Mit dem hier besprochenen Band liegt nun eine erweiterte Kumulation
von Diederichsens Plattenkritiken vor, diesmal von 1979 bis 1999 (lt.
Umschlagtext gar bis März 2000), insgesamt über 1000 Kritiken von
knapp 2300 Tonträgern. Alle Rezensionen stammen aus Sounds, Spex und
Konkret, die man im Spektrum der bundesdeutschen Fachzeitschriften
durchaus als links einordnen darf, wenn diese Ordnungskriterien heute
noch jemandem etwas sagen sollten. Eingeleitet wird der Band von einem
Vorwort 2000 - vom Ende der Musik, an dem alles Musik wird,[7] einem
Essay, der sich inhaltlich und stilistisch sicherlich nicht jedem
Leser sofort erschließt.[8] Ihm folgt das Vorwort zur Ausgabe 1989:
Musik und Dissidenz in den 80er-Jahren - Inhaltsverzeichnis einer
Theorie. Danach folgen die Kritiken zuerst aus Sounds von 1979 - 1983,
dann aus Spex von 1983 - 1989 und Konkret von 1988 - 1989, sodann aus
Spex von 1989 - 2000 und Konkret von 1989 - 1990, alle im Faksimile.
Zwischen den einzelnen Kapiteln werden die Kritiken der 80er Jahre aus
der Sicht von 1989 und diejenigen der 90er Jahre aus der Sicht von
2000 nochmals neu kommentiert. Es ist sicherlich nicht jedermann
vergönnt, seine eigenen Sichtweisen nach 20 Jahren nochmals zu
überdenken und zu kommentieren, sieht man vom amtierenden
Bundesaußenminister ab, der derzeit seine eigene Vergangenheit
öffentlich aufarbeitet und selbst bewertet, wenn auch nicht ganz
freiwillig.
Die Zeitschrift Spex wurde bewußt als Gegenpunkt zur industriellen
Musikproduktion gesetzt und veröffentlichte lange Zeit keine von
Plattenfirmen bezahlten Promotionsartikel, galt dadurch aber auch als
elitär. Man darf sich deshalb nicht wundern, keine Rezensionen von
bekannten Popmusikern zu finden, die Massenware anbieten. Dennoch
begleitet Diederichsen die Produkte von Musikern und Gruppen, die auch
dem breiten Publikum bekannt sind, wie David Bowie, den Talking Heads
und David Byrne, Bob Dylan, Kevin Rowland And Dexy's Midnight Runners,
Madonna, Iggy Pop, Curtis Mayfield sowie den Rolling Stones über
mehrere Jahrzehnte hindurch kritisch wohlwollend. Mit dem Jazz hat
Diederichsen seine Probleme: gut kommen bei ihm weg Musiker wie
Charles Mingus, Ornette Coleman, Sun Ra, Winton Marsalis, Caspar und
Peter Brötzmann oder Thelonious Monk. Andere trifft seine vernichtende
Kritik : Stan Getz bezeichnet er in einer launigen Rezension einer
Labelserie[9] als mittelmäßigen Kitsch-Saxophonisten, Gil Evans mache
"Vögelchenmusik", Wes Montgomery "reaktionäre Unterhaltungsmusik",
Jimmy Smith produziere Orgelsoße, Oscar Peterson sei für ihn ein
Quälgeist und von Ella Fitzgerald habe er noch nie etwas gehalten.
Dagegen bewundert er Miles Davis einmal als Sänger und ein anderes Mal
durch sein "Hightech-Geklapper". Jazzkritiker kann er nicht leiden.
Michael Naura bezeichnet er als Kröte und Joachim-Ernst Berendt[10] würde
"in spiritueller Lächerlichkeit" wegdämmern. Aber auch andere, die
eher wohlwollend betrachtet werden, bekommen verbal ihr Fett weg:
Sonny Sherrock, den er sehr schätzt, würde herumgenialisieren, Van
Morrison produziere Gedudel: "Diese Platte muss zum Arzt".
Der Band vermittelt trotz solcher Verbalkonstruktionen einen
kenntnisreichen Überblick über die Underground-Schallplattenproduktion
der letzten zwanzig Jahre; als Diskographie ist das Werk allerdings
nicht geeignet und auch nicht gedacht. Es werden lediglich
Hauptinterpret, Titel der Platte und Label genannt, keine
Mitinterpreten, kein genaues Erscheinungsdatum oder gar Bezugsquellen.
Es dürfte nicht ganz einfach sein, die eine oder andere Platte im
Handel aufzutreiben. Nützlich ist das fast 20-seitige Register des
Bandes, da in ihm auch Namen von Musikern enthalten sind, die nicht
mit einer eigenen Rezension bedacht wurden. Damit kommt der
Rezensionsband einem Nachschlagewerk für die letzten zwanzig Jahre
Popmusik etwas näher.
Bernhard Hefele
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