Das vorliegende Lexikon paßt nicht ganz in das bisherige Schema, insofern es zum einen starke Überschneidungen zu anderen Bereichen hat, z.B. dem genannten Metzler-Philosophen-Lexikon (nach dem Vorwort sind aus dem Metzler-Lexikon antiker Autoren[2] sogar Artikel übernommen worden), zum anderen eine größere Breite zu erreichen sucht und infolgedessen auch diverse kürzere Artikel enthält. Die im Metzler-Philosophen-Lexikon zu knappen Literaturangaben sind hier - wie schon bei den Vorgängern - etwas ergiebiger, ohne ausführlich zu sein.
Das Lexikon hat mit 2000 Jahren christlichem Denken einen sehr umfassenden Gegenstandsbereich. Es faßt ihn zudem noch weit auf, indem nicht nur Theologen oder Philosophen aufgenommen werden, sondern auch Gestalten der kirchlichen Hierarchie, der Frömmigkeitsgeschichte oder aus dem sozialen und politischen Bereich. Schließlich überschreitet man auch den Bereich der "Autoren" (Untertitel), wenn prägende Heiligengestalten etwa der frühen iroschottischen Geschichte aufgenommen werden. Mit den Zwickauer Propheten geht man in den Bereich der Personengruppen, mit Sibyllinische Orakel schließlich reißt man den Bereich anonymer Schriften an. Zudem ist der regionale Umfang weit gefaßt: Man findet Vertreter der libanesischen Kultur, des fernöstlichen Denkens usw. All das kann natürlich nicht mit gleichmäßiger Breite abgehandelt werden.
Obwohl im Vorwort angesprochen - wenn auch nicht begründet - finde ich es nicht überzeugend, daß Denker wie Schopenhauer hier aufgenommen sind. Abgesehen davon, ob er selbst das Etikett über seinem Denken für wünschenswert gehalten hätte, wird ihn normalerweise in dem Lexikon niemand suchen. Warum Khalil Gibran aufgenommen wurde, ist mir auch nach Lektüre des Artikels nicht klar; eine Okkultistin wie Helena Blavatsky gehört - wohl auch nach ihrem Selbstverständnis - nicht hinein. Nun mag man einen zusätzlichen Informationsgehalt nicht rügen. Aber wenn "christliche Denker" präsentiert werden, deren Bezug in der kritischen Beschäftigung mit christlichen Gehalten besteht, dann gibt es viele, viele gewichtigere Gestalten, etwa aus dem jüdischen Denken: Daß man leichter Christentumskritiker außerhalb des Judentums berücksichtigt, als daß man jüdische Denker, die sich intensiv mit dem Christentum befaßt haben, unter das Dach des Titels aufnimmt, ist zwar verständlich, zeigt aber doch wohl, daß Inhalt und Titel in diesen Fällen eben nicht gut zusammenpassen. Schließlich fehlen aber auch genügend genuin christliche Denker, die man stattdessen hätte aufnehmen sollen (etwa im katholischen Denken des 20. Jahrhunderts Y. Congar, M.-D. Chenu, É. Gilson, B. J. F. Lonergan, - die Reihe ließe sich sehr leicht fortsetzen). Dazu kommt, daß nicht immer einsichtig ist, warum man bei vergleichbaren Denkern sehr unterschiedlich umfangreiche Artikel vorlegt.
Problematisch ist in manchem das Vorwort. Es ist m.E. zu selbstbezogen und in manchen Aussagen wenig vertrauenswürdig. Hier wäre stattdessen eine genauere Begründung von Auswahl und Machart des Lexikons sinnvoll gewesen.
In der Durchführung des Lexikons relativiert sich manches. Sicher kann
man oft andrer Meinung sein - besonders bei den umfangreicheren
Artikeln, die deutlicher Wertungen geben oder gar sehr prononcierte
Deutungen vorstellen (z.B. Kant). Gegenüber den Kurzartikeln, die sich
im Grunde auf biographische Information beschränken (müssen) -
wenngleich nicht alle: Es gibt auch sehr "essayistische" unter ihnen
-, steht hier ein anderes Konzept in Spannung, nämlich das des
"Lesebuchs" mit dem Versuch, auch einen gut lesbaren, essayistischen
Stil zu bieten. Das hat manchmal seine Vorzüge, ergibt gelegentlich
lustige Bilder (so wenn Augustinus "im Fluge gepredigt" haben soll);
ist manchmal aber auch rätselhaft: Was ist Pascals "entflammte Logik"?
Der Satz zu Gibran: "Eine seltene geniale Mischung von Orient und
Okzident, aus dem ihm die Pariser Luft Flügel verliehen hat", mag ein
Übersetzungsproblem sein; die Einleitung zu Dante "D. wird gern als
Erlebnisdichter mit erhabener Büste oder als konformistischer
Metaphysikdesigner behandelt" finde ich nicht gut erträglich. Hier
wäre etwas Redaktion in einer eventuellen Neuauflage wünschenswert.
- Fehler habe ich dagegen kaum gefunden.[3]
An den Verlag: Witzig ist, wie das Inhaltsverzeichnis - das freilich
nur aus 6 Zeilen besteht - auf der Impressumsseite (!) untergebracht
ist. Wer es dort findet, hat wirklich Spürsinn! Der Versuch, die
Problematik des Lexikons zu thematisieren sollte aber nicht übersehen
lassen, daß viele sehr gute Artikel enthalten sind - von Blondel bis
Origenes, um zwei zufällige Beispiele zu nennen -; daß sehr viele
Personen hier etwas ausführlicher behandelt sind, die man in den
klassischen theologischen Enzyklopädien z.T. nur in Sammelartikeln
findet; daß das Einbeziehen von Randbereichen (nicht der Schritt
darüber hinaus!) sinnvoll ist; daß das Aufgeben des Eurozentrismus
lobenswert ist etc. All das macht die Anschaffung des Werks schon in
Bibliotheken mit einem kleineren Informationsbestand zur
Religion/Theologie sinnvoll. Als Lesebuch ist es außerordentlich
anregend - gerade auch indem es zu Widerspruch reizt. Um einem
wirklich umfassenden lexikalischen Anspruch für die angeschnittenen
Bereiche Genüge zu tun, müßte es wohl mindestens fünfbändig sein, aber
auch wohl einige Willkürlichkeiten reduzieren.
Albert Raffelt
Zurück an den Bildanfang