Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Russkie pisateli 1800 - 1917


00-1/4-211
Russkie pisateli 1800 - 1917 : biograficeskij slovar' / glavnyj red. P. A. Nikolaev. - Moskva : Naucnoe Izdat. "Rossijskaja Enciklopedija". - 27 cm. - (Russkie pisateli 11 - 20 vv.). - ISBN 5-85270-011-8. - (Kubon & Sagner, München)
[1061]
1. A - G. - 1989. - 671 S. : Ill. - DM 57.00 (Kubon & Sagner)
2. G - K. - 1992. - 621 S. : Ill. - ISBN 5-85270-064-9 : DM 54.00 (Kubon & Sagner)
3. K - M. - 1994. - 590 S. : Ill. - ISBN 3-85270-112-2 : DM 54.00 (Kubon & Sagner)
4. M - P. - 1999. - 703 S. : Ill. - ISBN 3-85270-256-0 : DM 65.00 (Kubon & Sagner)

Nach längerer Pause ist 1999 Bd. 4 dieses russischen Autorenlexikons der russischen Literatur für den Zeitraum 1800 bis 1917 erschienen. Das vom Moskauer Enzyklopädieverlag in Verbindung mit dem Institut für die Russische Literatur der Russischen Akademie (Puskinhaus) erarbeitete Werk ist das umfassendste und das gründlichste der während der letzten Jahre in Rußland erarbeiteten Literatur-Lexika überhaupt. Der Inhalt reicht über schöngeistige Literatur hinaus. Aufgenommen sind außer Prosaikern, Dramatikern und Lyrikern, einige Literaturkritiker, wissenschaftliche Publizisten und Philosophen. Die ersten vier Bände sind in dem politischen Übergangsjahrzehnt 1989 - 1999 erschienen. Der neue Band ist frei von den ideologischen Beschränkungen der Sowjetzeit, die anfangs den Wert noch beeinträchtigten. Im ersten Band wurden die staatlich gelenkte Diffamierung von Anna Achmatova 1946 und die Verhaftungen von Nikolaj Berdjaev noch nicht erwähnt. In dem dritten Band aber wurde sogar der Kosakengeneral Petr Krasnov mit seinen 41 Büchern, meist Romanen, objektiv dargestellt, ein wichtiger Emigrant, der sich allerdings im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten in führende Position hatte bringen lassen. Im vierten, im September 1997 abgeschlossenen Band, werden die Diffamierungen Boris Pasternaks nach der Nobelpreisverleihung offen als Teil eines "von der Kulturabteilung des ZK KPdSU inszenierten politischen Skandals" bezeichnet. Solche durch den politischen Wandel ermöglichten Erweiterungen des Bildes bekannter Autoren und zusätzliche Aufnahmen bis dahin verfemter Schriftsteller führten dazu, daß dieser vierte Band nicht, wie ursprünglich geplant, der abschließende ist, sondern daß insgesamt mindestens sechs Bände mit etwa 4500 statt 3500 Autoren erscheinen sollen.

Die Artikel sind relativ lang, enthalten viele biographische Details, bibliographische Daten über Erstveröffentlichungen (im Text), Zitate der Reaktionen von Zeitgenossen, umfangreiche Bibliographien mit russischer und westlicher Literatur, Standorte der Archive, Siglen wichtiger Lexika, in denen sich weitere Informationen finden lassen. Die Verfasser sind um wissenschaftliche Objektivität bemüht, sie lassen eigene Wertungen durch den Umfang des Beschriebenen und die Wahl der Zitate aus Rezensionen erkennen. Ein Vergleich mit meinem Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, das sich für die Jahre 1900 bis 1917 überschneidet, zeigt, daß bei den 65 Schriftstellern, die bis zum vierten Band in beiden Lexika enthalten sind, das große russische mit seinen erheblich längeren Artikeln wichtige Ergänzungen bietet.[1]

Wertvoll sind drei Anlagen: eine vergleichende Liste der Ränge des zivilen und des militärischen (Armee und Flotte) Staatsdienstes der Zarenzeit (Bd. 1), eine Beschreibung der Klassen, Behörden, Gehälter, Pensionen (Bd. 2) und Informationen über Bildungswesen und Lehranstalten (Bd. 4). Die Bände enthalten Porträtreproduktionen, z.T. auch ausgezeichnete farbige Bilder, bisweilen treffende Zeichnungen, auch Karikaturen und Werkillustrationen.

Beeinträchtigend ist vor allem in den ersten Bänden die Beschränkung innerhalb einzelner Artikel auf die Zeit vor dem Schnittjahr 1917, das in der Sowjetideologie allen solchen Handbüchern oktroyierte, denn detailliert wird nur die Zeit davor abgehandelt. (Wie mir die Redakteure sagten, war ihnen anfangs diese Einschränkung sogar willkommen, da Darstellungen über die Zeit nach 1917 erheblich mehr politischen Zugeständnissen, also Fälschungen, unterlegen hätten.) Mit dem Nachlassen des politischen Drucks werden von Band zu Band die Angaben für die Sowjetzeit ausführlicher. So bezieht der Artikel über Merezkovskij im vierten auch dessen Werke der Emigrationszeit ein. Weniger beeinträchtigend für das in einem Lexikon erstrebenswerte Gesamtbild eines Schriftstellers wirkt sich der Schnitt im Jahre 1800 aus. Bei diesem Lexikon, das so viele wenig bekannte Autoren erfaßt, verwundert es, daß man auch Lücken entdeckt: Georgij Peskov (Elena Al'bertovna Dejsa-Sinonickaja, geb. Repman, 1885 - 1977), 1925 ausgewandert nach Paris, 1994 und 1995 in Rußland publiziert[2] fehlt z.B. ebenso wie der als "poetische Seele des Nordens" Rußlands geachtete und - wie Georgij Peskov - auch künftig zu beachtende Stepan Pisachov (1879 - 1960), der in der Sowjetzeit wenigstens geduldet wurde.

Vergleiche mit der Kratkaja literaturnaja enciklopedija (Moskau 1962 - 1978) oder der aus politischen Gründen nicht vollständigen Literaturnaja enciklopedija (Moskau 1929 - 1937 und München 1991)[3] veranschaulichen den erheblich erweiterten Informationsgrad des neuen Werkes. Beispielsweise wurde neu der Chemiker Dmitrij Mendeleev mit einem umfangreichen Beitrag einbezogen, denn er war auch ein bedeutender Publizist. Allerdings standen seine Ansichten im Widerspruch zur kommunistischen Ideologie. Der neue Artikel beschreibt seine "wissenschaftliche Publizistik", die konkrete Vorschläge "in den Gebieten der Wirtschaft, der industriellen Entwicklung und des Bildungswesens" des Russischen Imperiums enthält, erwähnt auch, daß er sich gegen die damals verbreitete "falsche Lehre der Sozialisten" stellte: Sie "müsse unvermeidlich zur Versklavung von ... Völkern führen, denen die utopischen Begeisterungen fremd seien". Völlig verändert ist das Bild, das nun der Artikel über Sofija Parnok (1885 - 1932) bietet. Der entsprechende in der Enzyklopädie von 1934 trägt einen ausschließlich diffamierenden Charakter (politisch und ästhetisch), der ähnlich kurze (800 Zeichen) im Band der Kratkaja literaturnaja enciklopedija von 1968 hingegen lobt immerhin ein Streben nach "Klarheit und Harmonie" und verbindet sie mit bekannten russischen Dichtern. Der neue aber hat mit 17.000 Zeichen einen über zwanzigfachen Umfang (!) und stellt Sofija Parnok erstmals in Rußland ausgewogen dar. Er erwähnt ihre lesbische Liebe als Grundlage vieler Gedichte, ihre Zugehörigkeit zu der bedeutenden, noch nach dem Umsturz von 1917 unpolitischen Lyrikervereinigung "Cech poetov" und bezieht auch die Beachtung ein, die diese Lyrikerin bei Emigranten (Ju. Ivask) und westlichen Slavisten (D. Burgin, New York 1994) fand.

Was dieses Lexikon auszeichnet, sind zunächst die große Anzahl aufgenommener Schriftsteller und der große Umfang der einzelnen Artikel mit konzentrierter Darstellung, also der Informationsreichtum. Bei einer russischen Publikation ist ferner das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität herauszustellen, und zwar nicht nur im Vergleich zur Sowjetzeit, sondern auch gegenwärtig, denn es publizieren derzeit durchaus noch russische Wissenschaftler, die nicht einmal die Ideologie der Stalinzeit überwunden haben. Macht man sich noch die miserablen materiellen Bedingungen bewußt, unter denen dieses Lexikon gegenwärtig in Rußland erarbeitet wird, verdienen die Redakteure Hochachtung und Dank auch von uns Wissenschaftlern im Westen.[4] Dieses Lexikon gehört in jede Universitäts- und Staatsbibliothek, auch in jedes Slavistische Seminar, wird sich aber auch Historikern, Philosophen und im religiösen Bereich arbeitenden Wissenschaftlern bei der Forschung nützlich erweisen.

Wolfgang Kasack


[1]
Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts : vom Beginn des Jahrhunderts bis zum Ende der Sowjetära / Wolfgang Kasack. - 2., neu bearb. und wesentlich erw. Aufl. - München : Sagner, 1992. - XVIII S., 1508 Sp. ; 20 cm. - (Arbeiten und Texte zur Slavistik ; 52). - ISBN 3-87690-459-5 : DM 98.00 [1418]. - Rez.: ABUN in ZfBB 39 (1992),6, S. 542 - 543. - Dazu jetzt:
Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts : bibliographische und biographische Ergänzung / Wolfgang Kasack. - München : Sagner, 2000. - 88 S. ; 20 cm. - (Arbeiten und Texte zur Slavistik ; 68). - ISBN 3-87690-716-6 : DM 22.00. - S.u. IFB 00-1/4-212. (zurück)
[2]
In: Novaja junost', Oktjabr' (zurück)
[3]
Kommentare in: Russische Literaturgeschichten und Lexika der russischen Literatur : die Handbücher des 20. Jahrhunderts ; Überblick, Einführung, Wegführer / Wolfgang Kasack. - Konstanz : UVK, Universitätsverlag Konstanz, 1997. - 278 S. ; 23 cm. - ISBN 3-87940-585-9 : DM 48.00 [4471], hier S. 34 - 36. (zurück)
[4]
Auch russische Wissenschaftler weisen darauf hin. Vgl. Pavel Basinskij in Novyj mir. - 1999,10, S. 229. (zurück)

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