1. Wie er in dem kurzen Vorwort S. 7 - 10 erläutert, will er gerade
nicht Zitate bringen, sondern "bildhafte" Redensarten, d.h. Ausdrücke,
mit denen etwas anderes gemeint ist als ihr ursprünglicher Sinn (z.B.
drakonisch nicht auf den athenischen Gesetzgeber Drakon, sondern auf
besonders harte Strafen bezogen). Er teilt diese in drei Gruppen ein:
(1) Einzelwörter, d.h. Namen (Adonis, Mentor) oder Sachen
(Schwanengesang) oder Zusammensetzungen bzw. Ableitungen (Pyrrhussieg,
gigantisch). Diese Gruppe macht etwa zwei Drittel der Stichwörter aus.
(2) Sprichwörtliche Redensarten (Auf Rosen gebettet sein; Glück im
Unglück). (3) Echte Sprichwörter (Eine Schwalbe macht noch keinen
Sommer; Zeit ist Geld). Zitate möchte er dann aufnehmen, "wenn sie im
Deutschen nicht mehr als Zitate empfunden werden und damit zu einem
Sprichwort geworden sind" (Liebe macht blind; Das Leben ist ein
Puppenspiel), und empfiehlt für sie im übrigen die Zitateverzeichnisse
von Bartels[3] und Bayer.[4] Daß diese theoretische Aus- und Eingrenzung
in ihrer Realisierung nicht ganz überzeugt, ist unwesentlich.
2. Er bringt relativ wenige (ca. 300) Lemmata, die er umso
ausführlicher kommentiert und mit Belegstellen dokumentiert und die
auch oft als Aufhänger für weitere Redensarten (z.B. Uriasbrief unter
Bellerophonsbrief) dienen. Diese Anlage ist mit dem Buch von Bartels
vergleichbar.
3. Einzelne Lemmata sind zusätzlich illustriert durch insgesamt 19
Lithographien von Honoré Daumier aus dem Zyklus Histoire ancienne
(1842 - 1843), auf denen griechische Mythen in dem für Daumier
typischen, leicht karikierenden und jedenfalls ganz unheroischen Stil
dargestellt werden. Zusätzlich zeigt der Einband eine moderne Variante
des Bildmotivs "Europa mit dem Stier", die anscheinend den Artikel
Hörner aufsetzen illustrieren soll, denn ein Artikel "Europa" fehlt.
Jeder Artikel ist vierteilig aufgebaut. Die Kopfzeile bietet das Lemma
fett in Großbuchstaben. Als Teil 2 folgen eine erklärende
"Übersetzung", d.h. ein nicht-bildliches Äquivalent, und - vor allem
bei Ein-Wort-Lemmata - weitere Redewendungen mit dem Lemma.[5] Unter
MUSE werden S. 135 - 136 auf fast einer halben Seite Ausdrücke wie
Musentempel, von der Muse geküßt werden, die zehnte Muse aufgeführt
und "übersetzt". Daraus ergibt sich ein größerer Informationsreichtum,
als die Zahl von ca. 300 Lemmata vermuten läßt.
Der Hauptteil (Teil 3) besteht in einer sorgfältigen Erklärung der
urspünglichen griechischen und ggf. lateinischen Bedeutung, der
Entstehung des bildlichen Gebrauchs und der Verwendung im Deutschen,
meist mit Angabe des frühesten deutschen Belegs gemäß dem Grimmschen
Wörterbuch. Der übermäßig klein und eng gedruckte vierte Teil
schließlich ist in folgende Rubriken gegliedert, die ohne Absätze
aneinandergehängt sind: weiterführende Literaturangaben (hier vor
allem Hinweise auf verwandte Nachschlagewerke wie Bartels, Büchmann,[6]
Röhrich[7]); Anmerkungen zum Hauptteil (vor allem Stellennachweise);[8]
Rezeption des Motivs in der Literatur-, Musik- und Geistesgeschichte
(hier meist nur Hinweise auf Standardwerke zur Stoff- und
Motivgeschichte, aber auch Notizen wie z.B. unter Medusenhaupt
"Popsong: Die Gruppe UB 40 besang 1980 Margaret Thatcher als 'Madam
Medusa'" oder unter Titan Erwähnung der amerikanischen Rakete und des
Schiffs "Titanic");[9] ausgewählte Textbeispiele aus der Neuzeit;
Entsprechungen in anderen modernen Sprachen (hier finden sich sogar
niederländische und russische - in kyrillischer Schrift und
transskribiert - Äquivalente).
Die alphabetische Anordnung der Artikel (Ä Ö Ü wie A O U) ist bei
Ein-Wort-Lemmata unproblematisch, nicht aber bei mehrteiligen
Ausdrücken, denn über das für die Sortierung maßgebliche
hauptsinntragende Wort kann man manchmal geteilter Meinung sein. So
steht Im Trüben fischen unter F, Goldene Worte und Goldenes Zeitalter
unter G, aber Goldene Berge versprechen unter B. Das lateinische ex
ungue leonem (pingere) erscheint unter K wie Klaue, Pylades als der
sprichwörtliche treue Freund unter O wie Orestes. Es gibt keine
Verweisungen zum Auffangen solcher Zweifelsfälle (nur Querverweise
zwischen Artikeln) und leider auch keinerlei Register!
Über die Auswahl der Lemmata gemäß dem im Vorwort entwickelten
theoretischen Konzept kann man bei einem solchen Werk immer
verschiedener Meinung sein; z.B. ist nicht ganz einzusehen, warum
Glück im Unglück aufgenommen ist, "Der Würfel ist gefallen" aber
nicht. Etwa ein Viertel der Lemmata sowie zahlreiche der im zweiten
Teil der Artikel aufgeführten Ausdrücke hat Pohlke mit Sternchen als
"wenig oder fast nicht mehr in Gebrauch" (S. 10) gekennzeichnet, also
wohl vor allem wegen ihres Vorkommens in älterer Literatur
berücksichtigt; darunter befinden sich etliche, die den wenigsten
Lesern als sprichwörtlich geläufig sein dürften, wie z.B.
Thyrsusschwinger, Zo‹lus. Andrerseits werden bekannte Redensarten
vorgeführt, von deren griechischem Ursprung die meisten Leser
überrascht sein dürften, wie z. B. unter aller Kanone (S. 107), was
nicht mit Artillerie, sondern mit dem Kanon zu tun hat.
Die große Stärke des Buches liegt in der instruktiven, genauen,
zuverlässigen und verständlichen Kommentierung und Dokumentation der
Redensarten. Pohlke möchte dabei offenbar Lesern mit und Lesern ohne
Griechisch- und Lateinkenntnisse gerecht werden. Alle antiken Wörter
und Zitate werden in Übersetzung und meistens auch im Originaltext
gebracht. Die meisten Übersetzungen scheinen von Pohlke selbst zu
stammen und sind genau und korrekt.[10] Nur für Homer wird manchmal auf
die populäre, aber ungenaue Übersetzung von Voss zurückgegriffen, die
Pohlke besser auch weggelassen hätte.[11] Griechische Wörter, Wendungen
und Namen werden transskribiert; bei Namen werden ggf. auch die
lateinische und die deutsche Form angegeben (z.B.
Kerberos/Cerberus/Zerberus). Sehr ausgiebig verwendet der Autor
Unterstreichungen zur Angabe der Betonung antiker Wörter sowie des
Versakzents bei metrischen Zitaten.[12] Auch die wenigen Zitate aus
neueren Fremdsprachen werden, soweit zweckmäßig, zweisprachig gebracht
(z.B. Dante S. 91, Anm. 2); dieser Service sollte auch auf
Mittelhochdeutsches angewendet werden (S. 41, Anm. 2).
Ausschlaggebend für das positive Gesamturteil ist die hohe Qualität
der Erläuterungen zu den Redensarten und der Dokumentation durch die
Belegstellen und der daraus resultierende hohe Informationsgehalt.
Zwar ist bei den Nachweisen im Kleingedruckten "Vollständigkeit [...]
verständlicherweise weder jemals erreichbar noch überhaupt
beabsichtigt" (S. 9), doch sind die Belege jedenfalls instruktiv
ausgewählt (mit besonderer Berücksichtigung der frühesten).
Druckfehler oder ähnliche Versehen muß man sehr lange suchen. Negativ
anzumerken sind das Fehlen von selbständigen Verweisungen und von
Registern sowie der allzu klein und eng gedruckte und dadurch
unübersichtliche vierte Teil der Artikel, wo das Auge z.B. oft Mühe
hat, die Anmerkungsnummern zu finden.
Bernd Bader
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