Blättert man um, so folgt nach dem Vorwort die Liste aller Mitarbeiter/-innen und leider hat man Anlaß zu weiterer Kritik: Offensichtlich wurden die Angaben der Beiträger der vorangegangenen Auflagen nie aktualisiert, sondern lediglich die neuen Beiträger mit ihren Daten hinzugefügt. So existiert z.B. der Eintrag "PD Dr. Regine Gildemeister, Universität Erlangen-Nürnberg". Frau Dr. Gildemeister wurde danach an die GH Kassel berufen und lehrt seit etlichen Jahren in Tübingen. Ebenso ist Herr "Dr. Harald Homann, Universität Tübingen" schon längst an eine FH in den neuen Bundesländern gewechselt. Dies sind nur Beispiele aus dem Erfahrungsbereich des Rezensenten, man kann entsprechende Rückschlüsse auf die Aktualität der gesamten Liste ziehen. Jedenfalls sind mehr als hundert Personen genannt und es finden sich etliche bekannte Namen der deutschen Soziologie, aber auch der Politikwissenschaft wieder. Diese Personen haben aber meist die ein- bis dreiseitigen "Großstichwörter" verfaßt, während die knappen Stichwörter - also der Großteil des Lexikons - je zur Hälfte von Prof. Dr. Siegfried Lamnek (Univ. Eichstätt) und Dr. Helga Recker (im Lexikon angegeben: Univ. Augsburg, jetzt vermutlich Hochschule für Politik, München) verfaßt wurden.
Ist die nicht aktualisierte Liste der Beiträger gar ein Hinweis, daß das gesamte Soziologielexikon nicht aktualisiert wurde? Bei näherem Hinsehen bestätigt sich dieser Verdacht. Bei einem Vergleich mit der 2. Aufl. von 1992 zeigt sich, daß weder die Artikel noch die "Großstichwörter" überarbeitet wurden, die bereits in der zweiten Auflage enthalten waren. Offensichtlich bestand die "vollständige Überarbeitung" der 3. Aufl., auf deren Text "nach kritischer Durcharbeitung und Verbesserung" die vorliegende vierte beruht, lediglich darin, daß zwölf neue Großstichwörter eingefügt wurden. Bei genauerer Hinsicht bemerkt man, daß außer bei den in der 3. Aufl. neu eingefügten Großartikeln schlichtweg keine Literaturangaben aus den neunziger Jahren vorkommen. Offensichtlich verharrt der Inhalt auf dem Stand der 1. Aufl. von 1991.
Daß das Soziologielexikon brauchbar, "griffig" und inhaltlich zuverlässig ist, darüber kann der Rezensent recht genau Auskunft geben, war doch die 2. Aufl. neben den von Schäfer herausgegebenen Grundbegriffen der Soziologie[1] sein Handexemplar, mit dem er den aktuellen Informationsbedarf bei Erstellung der Dissertation und Vorbereitung des Rigorosums befriedigte. Selbst in schwierigeren Fällen erwies es sich stets als ausreichend und aussagekräftig. Die Konzeption, zentrale Begriffe ausführlicher abzuhandeln, ist durchaus zu begrüßen. Manche Inkonsistenzen, wie z.B. die Tatsache, daß es zwei Großstichwörter zur DDR gibt, aber keine zur BRD oder zu Deutschland nach 1999 lassen sich verschmerzen. Auch fehlen Artikel zu einzelnen Soziologen oder zum Stand der Soziologie in anderen Ländern. - Doch wie soll man zu der Tatsache stehen, daß der Inhalt nicht aktualisiert wurde? Daß die Fortsetzung der Diskussion in der Wissenschaft nicht eingearbeitet worden ist, daß auch die Literaturhinweise neuere Titel nicht verzeichnen? Bei einem Werk, das sich nicht nur an die wissenschaftlich Tätigen, sondern auch an eine breitere Klientel von Lehrern und Schülern wendet, ist das eine fahrlässige Entscheidung seitens Herausgeber und Verlag. Erstaunlich ist dabei, daß die Autoren mitmachen, wenn ihre Beiträge auf dem Stand von Anfang der neunziger Jahre erneut erscheinen.
In Anbetracht der mangelnden Aktualität empfiehlt sich ein Blick auf
die Konkurrenz. Diese, sieht man einmal von den oben genannten
Grundbegriffen der Soziologie wegen der nicht vergleichbaren
Konzeption ab, ist fünf bis zwölf Jahre alt: Das dreibändige
Wörterbuch der Soziologie[2] von Endruweit/Trommsdorf (1988) enthält
längere Artikel und ist empirischer ausgerichtet; das Lexikon zur
Soziologie[3] von Fuchs-Heinritz ist in seiner 3. Aufl. 1994
differenzierter, auch in den Verweisungen, und das Wörterbuch der
Soziologie von Hillmann,[4] in 4. Aufl. gleichfalls 1994 erschienen, ist
feingliedriger und bietet zusätzlich Artikel über einzelne Soziologen.
Das hier besprochene Soziologielexikon ist somit zwar dank seiner
Ausrichtung sowohl auf eine breitere Zielgruppe wie z.B. Lehrer und
Schüler als auch auf das Fachpublikum (v.a. Studenten) an sich
empfehlenswert, doch leider vom Inhalt her stehengeblieben. Am ehesten
vergleichbar ist das Lexikon zur Soziologie von Fuchs-Heinritz, das
ursprünglich als Rowohlt-Taschenbuch erschienen war und somit
ebenfalls die Ausrichtung auf breitere Schichten aufwies.
Empfehlung: Falls aktueller Bedarf an einem breit angelegten
Soziologie-Lexikon besteht, bietet sich entweder der Kauf des
Wörterbuchs zur Soziologie von Fuchs-Heinritz oder des Lexikons zur
Soziologie von Hillgruber an. Das vorliegende Lexikon kommt nur als
Ergänzungsbeschaffung in Frage, da man trotz seiner insgesamt
überzeugenden Konzeption und Anlage aktuelleren Lexika den Vorzug
geben sollte.
Jürgen Plieninger
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