Wo Wilhelm Dilthey zu Recht unter die Germanisten gezählt wird, auch wenn dieser Wegbereiter des Gedankens der Literaturarchive sich immer als Philosoph und nicht als Philologe im eigentlichen Sinne verstanden hat, da muß man das Augenmerk freilich auch auf eine knappe Handvoll Gelehrter lenken, die als Klassische Philologen die deutsche Literaturwissenschaft um Leistungen bereichert haben, mit denen sie das Gros zünftiger Germanisten hell und anhaltend überstrahlen: Wolfgang Schadewaldt (1900 - 1974) etwa, dessen Winckelmannn-Studien, etwa zu Winckelmann als Exzerptor, sich noch heute so frisch wie bei ihrem Erscheinen lesen und dessen Studien zur Antikenrezeption bei Goethe und Hölderlin nicht überholt sind, gehört zu dieser Kategorie, vor allem als Begründer des Goethe-Wörterbuchs, oder Ernst Zinn (1910 - 1990) dessen in stupender Belesenheit gründenden Ausgaben der Werke von Rainer Maria Rilke, Rudolf Borchardt und Rudolf Kassner die editionsphilologischen Grundlagen für alle literaturwissenschaftliche Forschung zu diesen Autoren dauerhaft gelegt hat, während die geschwätzige Vielschreiberei des einst so erfolgreichen Benno von Wiese heute niemanden mehr interessiert.
Ein verbreiteter Irrtum hat sich auch hier eingeschlichen: Im Artikel
zu Emil Staiger heißt es, die mit unglücklicher Nomenklatur sogenannte
werkimmanente Interpretation sei eine in der Nachkriegszeit
entstandene Reaktion auf die "politisierte" Germanistik der
nationalsozialistischen Jahre. Mitnichten, sie ist lange vor der
braunen Diktatur in der Zwischenkriegszeit entstanden. Dafür wird der
eigentlich einschlägige "Sündenfall" Emil Staigers in seiner
Biographie gar nicht erwähnt, nämlich seine Rolle bei der
Unterdrückung von Elsie Attenhofers in Schweizerdeutsch geschriebenem
Theaterstück Wer wirft den ersten Stein?, dessen Aufführung am Zürcher
Theater Staiger zusammen mit anderen verhinderte - wohl auch aus einer
in der Schweiz damals verbreiteten Sorge, dem Land könnte das
österreichische Schicksal eines deutschen Überfalls drohen.[1]
Der insgesamt nach Auswahl und informativem Gehalt vorzüglichen
Sammlung von Biographien[2] hätte man noch etwas mehr Courage an den
Stellen gewünscht, wo es gilt, neben den wissenschaftlichen Leistungen
auch deren "Sitz im Leben" zu verdeutlichen: Natürlich ist es richtig,
daß Wolfgang Kayser 1960 einem "plötzlichen Tod erlag", aber muß man,
wenn man dem Charakter dieses außerordentlichen Mannes, der nicht nur
ein homme de lettres gewesen ist, sondern auch einen "neuen
Forschertyp" verkörpert hat, "der Traditionen und Konventionen der
deutschen Gelehrtentradition hinter sich ließ", nicht doch hinzufügen,
in welchen Armen er verschieden ist? Die Wahrheit könnte hier gut
verstehen helfen, warum die literaturwissenschaftlichen
Veröffentlichungen Kaysers so gar nicht nach Papier schmecken, und sie
hätte nach vielen Jahren so wenig mit Klatsch zu tun wie z.B. im Falle
Max Webers, der auch in der jüngsten Kurzbiographie von Wolfgang J.
Mommsen[3] wieder die bekannte Arbeitsehe mit seiner Frau Marianne
führt, aber der Schweizer Pianistin Mina Tobler nie begegnet zu sein
scheint, da der Artikel von ihr nichts zu sagen weiß.
Eine prinzipielle Frage, zu der dieser Band mit seiner zuchtvollen
Aussparung alles Anekdotischen Anlaß bietet, lautet: Wie wird
eigentlich die Gelehrtenanekdote als wichtiger Träger mündlicher
Überlieferung gerettet? Sie trägt viel Markantes zur
Wissenschaftsgeschichte bei, z.B. auch die Erinnerung an jenes Bonner
Seminarfest, bei welchem dem kürzlich aus dem amerikanischen Exil
zurückgekehrten Richard Alewyn und dem Polygraphen Benno von Wiese von
den Studenten schriftliche Aufgaben gestellt wurden: Alewyn kaute am
Stift, von Wiese schrieb sofort los. Nach einiger Zeit von Wiese zu
Alewyn: "Na, Richard, wie steht's?" Antwort Aleywns: "Wie immer,
Benno, du schreibst, und ich denke."
Hans-Albrecht Koch
Daß Hans Pyritz, nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos einer der
einflußreichsten Germanisten, in der vorstehend besprochenen
Biographiensammlung übergangen ist, fällt nur deswegen nicht stärker
ins Gewicht, weil zu Leben und Werk dieses Gelehrten gleichfalls im
Jahr 2000 eine eigene umfassende Studie von Christa Hempel-Küter
u.d.T. Germanistik zwischen 1925 und 1955 erschienen ist.
Der 1905 geborene Hans Pyritz, Sohn eines kleinen Postbeamten, Schüler
des nationalkonservativen Gustav Roethe, der sich bei seiner Berufung
nach Berlin das Recht ausgehandelt hatte, Frauen von seinen
Vorlesungen auszuschließen, war nach einer Hilfskrafttätigkeit bei der
Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Habilitation, die
Goethe und Marianne von Willemer galt, zum Nachfolger des
Barockforschers Julius Petersen auf dem angesehensten Lehrstuhl des
Faches an der Berliner Universität berufen worden.
Pyritz, der von seinen Schülern viel forderte, sie umgekehrt aber auch
nach Kräften förderte, wirkte wohl auch polarisierend, beeindruckte
nach übereinstimmendem Zeugnis vieler Hamburger Absolventen aber
nachhaltig durch die kantige Kraft seiner Persönlichkeit: Auf dem
Krankenlager, eine Zigarette an der anderen anzündend, so nahm er noch
kurz vor seinem Tod akademische Prüfungen ab.
Petrarkismus in der deutschen Literatur, Barockforschung in der durch
Julius Petersen begründeten Tradition des Berliner Seminars - eine
stark selektive Barock-Bibliographie,[4] die nicht auf quantitative
Vollständigkeit, sondern auf qualitative Auswahl angelegt und die nach
dem Tode von seiner Witwe Ilse Pyritz bearbeitet worden ist, ist
steckengeblieben -, eine retrospektive Goethe-Bibliographie[5] und die
Erforschung des West-östlichen Divan bzw. der zugrundeliegenden
Beziehung zu Marianne von Willemer, dazu die langjährige
Herausgeberschaft des Euphorion - das sind die hauptsächlichen Felder,
auf die sich die wissenschaftliche Lebensleistung von Hans Pyritz
erstreckt hat.
Besonders gründlich erörtert die Verfasserin in ihrer Hamburger
Habilitationsschrift - immer unter der Leitfrage Kontinuität versus
Diskontinuität nationalkonservativer Anschauungen vor und nach dem
Zweiten Weltkrieg - die Beiträge des Gelehrten zum Marianne-Thema und
sein am Werk Goethes entwickeltes Konzept von Frühklassik, Hochklassik
und Gegenklassik. Die Berufung von Pyritz, dessen öffentliche
Probevorlesung bei der Habilitation immerhin das zeitgeistgemäße Thema
Goethes Volksbewußtsein hatte, nach Hamburg war nicht ohne Probleme;
das Schicksal des von den Nationalsozialisten verjagten jüdischen
Gelehrten Walter A. Berendsohn, eines der Begründer der Exilforschung,
bietet den Kontrast in der Geschichte des Hamburger Germanistischen
Seminars.
Verzeichnisse der Vorträge und Veranstaltungen von Pyritz ergänzen die
Bibliographien der gedruckten Quellen und machen den aus vielen
unveröffentlichten Archivalien erarbeiteten Band zu einem Buch, das
nicht nur für die germanistische Disziplingeschichte von Interesse
ist, sondern auch die Aufmerksamkeit der mit Institutionsgeschichte
befaßten Universitätshistoriker finden sollte.
Hans-Albrecht Koch
Zurück an den Bildanfang