Aus dem Fundus seiner umfassenden Kenntnisse entwirft der Autor ein Panorama der fünfhundertjährigen Geschichte lateinamerikanischer Literatur. Die Kapitel sind einheitlich strukturiert: kurze Darstellung des sozio-historischen Kontextes, kurze Einführung in literarische Strömungen nach Gattungen (Lyrik, Narration, Theater), stichwortartig konzentrierte Artikel zu namhaften Schriftstellern und zentralen Werken. Die Textanalysen folgen einem diskurstheoretischen Ansatz. Die gesonderte Darstellung der brasilianischen Literatur in jeweils eigenen Kapiteln trägt der Tatsache Rechnung, daß der literarische Diskurs in portugiesischer Sprache erfolgt und damit intertextuelle Bezüge zu spanischsprachigen Werken seltener nachweisbar sind. In der Betonung der diskursiven Besonderheit ist hingegen die Entscheidung für die separate Darstellung der Frauenliteratur (z.B. S. 356, 373, 401, 465, 421) nicht unproblematisch, da sie eine Ausgrenzung der Literatur des "anderen Geschlechts" aus dem männlich dominierten Literaturkanon eher begünstigt.
Weniger überzeugend auch die eurozentristische Kategorienbildung in der hier vorgenommenen Periodisierung: I. Die Literatur der Entdeckung und Conquista; II. Die Kolonialliteratur im 16. Jahrhundert; III. Das barocke 17. Jahrhundert; IV. Das aufklärerische 18. Jahrhundert; V. Das 19. Jahrhundert von Neoklassizismus bis Modernismo; VI. Epischer Realismus versus lyrische Avantgarde: die kontinental bedeutsamen Strömungen von der mexikanischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht erst der intensiv vermarktete "magische Realismus" (Kap. VII. Gesamtlateinamerikanische Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: von der Verinnerlichung über den magischen Realismus zum Neuen Roman) der es erlaubt, von einer spezifisch lateinamerikanischen Schreibweise zu sprechen. Dill rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Hinweis auf das Vorherrschen europäischer Elemente infolge des kolonialen Charakters der Wirtschaft, Politik und Literatur im klassischen Kolonialismus und auf den französischen und angloamerikanischen Einfluß im 19. Jahrhundert der Industrialisierung, d.h. kulturelle Dependenzen der kolonialen Peripherie sind seiner Ansicht nach für die Kanonbildung lateinamerikanischer Literaturen konstitutiv. Der daraus abgeleitete "andere Literaturbegriff" (S. 11) schließt für die Kolonialphase Historiographie und Essay ein und berücksichtigt die Wechselbeziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Orale Volksliteratur des 16. Jahrhunderts, S. 36 - 37). Vom Erwartungshorizont der immer noch am Boom lateinamerikanischer Literatur orientierten Leserschaft ausgehend, legt er den inhaltlichen Schwerpunkt auf die letzten 50 Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts (Berichtszeitraum bis 1991), "um nationale Eigenheiten vor dem Hintergrund gesamtlateinamerikanischer Strömungen herauszuarbeiten" (Kap. VII, S. 307 - 475). Kenntnisreich beschreibt der Autor den mexikanischen Revolutionsroman, dem schon zu DDR-Zeiten sein Forschungsinteresse galt (S. 218 - 248). Verdienstvoll ist es, daß Textproben (Lyrik- und Romanzitate) grundsätzlich sowohl im Original als auch in deutscher Übertragung angeführt wurden.
Der Wunsch nach größtmöglicher Vollständigkeit in dem vermutlich vom
Verlag vorgegebenen Umfang von 500 Seiten mag den Autor bewogen haben,
nicht nur in biographischen Kurzwürdigungen der Autoren, sondern auch
bei der Würdigung einzelner Werke in einen fast telegrammartigen Stil
unter Auslassung von Artikeln und Personalpronomina zu verfallen.[3]
Seine sprachlich-syntaktische Askese mag von hoher Inhalts- und
Gedankendichte zeugen, den Lektüregenuß steigert sie nicht gerade.
Druckfehler[4] können in einer späteren Auflage ebenso behoben werden
wie stilistische Unebenheiten.[5]
Ein Namenregister (leider ohne Werktitelverzeichnis) erschließt den
Band, Namensansetzungen folgen dem allgemein Gebräuchlichen und der
bekannten Zitierform, Pseudonyme werden jeweils um den wirklichen
Namen (Clarín, Pablo Neruda) ergänzt. Bibliographische Hinweise auf
weiterführende Literatur finden sich am Ende der Kapitel, eine kurze
Auswahlbibliographie überwiegend deutschsprachiger Titel mit Rücksicht
auf ein allgemein interessiertes Publikum ohne Spanischkenntnisse
wurde vorangestellt.
Die für den (studentischen) Privatgebrauch konzipierte
Überblicksdarstellung ist zweifellos als erster Einstieg hilfreich und
daher auch für die Lehrbuchsammlungen der Universitätsbibliotheken
empfehlenswert. Format und Aufmachung führen allerdings zu einem
erhöhten Verschleiß bei der Aufstellung in Freihandregalen.
Regine Schmolling
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