Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts


01-1-043
Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts : [eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar] / hrsg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 2000. - X, 295 S. ; 24 cm. - ISBN 3-11-016157-5 : DM 98.00
[6291]
01-1-044
Germanistik zwischen 1925 und 1955 : Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz / Christa Hempel-Küter. - Berlin : Akademie-Verlag, 2000. - VII, 350 S. ; 25 cm. - (Literaturforschung). - Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1997. - ISBN 3-05-003472-6 : DM 98.00
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Eine stattliche Galerie der Großen: Georg Friedrich Benecke, Jacob Grimm, Karl Lachmann, Karl Rosenkranz, Moriz Haupt, Karl Bartsch, Wilhelm Dilthey, Michael Bernays, Wilhelm Scherer, Hermann Paul, Erich Schmidt, Oskar Walzel, Andreas Heusler, Carl von Kraus, Friedrich Panzer, Friedrich Gundolf, Eduard Berend, Helmut der Boor, Käte Hamburger, Walter Muschg, Richard Alewyn, Benno von Wiese, Friedrich Beißner, Wolfgang Kayser, Emil Staiger, Wilhelm Emrich und Hugo Kuhn - das ist die chronologisch geordnete Reihe der Gelehrten, die jeweils in Porträts von gut fünf bis zehn Seiten mit reich dokumentierenden Anmerkungsapparaten vorgestellt werden. Über die Auswahl kann man bekanntlich immer gut streiten; Vollständigkeit war hier nicht angestrebt, das ist zu akzeptieren, auch wenn man einen so bedeutenden Gelehrten wie Walther Rehm, der zugleich wohl eine der nobelsten Erscheinungen unter den deutschen Germanisten des 20. Jahrhunderts gewesen ist, durchaus vermißt. Unter den Autoren der Porträts finden sich erfreulicherweise ältere und jüngere Germanisten.

Wo Wilhelm Dilthey zu Recht unter die Germanisten gezählt wird, auch wenn dieser Wegbereiter des Gedankens der Literaturarchive sich immer als Philosoph und nicht als Philologe im eigentlichen Sinne verstanden hat, da muß man das Augenmerk freilich auch auf eine knappe Handvoll Gelehrter lenken, die als Klassische Philologen die deutsche Literaturwissenschaft um Leistungen bereichert haben, mit denen sie das Gros zünftiger Germanisten hell und anhaltend überstrahlen: Wolfgang Schadewaldt (1900 - 1974) etwa, dessen Winckelmannn-Studien, etwa zu Winckelmann als Exzerptor, sich noch heute so frisch wie bei ihrem Erscheinen lesen und dessen Studien zur Antikenrezeption bei Goethe und Hölderlin nicht überholt sind, gehört zu dieser Kategorie, vor allem als Begründer des Goethe-Wörterbuchs, oder Ernst Zinn (1910 - 1990) dessen in stupender Belesenheit gründenden Ausgaben der Werke von Rainer Maria Rilke, Rudolf Borchardt und Rudolf Kassner die editionsphilologischen Grundlagen für alle literaturwissenschaftliche Forschung zu diesen Autoren dauerhaft gelegt hat, während die geschwätzige Vielschreiberei des einst so erfolgreichen Benno von Wiese heute niemanden mehr interessiert.

Ein verbreiteter Irrtum hat sich auch hier eingeschlichen: Im Artikel zu Emil Staiger heißt es, die mit unglücklicher Nomenklatur sogenannte werkimmanente Interpretation sei eine in der Nachkriegszeit entstandene Reaktion auf die "politisierte" Germanistik der nationalsozialistischen Jahre. Mitnichten, sie ist lange vor der braunen Diktatur in der Zwischenkriegszeit entstanden. Dafür wird der eigentlich einschlägige "Sündenfall" Emil Staigers in seiner Biographie gar nicht erwähnt, nämlich seine Rolle bei der Unterdrückung von Elsie Attenhofers in Schweizerdeutsch geschriebenem Theaterstück Wer wirft den ersten Stein?, dessen Aufführung am Zürcher Theater Staiger zusammen mit anderen verhinderte - wohl auch aus einer in der Schweiz damals verbreiteten Sorge, dem Land könnte das österreichische Schicksal eines deutschen Überfalls drohen.[1]

Der insgesamt nach Auswahl und informativem Gehalt vorzüglichen Sammlung von Biographien[2] hätte man noch etwas mehr Courage an den Stellen gewünscht, wo es gilt, neben den wissenschaftlichen Leistungen auch deren "Sitz im Leben" zu verdeutlichen: Natürlich ist es richtig, daß Wolfgang Kayser 1960 einem "plötzlichen Tod erlag", aber muß man, wenn man dem Charakter dieses außerordentlichen Mannes, der nicht nur ein homme de lettres gewesen ist, sondern auch einen "neuen Forschertyp" verkörpert hat, "der Traditionen und Konventionen der deutschen Gelehrtentradition hinter sich ließ", nicht doch hinzufügen, in welchen Armen er verschieden ist? Die Wahrheit könnte hier gut verstehen helfen, warum die literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen Kaysers so gar nicht nach Papier schmecken, und sie hätte nach vielen Jahren so wenig mit Klatsch zu tun wie z.B. im Falle Max Webers, der auch in der jüngsten Kurzbiographie von Wolfgang J. Mommsen[3] wieder die bekannte Arbeitsehe mit seiner Frau Marianne führt, aber der Schweizer Pianistin Mina Tobler nie begegnet zu sein scheint, da der Artikel von ihr nichts zu sagen weiß.

Eine prinzipielle Frage, zu der dieser Band mit seiner zuchtvollen Aussparung alles Anekdotischen Anlaß bietet, lautet: Wie wird eigentlich die Gelehrtenanekdote als wichtiger Träger mündlicher Überlieferung gerettet? Sie trägt viel Markantes zur Wissenschaftsgeschichte bei, z.B. auch die Erinnerung an jenes Bonner Seminarfest, bei welchem dem kürzlich aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Richard Alewyn und dem Polygraphen Benno von Wiese von den Studenten schriftliche Aufgaben gestellt wurden: Alewyn kaute am Stift, von Wiese schrieb sofort los. Nach einiger Zeit von Wiese zu Alewyn: "Na, Richard, wie steht's?" Antwort Aleywns: "Wie immer, Benno, du schreibst, und ich denke."

Hans-Albrecht Koch

Daß Hans Pyritz, nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos einer der einflußreichsten Germanisten, in der vorstehend besprochenen Biographiensammlung übergangen ist, fällt nur deswegen nicht stärker ins Gewicht, weil zu Leben und Werk dieses Gelehrten gleichfalls im Jahr 2000 eine eigene umfassende Studie von Christa Hempel-Küter u.d.T. Germanistik zwischen 1925 und 1955 erschienen ist.

Der 1905 geborene Hans Pyritz, Sohn eines kleinen Postbeamten, Schüler des nationalkonservativen Gustav Roethe, der sich bei seiner Berufung nach Berlin das Recht ausgehandelt hatte, Frauen von seinen Vorlesungen auszuschließen, war nach einer Hilfskrafttätigkeit bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Habilitation, die Goethe und Marianne von Willemer galt, zum Nachfolger des Barockforschers Julius Petersen auf dem angesehensten Lehrstuhl des Faches an der Berliner Universität berufen worden.

Pyritz, der von seinen Schülern viel forderte, sie umgekehrt aber auch nach Kräften förderte, wirkte wohl auch polarisierend, beeindruckte nach übereinstimmendem Zeugnis vieler Hamburger Absolventen aber nachhaltig durch die kantige Kraft seiner Persönlichkeit: Auf dem Krankenlager, eine Zigarette an der anderen anzündend, so nahm er noch kurz vor seinem Tod akademische Prüfungen ab.

Petrarkismus in der deutschen Literatur, Barockforschung in der durch Julius Petersen begründeten Tradition des Berliner Seminars - eine stark selektive Barock-Bibliographie,[4] die nicht auf quantitative Vollständigkeit, sondern auf qualitative Auswahl angelegt und die nach dem Tode von seiner Witwe Ilse Pyritz bearbeitet worden ist, ist steckengeblieben -, eine retrospektive Goethe-Bibliographie[5] und die Erforschung des West-östlichen Divan bzw. der zugrundeliegenden Beziehung zu Marianne von Willemer, dazu die langjährige Herausgeberschaft des Euphorion - das sind die hauptsächlichen Felder, auf die sich die wissenschaftliche Lebensleistung von Hans Pyritz erstreckt hat.

Besonders gründlich erörtert die Verfasserin in ihrer Hamburger Habilitationsschrift - immer unter der Leitfrage Kontinuität versus Diskontinuität nationalkonservativer Anschauungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg - die Beiträge des Gelehrten zum Marianne-Thema und sein am Werk Goethes entwickeltes Konzept von Frühklassik, Hochklassik und Gegenklassik. Die Berufung von Pyritz, dessen öffentliche Probevorlesung bei der Habilitation immerhin das zeitgeistgemäße Thema Goethes Volksbewußtsein hatte, nach Hamburg war nicht ohne Probleme; das Schicksal des von den Nationalsozialisten verjagten jüdischen Gelehrten Walter A. Berendsohn, eines der Begründer der Exilforschung, bietet den Kontrast in der Geschichte des Hamburger Germanistischen Seminars.

Verzeichnisse der Vorträge und Veranstaltungen von Pyritz ergänzen die Bibliographien der gedruckten Quellen und machen den aus vielen unveröffentlichten Archivalien erarbeiteten Band zu einem Buch, das nicht nur für die germanistische Disziplingeschichte von Interesse ist, sondern auch die Aufmerksamkeit der mit Institutionsgeschichte befaßten Universitätshistoriker finden sollte.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Vgl. Kein einig Volk : fünf schweizerische Zeitstücke 1933 - 1945 / Ursula Käser-Leisibach ; Martin Stern (Hrsg.). - Bern [u.a.] : Haupt, 1993. - (Schweizer Texte ; N.F. 2), S. 11 - 91 und S. 458 - 465). (zurück)
[2]
Sie ergänzt damit bestens den folgenden, "mehr übergreifend denn personenorientiert ausgerichtet(en)" Band:
Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert / hrsg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Mit Beiträgen von Uwe Meves ... - Stuttgart [u.a.] : Metzler, 1994. - VIII, 792 S. ; 24 cm. - S. 742 - 767: Bibliographie zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft 1973 - 1989. - ISBN 3-476-00990-4 : DM 168.00 [2257]. - Rez.: IFB 95-1-079. [sh] (zurück)
[3]
In: Deutsche biographische Enzyklopädie. - München : Saur. - Bd. 10 (1999), S. 358 - 359. (zurück)
[4]
Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichte des Barockzeitalters / begr. von Hans Pyritz. Fortgef. u. hrsg. von Ilse Pyritz. - München [u.a.] : Saur. - 24 cm. - Ursprünglich in Faszikeln im Francke-Verlag Bern, München erschienen; ISBN der Faszikel 3-7720-1470-4 [0601]. - Tl. 1. Kultur- und Geistesgeschichte, Poetik, Gattungen, Traditionen, Beziehungen, Stoffe / bearb. von Reiner Bölhoff. - 1991. - XXVII, 738 S. - ISBN 3-317-01719-8 : DM 320.00. - Tl. 2. Dichter und Schriftsteller, Anonymes, Textsammlungen / bearb. von Ilse Pyritz. - 1985. - XXI, 809 S. - ISBN 3-317-01722-8 - ISBN 3-7720-1470-4 : DM 320.00. - Rez.: ABUN in ZfBB 28 (1981),4, S. 304 und 40 (1993),6, S. 535 - 540. - Gesamtregister. Bearb. von Reiner Bölhoff. - 1994. - 220 S. - ISBN 3-907820-63-0 : DM 248.00. - Rez.: IFB 94-3/4-439. (zurück)
[5]
Goethe-Bibliographie / begr. von Hans Pyritz. Fortgef. von Heinz Nikolai und Gerhard Burckhardt. - Heidelberg : Winter. - 1 (1965) - 2 (1968). (zurück)

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