"3000 Stichwörter" verspricht der Untertitel, und das stimmt auch: aber mehr als zwei Drittel davon sind Verweisungen, wie die Auszählung ergibt. Dem Trend, das Register eines Lexikons in den Haupttext zu integrieren und mit der riesigen, für den Leser aber unerheblichen Gesamtzahl der Eintragungen zu werben, entzieht sich auch der renommierte Herder-Verlag nicht. Bleiben etwa 800 Artikel mit einer Länge zwischen zwei Zeilen und mehreren Seiten. Das ist der übliche Umfang für ein regionales volkskundliches Lexikon - das hier (IFB 01-1-120) besprochene Dictionary of English folklore von Simpson und Roud umfaßt knapp 1000 Artikel. Die Lektüre des Vorworts und die kursorische Durchsicht des Bandes zeigen, daß Feste und Bräuche in diesem Lexikon vorwiegend unter kirchlichem Blickwinkel gesehen und dargestellt werden. Zielgruppe ist der am kirchlichen Brauchtum im Jahreslauf Interessierte: "Die berufliche Erfahrung und mein langjähriges Interesse an religiösem Brauchtum haben mich veranlaßt, die Fragen und Antworten zu sammeln, zu ergänzen und zu systematisieren, um sie interessierten Menschen zugänglich zu machen, die die Suche nach Antworten noch nicht aufgegeben haben", schreibt Becker-Huberti im Vorwort (S. 5). Religiöses Brauchtum scheint ihm lange Zeit verschollen gewesen zu sein, "weil Aufklärung und wechselnde Ideologien bis zum kritischen 68er-Bewußtsein wie ein breiter Festungsgraben das Symboldenken isolierten." "Inzwischen regen sich wieder Neugier und Interesse. Eine neue Generation ist herangewachsen, die mit ihren Fragen bei den 'Hinterbliebenen' der 68er-Generation sich nicht immer gut bedient fühlt ... Bräuche sind wieder in." (S. 6). Die Zielrichtung des Bandes liegt in der Seelsorge, nicht in der urteilsfreien Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Mit dieser Einschränkung ist ein vorzügliches Kompendium entstanden, das eine Art Volksbuch katholischen Brauchtums darstellt, mit gelegentlichen Seitenblicken in die evangelischen und die nichtkirchlichen Bereiche.
Der Band ist, auch wenn das Material alphabetisch geordnet ist, am Kirchenjahr orientiert; das Handbuch wird denn auch durch einen 22-seitigen Jahreskalender des katholischen Christen beschlossen, in dem die Festtage nach dem römischen Generalkalender und die kirchlichen Eigenfeiern der deutschsprachigen Bistümer zusammengestellt sind.
Der Aufbau der Artikel folgt keinem festgelegten Prinzip;
kalendarische Tabellen und eine Vielzahl von Abbildungen lockern das
zweispaltig gesetzte, großzügige Layout weiter auf.[2] Längere
Eintragungen (mehr als fünf Spalten) behandeln die Hauptfeste
Weihnachten, Ostern und Pfingsten, wobei zu jedem Hauptartikel eine
Fülle von kleineren Zusätzen unter jeweils abgewandelten Lemmata
tritt, so daß dem einzelnen Festkreis insgesamt wesentlich mehr Raum
zukommt. Die längsten Einzelartikel sind die zu Maria und zu
Marienfeste; ausführlich behandelt werden der Karneval - getrennt nach
den Stichworten Karneval und Karneval international, wozu noch
zahlreiche Zusammensetzungen mit Narren- treten; das Martins- und
Nikolausbrauchtum, die Passionszeit. Aber auch die Wochentage und die
Monate wie überhaupt Kalendarisches, schließlich einzelne Heilige
werden ausführlich dargestellt. Letztere nehmen breiten Raum ein:
selbst von der Kirche nicht Anerkannte und Vergessene wie Wilgefortis,
die Heilige Kümmernis, erhalten einen eigenen Artikel.[3] Höchst
erfreulich ist auch die Behandlung volkskundlicher Phänomene, die
bisher anderweitig noch wenig lexikalische Beachtung gefunden haben,
etwa der Gartenzwerg, der auf die Figur des Nikolaus zurückgeführt und
dessen Würdigung (S. 131 - 132) durch ein vom Autor selbst
beigesteuertes Photo[4] bereichert wird. Mit spürbarem Vergnügen hat der
Autor auch in einer eigenen Eintragung die Reittiere des heiligen
Nikolaus zusammengestellt: Esel, Schimmel, Hirsch und Rentier,
letzteres kein Reit-, sondern ein Zugtier für den Schlitten. Acht
Rentiere ziehen den Nikolausschlitten nach Clement Clarke Moore
(1882); sie haben jedes einen Namen, aber Becker-Huberti nennt sie uns
leider nicht (S. 347 - 348). Und neben den Artikeln, die sich mit dem
traditionellen Verständnis des Weihnachtsfestes beschäftigen, gibt es
die Eintragungen Kommerzialisierung von Weihnachten und alternative
Weihnacht, die sich kritisch mit diesen Themen befassen; auch über die
Nazi-Weihnacht und die Sozialistische Weihnacht geben die
entsprechenden Artikel Auskunft.
Überall wird dabei das Bestreben spürbar, Disparates
zusammenzuschließen, Zusammenhänge aufzuzeigen und dabei den Rekurs
auf das (katholisch-)christliche Brauchtum nicht aus den Augen zu
verlieren. Dabei werden für Bräuche, die längst säkularisiert sind und
für den Laien nichts Christliches mehr an sich haben, immer wieder die
kirchlichen Wurzeln freigelegt - die manchmal anders aussehen, als die
Volksweisheit es sich träumen läßt; wenn uns das Lexikon
beispielsweise darauf hinweist, daß die beliebte Kreideaufschrift "C +
M + B" über der Haustür nicht, wie brauchtümlich angenommen, "Caspar +
Melchior + Balthasar" nach den Heiligen Drei Königen, sondern Christus
Mansionem Benedicat auszuschreiben sei ...
Als Beispiel für einen mittleren Artikel sei das Stichwort Muttertag
herausgegriffen. Das Lexikon widmet ihm anderthalb Spalten: Der
Muttertag ist "jung und säkularen Ursprungs. Seine Erfinderin war Miss
Anna Jarvis aus Philadelphia, USA, im Jahr 1907." 1914 in den USA zum
offiziellen Feiertag erklärt, breitete er sich ab 1917 über die
Schweiz in Europa und seit 1922 in Deutschland aus. Aber der Autor
macht Vorbehalte geltend. Der Tag habe "einen Beigeschmack bekommen,
weil ihn die Nationalsozialisten in ihr rassistisches Gedankensystem
einbauten"; und er verweist auf das im Volksmund sarkastisch
"Karnickelkreuz" genannte Mutterkreuz des NS-Staates. Heute werde die
Mutter von den Kindern "oft leider nur an diesem Tag" in den
Mittelpunkt gerückt. "Blumenhandel-, Süßwaren- und Schmuckindustrie
haben diesen Tag entdeckt, um immer neue 'Muttertagsgeschenke' zu
kreieren. Von vielen wird dieser Tag deshalb zwiespältig empfunden.
Manche ertragen ihn, weil sie Ausstrahlung auf die restlichen 364 Tage
des Jahres hoffen." Der säkulare Muttertag habe jedoch einen
religiösen Vorläufer, die Feier des Lätare-Sonntags im England
Heinrichs III. (1216 - 1239). Er wurde als "mothering sunday"
begangen, "an dem der 'Mutter Kirche' für ihre Mutterschaft gedankt
wurde. Zu diesem Feiertag der Kirche gehörte es schon damals, daß der
leiblichen Mutter an diesem Tag Dank ausgedrückt wurde." Dieser Dank
wurde durch den Simnel-Cake,[5] den Semmelbrösel-Kuchen, sichtbar
gemacht. Eine neuere englische Bewegung knüpft an diese Tradition an.
- Das Lexikon von Beitl (s.u.) widmet dem Stichwort drei Spalten; die
dort verzeichnete Literatur fehlt in der Bibliographie bei
Becker-Huberti. Beitl nennt nicht nur den englischen Lätare-Brauch,
sondern gibt darüber hinaus einen Überblick über verwandtes Brauchtum
in Thüringen, den Alpenländern und Frankreich und fährt fort: "Man
darf ... die alte Geltung eines Frühlingssippenfestes annehmen, dessen
Akzent durch kirchlichen Text und Brauch auf die Mutter fiel" - ein
Gesichtspunkt, mit dem sich unser Lexikon nicht befaßt hat. Genaueres
über die derzeitige Verbreitung des Muttertags kann Beitl dann anhand
der Karten des Atlas der deutschen Volkskunde dartun. Verfolgen wir
den Brauch weiter in das oben erwähnte Dictionary of English folklore
(S. 247 - 248), so finden sich hier Mother's day und Mothering sunday
in getrennten Artikeln, und die Autoren erklären: "It is unlikely that
there is a connection between the two customs". Daß das Handwörterbuch
des deutschen Aberglaubens,[6] das bei so manchen Zweifelsfragen den
Ausschlag geben kann, keine Eintragung zum Muttertag enthält, zeigt
zunächst nur, daß keine Volksglaubenselemente damit verbunden sind;
und so scheint sein rein säkulares Wesen zumindest ex negativo
erschlossen. Die von Becker-Huberti und vor ihm von Beitl angenommene
Verbindung zwischen den Lätare-Feiern und dem Muttertag läßt sich,
will man den englischen Autoren und dem Handwörterbuch folgen, kaum
aufrechterhalten.
Bei sonst großzügiger Illustrierung[7] hat der Autor leider darauf
verzichtet, die Verbreitung von Bräuchen durch Karten anschaulich zu
machen, sei es aus dem Material des Atlas der deutschen Volkskunde,
sei es aus anderer Quelle. So wird etwa zum Stichwort Dreikönigssingen
ein Aufsatz von Dietmar Sauermann in der Rheinisch-Westfälischen
Zeitschrift für Volkskunde bibliographisch vermerkt, das instruktive
Kartenmaterial aber nicht genutzt. Gerade bei Bräuchen bietet sich die
kartographische Darstellung als hervorragendes Werkzeug der
Visualisierung geradezu an, auch wenn die Ursprungskarten nicht immer
Muster der Übersichtlichkeit sein mögen.
Eine deutschsprachige Bibliographie von 423 Titeln und acht gesondert
genannten lateinischen Quellenwerken ermöglicht einen Überblick über
die ausgewertete Literatur und gibt, wozu der Autor ausdrücklich
anregt (S. 6), dem Leser die Möglichkeit zu weiterer Information. Dazu
wird dieser allerdings eine Bibliothek aufsuchen müssen, denn die
Bibliographie enthält reichlich ältere Titel und nennt zahlreiche
Zeitschriftenaufsätze. Die Auswahl des Materials entspricht der
besonderen Sichtweise des Bandes. Der Volkskundler wird daher den
einen oder anderen vertrauten Titel vermissen.[8] Die sonst bei Lexika
dieser Art nicht übliche ausschließliche Zusammenfassung der benutzten
Literatur am Ende des Bandes erweist sich allerdings nach Auffassung
des Rezensenten als weniger günstig. Bibliographische Hinweise
zumindest unter den Hauptartikeln könnten den Wert des
Nachschlagewerkes verbessern und seine Benutzung erleichtern.
Der generalisierende Titel täuscht darüber hinweg, daß unsere
Gesellschaft nicht mehr einheitlich durch überliefertes Brauchtum
bestimmt wird, sondern einerseits hochsäkularisiert ist, andererseits
mit Minderheiten aus Kulturkreisen lebt, die keine Tradition mit dem
katholischen Kirchenjahr verbindet. Ihre Feste und Bräuche finden hier
keinen Platz. Der Einwand trifft weniger den Autor als vielmehr eine
gesellschaftliche Situation, in der das Volk längst zur Bevölkerung
geworden ist und durch Sitte und Brauch postulierte Gemeinsamkeiten
der Beliebigkeit und der Mode verfallen sind: das von Becker-Huberti
seinem Buch im Vorwort vorangestellte Dictum "Bräuche sind wieder in"
(S. 6) mag denn auch deshalb nicht überall den positiven Klang haben,
den der Autor ihm gibt.
Unabhängig von inhaltlichen Betrachtungen ist ein formales Problem,
das nicht nur dem Rezensenten, sondern auch dem Benutzer des Werkes
Kopfzerbrechen macht. Gemeint ist der Umgang mit Verweisungen. Der
Text macht in hohem Maße Gebrauch von ihnen, die Seiten des Buches
sind übersät mit Angaben wie Donstag, gumpiger -> Fastnachtszeit oder
Nubbel -> Fastnachtsanfang. Aber leider ist der Leser, der die
betreffende Stelle aufschlägt, oft keinen Schritt weitergekommen;
manchmal findet er eine flüchtige Erwähnung, die keinen Aufschluß
gibt, manchmal wird er lediglich auf eine neue Verweisung geführt,
manchmal trifft er auf ganze Bündel von Verweisungen, ohne daß er je
eine Sacherklärung erreichte. Die stringente Verweisungsstruktur ist,
vielleicht unter Vertrauen auf ein überfordertes EDV-System, fast
völlig abhanden gekommen. Das sollte bei einer weiteren Auflage, die
dem so lesenswerten Band sehr zu wünschen ist, unbedingt korrigiert
werden.
"Das Herz macht den Kritiker, nicht die Nase" (Max Müller[9]). Die bei
der Durchsicht des Bandes aufgefallenen Unebenheiten sollen und können
nicht verdecken, daß wir es hier mit einem höchst nützlichen,
professionellen und gescheiten Wörterbuch zu tun haben - wenn auch
nicht in erster Linie mit einem volkskundlichen. Es wird den Bestand
überall dort bereichern, wo praktisch-theologische Fragen und
kirchliche Themen in Lehre und Forschung eine Rolle spielen.
Willi Höfig
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