Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
[ Bestand in K10plus ]

Literatur in Nazi-Deutschland


01-1-037
Literatur in Nazi-Deutschland : ein biografisches Lexikon / Hans Sarkowicz ; Alf Mentzer. - Erstausg. - Hamburg ; Wien : Europa-Verlag, 2000. - 381 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 3-203-82025-0 : DM 38.50
[6184]

Zur bibliographischen und biobibliographischen Erschließung der NS-Literatur ist in den letzten Jahren einiges geschehen, etwa durch die zweibändige Bibliographie von Hopster und Josting[1] oder das biobibliographische Lexikon nationalsozialistischer Dichter.[2] Was das hier anzuzeigende Lexikon, dem eine vorzügliche, rund 60 Seiten umfassende Einführung in die Thematik voransteht, von den genannten Werken grundsätzlich unterscheidet, ist die Tatsache, daß der Blick auf die gesamte Literatur der Zeit der NS-Diktatur gerichtet ist, so daß die Gleichzeitigkeit des Ungleichen in den rund 110 Artikeln zu einzelnen Autoren sichtbar wird: Stefan Andres, Gertrud von Le Fort und Mechthilde von Lichnowsky hier, Werner Beumelburg, Agnes Miegel und Heinz Steguweit dort, und dazu die vielen nicht ganz entschiedenen und nicht ein- für allemal der einen oder der anderen Seite zuzurechnenden Autoren, soweit sie während der NS-Zeit im Lande geblieben waren. Es sind also die Autoren der Inneren Emigration und die nationalsozialistischen vereinigt, dazu die "schwankenden Gestalten". So ergibt sich in der Tat ein weit getreueres Abbild der Zeit, als dies bei der üblichen Beschränkung von Darstellungen und Nachschlagewerken auf nur eine der beiden Seiten möglich ist. Neben den opportunistischen Parteigängern der Nationalsozialisten gab es sie tatsächlich, die Schriftsteller, "die zum Teil unter schwierigsten Bedingungen weitergeschrieben hatten. Werner Bergengruen, Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer, Oskar Loerke und Erich Kästner sind nur einige von ihnen. Und daneben gab es die Debütanten, die nach 1933 die literarische Bühne betraten oder zu Erfolgen gelangten. Dazu gehört haben Alfred Andersch, Wolfgang Borchert, Günter Eich, Peter Huchel, Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Karl Krolow, Luise Rinser oder Wolfgang Weyrauch, auch Max Frisch, der 1934 seinen ersten Roman nicht in der Schweiz, sondern in Deutschland veröffentlichte. Sie alle sind mit ihren Werken, ob sie es wollten oder nicht, Teil der Literatur in Nazi-Deutschland" (S. 6). Die umfangreiche Einleitung, die den biobibliographischen Artikeln voransteht, ist eine veritable Studie zur vielfach gebrochenen deutschen Literatur in der Berichtszeit. Zu Recht betonen die Autoren, daß die chaotische Zersplitterung der Kompetenzen auf verschiedene Einrichtungen der Literaturkontrolle für die Schriftsteller nur in Einzelfällen von Vorteil gewesen ist, im allgemeinen jedoch eine verstärkte Unterdrückung bedeutete; denn was eine Institution übersehen hatte oder übersehen wollte, das entging in der Regel nicht der Observation durch eine andere.

Abgesehen davon, daß in den Bibliographien die Namen der Herausgeber von Primärtexten und (Brief-)Editionen nicht genannt werden, sind sie in Auswahl und Genauigkeit im allgemeinen zuverlässig.[3] Durchweg sind die Artikel für ihren Umfang von nur wenigen Seiten ungewöhnlich reich an Details, nicht wahllos angehäuften, sondern sorgfältig recherchierten und gewichteten. Ein Beispiel statt vieler: Im Artikel zu Stefan Andres findet sich im Kontext der Darstellung von Andres' verschlüsselter Kritik am Dritten Reich auch ein Hinweis darauf, daß ein in dem Roman Der Mann von Asteri (Berlin, 1939) enthaltener Exkurs über das antike Sparta mit deutlich regimekritischen Zügen beim Vorabdruck des Werks in der Frankfurter Zeitung (1937) fehlt.

Tatsächlich gibt das Lexikon erstmals Auskunft über die Repräsentanten aller Gruppen, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschrieben haben, "vom Nazi-Barden bis zum jüdischen Schriftsteller, der seine bescheidenen Publikationsmöglichkeiten bis 1938 nutzte" (S. 6). Das Lexikon ist eines der nicht ganz wenigen Beispiele dafür, daß gelehrte Journalisten der Literaturwissenschaft bereitstellen, was man von der universitären Zunft lange vergeblich erhofft.[4]

Hans-Albrecht Koch


[1]
Literaturlenkung im "Dritten Reich" : eine Bibliographie / Norbert Hopster ; Petra Josting ; Joachim Neuhaus. - Hildesheim [u.a.] : Olms. - 24 cm [2120]. - Bd. 1 (1993). - XVIII, 500 S. - ISBN 3-487-09686-2 : DM 138.00. - Bd. 2. Eine annotierte Bibliographie von Bibliographien. - 1994. - 316 S. - ISBN 3-487-09878-4 : DM 138.00. - Rez.: IFB 94-3/4-440. (zurück)
[2]
Lexikon nationalsozialistischer Dichter : Biographien, Analysen, Bibliographien / Jürgen Hillesheim ; Elisabeth Michael. - Würzburg : Königshausen & Neumann, 1993. - 490 S. ; 24 cm. - ISBN 3-88479-511-2 : DM 78.00 [1952]. - Rez.: IFB 94-3/4-436. (zurück)
[3]
S. 110 ein Druckfehler mit falscher Jahreszahl im Artikel zu Rudolf Borchardt; mißlicher, daß aus der Werkausgabe des Verlags Klett nur der Band Reden angeführt wird, dessen dort genannte 2. Aufl. (1998) identisch mit der ersten ist. - Auch was die Titelauswahl der Forschungsliteratur angeht, ist die Bibliographie zu Rudolf Borchardt nicht auf dem neuesten Stand; dasselbe gilt für Stefan Zweig und einige andere Autoren. (zurück)
[4]
Vgl. auch die Rez. des Bandes durch den "Zeitzeugen" Iring Fetscher in: Frankfurter Allgemeine. - 01-01-09, S. 50 : Ill. (zurück)

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