Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick


01-1-062
Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick / Hans-Otto Dill. - Stuttgart : Reclam, 1999. - 524 S. ; 15 cm. - (Universal-Bibliothek ; 9738). - ISBN 3-15-009738-X : DM 22.00
[5552]

Als preiswerte Reclam-Ausgabe erscheint nach der Geschichte der spanischen Literatur im Überblick von Martin Franzbach[1] nun ein Überblickswerk für die Lateinamerikanistik von Hans-Otto Dill, das wie die von Rössner herausgegebene Lateinamerikanische Literaturgeschichte[2] auf die iberoamerikanischen Literaturen der spanischsprachigen Länder und Brasilien begrenzt wurde, d.h. präkolumbische (ibero-europäische, altamerikanische, altafrikanische) Literaturen unberücksichtigt läßt. Die Gesamtdarstellung lateinamerikanischer Literatur, die Dill als "Geschichte lateinamerikanischer Literaturgeographie eines polyethnischen, multikulturellen, multinationalen und mehrsprachigen Subkontinentes ehemals spanischer und portugiesischer Kolonien" verstanden wissen möchte (S. 12), aus deren literarischen Hauptkommunikationssystemen sich bis zum 20. Jahrhundert zwanzig Nationalliteraturen entwickelten, besitzt gegenüber der aus vierzig Einzelbeiträgen von 13 Verfassern bestehenden Literaturgeschichte von Rössner als Einverfasserschrift den Vorzug größerer Homogenität.

Aus dem Fundus seiner umfassenden Kenntnisse entwirft der Autor ein Panorama der fünfhundertjährigen Geschichte lateinamerikanischer Literatur. Die Kapitel sind einheitlich strukturiert: kurze Darstellung des sozio-historischen Kontextes, kurze Einführung in literarische Strömungen nach Gattungen (Lyrik, Narration, Theater), stichwortartig konzentrierte Artikel zu namhaften Schriftstellern und zentralen Werken. Die Textanalysen folgen einem diskurstheoretischen Ansatz. Die gesonderte Darstellung der brasilianischen Literatur in jeweils eigenen Kapiteln trägt der Tatsache Rechnung, daß der literarische Diskurs in portugiesischer Sprache erfolgt und damit intertextuelle Bezüge zu spanischsprachigen Werken seltener nachweisbar sind. In der Betonung der diskursiven Besonderheit ist hingegen die Entscheidung für die separate Darstellung der Frauenliteratur (z.B. S. 356, 373, 401, 465, 421) nicht unproblematisch, da sie eine Ausgrenzung der Literatur des "anderen Geschlechts" aus dem männlich dominierten Literaturkanon eher begünstigt.

Weniger überzeugend auch die eurozentristische Kategorienbildung in der hier vorgenommenen Periodisierung: I. Die Literatur der Entdeckung und Conquista; II. Die Kolonialliteratur im 16. Jahrhundert; III. Das barocke 17. Jahrhundert; IV. Das aufklärerische 18. Jahrhundert; V. Das 19. Jahrhundert von Neoklassizismus bis Modernismo; VI. Epischer Realismus versus lyrische Avantgarde: die kontinental bedeutsamen Strömungen von der mexikanischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht erst der intensiv vermarktete "magische Realismus" (Kap. VII. Gesamtlateinamerikanische Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: von der Verinnerlichung über den magischen Realismus zum Neuen Roman) der es erlaubt, von einer spezifisch lateinamerikanischen Schreibweise zu sprechen. Dill rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Hinweis auf das Vorherrschen europäischer Elemente infolge des kolonialen Charakters der Wirtschaft, Politik und Literatur im klassischen Kolonialismus und auf den französischen und angloamerikanischen Einfluß im 19. Jahrhundert der Industrialisierung, d.h. kulturelle Dependenzen der kolonialen Peripherie sind seiner Ansicht nach für die Kanonbildung lateinamerikanischer Literaturen konstitutiv. Der daraus abgeleitete "andere Literaturbegriff" (S. 11) schließt für die Kolonialphase Historiographie und Essay ein und berücksichtigt die Wechselbeziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Orale Volksliteratur des 16. Jahrhunderts, S. 36 - 37). Vom Erwartungshorizont der immer noch am Boom lateinamerikanischer Literatur orientierten Leserschaft ausgehend, legt er den inhaltlichen Schwerpunkt auf die letzten 50 Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts (Berichtszeitraum bis 1991), "um nationale Eigenheiten vor dem Hintergrund gesamtlateinamerikanischer Strömungen herauszuarbeiten" (Kap. VII, S. 307 - 475). Kenntnisreich beschreibt der Autor den mexikanischen Revolutionsroman, dem schon zu DDR-Zeiten sein Forschungsinteresse galt (S. 218 - 248). Verdienstvoll ist es, daß Textproben (Lyrik- und Romanzitate) grundsätzlich sowohl im Original als auch in deutscher Übertragung angeführt wurden.

Der Wunsch nach größtmöglicher Vollständigkeit in dem vermutlich vom Verlag vorgegebenen Umfang von 500 Seiten mag den Autor bewogen haben, nicht nur in biographischen Kurzwürdigungen der Autoren, sondern auch bei der Würdigung einzelner Werke in einen fast telegrammartigen Stil unter Auslassung von Artikeln und Personalpronomina zu verfallen.[3] Seine sprachlich-syntaktische Askese mag von hoher Inhalts- und Gedankendichte zeugen, den Lektüregenuß steigert sie nicht gerade. Druckfehler[4] können in einer späteren Auflage ebenso behoben werden wie stilistische Unebenheiten.[5]

Ein Namenregister (leider ohne Werktitelverzeichnis) erschließt den Band, Namensansetzungen folgen dem allgemein Gebräuchlichen und der bekannten Zitierform, Pseudonyme werden jeweils um den wirklichen Namen (Clarín, Pablo Neruda) ergänzt. Bibliographische Hinweise auf weiterführende Literatur finden sich am Ende der Kapitel, eine kurze Auswahlbibliographie überwiegend deutschsprachiger Titel mit Rücksicht auf ein allgemein interessiertes Publikum ohne Spanischkenntnisse wurde vorangestellt.

Die für den (studentischen) Privatgebrauch konzipierte Überblicksdarstellung ist zweifellos als erster Einstieg hilfreich und daher auch für die Lehrbuchsammlungen der Universitätsbibliotheken empfehlenswert. Format und Aufmachung führen allerdings zu einem erhöhten Verschleiß bei der Aufstellung in Freihandregalen.

Regine Schmolling


[1]
Geschichte der spanischen Literatur im Überblick / Martin Franzbach. - Stuttgart : Reclam, 1993. - 433 S. ; 15 cm. - (Universal-Bibliothek ; 8861). - ISBN 3-15-008861-5 : DM 16.00 [1852]. - Rez.: IFB 96-2/3-285. (zurück)
[2]
Lateinamerikanische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Walter Bruno Berg ... hrsg. von Michael Rössner. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1995. - XI, 542 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-01202-6 : DM 49.80 [3013]. - Rez.: IFB 97-3/4-341. (zurück)
[3]
S. 327: Abbadón el exterminador (...) ist essayistischer Roman ... - S. 473: "Im Exil schrieb er (Cabrera Infante) Tres tristes tigres (...) neobrarocken, karnevalesken Neuen Roman über Havanna". - S. 328: Los premios (...) Roman über Dampferfahrt von Preisgewinnern als Mikrokosmos des peronistischen Argentinien mit strukturalen Dichotomien). (zurück)
[4]
S. 472: "wegen Versorungsmängel". (zurück)
[5]
S. 167: "Das indianische Thema wurde (...) zum auf Mitleid und Spannung spekulierenden Kitschroman ausgeschlachtet" oder S. 329: "Wollte in einer Gesellschaft der Ungerechtigkeit und Entfremdung einen Roman schreiben wie ein Guerillero mit Gewehr". (zurück)

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