundärliteraturverzeichnissen, meist auch Primärliteraturlisten
(auch historische KJL), wobei diese außerdem durch die Angabe des
Verlages eine etwas genauere Wiedergabe erfährt. In verschiedenen
Beiträgen wird zusätzlich noch Primärliteratur genannt, ohne daß diese
im Literaturverzeichnis nochmals auftaucht. Formal sind die Artikel
nicht durchgehend einheitlich konzipiert (Umgang mit Anmerkungen,
Textbeispielen u.a.). Das in den beiden Bänden vorhandene umfangreiche
Personenregister und das Sachregister erschließen den Text.
Der Umschlagtext des Taschenbuchs der Kinder- und Jugendliteratur
nennt als Adressaten "Studierende an Fachhochschulen und
Universitäten, die sich in ihrer Ausbildung mit KJL beschäftigen,
Lehrende an Schulen und Hochschulen sowie alle an KJL Interessierten
aus dem Buchhandel und Bibliothekswesen". Für diesen Personenkreis ist
es ein unverzichtbares Informationsmittel; daß es auch seinen Platz in
den Seminar- und Fachbereichsbibliotheken und in den
Lehrbuchsammlungen und Lesesälen der Universitätsbibliotheken finden
soll, erklärt sich von selbst. Das Taschenbuch bietet Antworten auf
viele, besonders auch aktuelle Fragen, die die Fachbibliothekarin für
die Informationssuchenden bisher aus einzelnen - oft veralteten -
Monographien, Sammelwerken und Zeitschriftenbeiträgen zusammenstellen
mußte. Regelmäßig aktualisiert, wird es wie auch das Jahrbuch
Kinder- und Jugendliteraturforschung[8] zum Basis-Informationsmittel in
diesem Bereich werden.
Maria Michels-Kohlhage
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