Ein wirkliches Lexikon mit alphabetischer Anordnung der Einträge liegt
allerdings, entgegen dem deutschen Titel[2] des Werks von
Michel-Thiriet, allenfalls in einigen Teilen des Nachschlagewerks vor:
Nur die Kapitel Lexikon der Bekanntschaften Prousts, Lexikon der Werke
Prousts, Lexikon der Personen der Recherche und Lexikon der Orte der
Recherche sind alphabetisch angelegt; die ersten acht Kapitel der
Rubrik Die Person ebenso wie die Kapitel IV bis VII der Rubrik Das
Werk verwirklichen den Lexikoncharakter allein durch den Spaltendruck,
könnten sich aber unverändert auch in jeder anderen Proust-Monographie
finden.
Die beiden genannten Rubriken zu Person und Werk stellen den Hauptteil
des sogenannten Lexikons dar, auch wenn das Inhaltsverzeichnis
zunächst unter dem Titel Proust - und danach einen dritten bedeutenden
Aspekt, die Rezeption des Proustschen Werks, vermuten ließe. Bei
näherer Betrachtung der ca. 25 Seiten stellt sich jedoch heraus, daß
es sich hierbei weniger um die literarische Rezeption dieses für die
weitere Entwicklung der Gattung Roman so gewichtigen Opus handelt, als
vielmehr in einem ersten Teil um Ehrungen des Autors, ihm gewidmete
Ausstellungen, Museen, Gedenktafeln und nach ihm benannte Straßen,
Briefmarken, Versteigerungen, (und erfreulicherweise dann doch auch
noch) Gesellschaften und Forschungseinrichtungen sowie, zusammengefaßt
unter der Überschrift Proust in der Welt, eine alphabetisch geordnete
Liste von fünfzehn Ländern, unter denen jeweils exemplarisch
aufgeführt wird, wann welche Teile des Proustschen Werks im
betreffenden Land übersetzt wurden. Der zweite Teil von Proust - und
danach präsentiert kurz einige Rundfunk- und Fernsehsendungen zu
Proust oder seinem Roman und stellt anschließend einige Spielfilme,
Bühnenfassungen, Ballette und andere Bearbeitungen vor. Hinweise auf
den großen Einfluß des großen Werks sind bestenfalls angedeutet in der
Sparte Kritiken innerhalb der Rubrik Das Werk zu entdecken, wo nach
der Zusammenstellung einiger Zitate aus der Presse, die chronologisch
nach den Erscheinungsdaten der Werke geordnet sind, und nach
Ausführungen zum Standort der Intellektuellen eine Reihe von
Beurteilungen und Zitate[n] über Proust folgt, die wiederum
alphabetisch nach den Namen der ausgewählten Schriftsteller geordnet
sind. Da diese Ausschnitte mit wenigen Ausnahmen allzu klein geraten
sind, finden sich darunter leider immer wieder so vielsagende
Äußerungen wie die folgende von Charles Du Bos: "Sein Werk gehört zum
Bedeutendsten der französischen Literatur seit langem" (S. 395).
Der erste große Teil des Marcel-Proust-Lexikons stellt mit seinen 250
Seiten - gegenüber den nur 145 Seiten, die dem umfassenden Werk
gewidmet wurden - den sowohl quantitativen als auch gewissermaßen
ideellen Schwerpunkt des Bandes dar. Liefert bereits das erste Kapitel
eine Biographie von Marcel Proust, die aus einer Aneinanderreihung von
Kurzkapiteln wie Personenstand, Äußeres, Gesundheitszustand, Ärzte,
Psychologisches Porträt, Wichtigste Lebensdaten und Tod besteht, so
entfalten die folgenden Kapitel - etwa: Kindheit, Militärdienst,
Literarische Anfänge, Eintritt ins Leben etc. - dieselbe Biographie
erneut und detailliert, bevor im diesen ersten Teil abschließenden
Lexikon der Bekanntschaften Prousts mit seinen ca. 80 Seiten viele
Einzelheiten aus Prousts Leben ein weiteres Mal aufgegriffen werden.
Auf diesen Seiten zur Person finden sich immer wieder eingerahmte
Kästchen, die zum einen Anekdoten am Rande erzählen - so etwa die
Geschichte des Hôtel Ritz (S. 123) oder skandalverdächtige Histörchen
über Prousts Sexualleben (S. 173) -, zum anderen Bezüge zum Werk
aufdecken bzw. explizit die - vermeintliche - Bedeutung für das Werk
sichtbar machen. Entgegen der von Proust selbst ausgesprochenen und an
anderer Stelle im Lexikon abgedruckten Warnung[3] gelangen diese Bezüge
über eine Auffassung von Kunst als unmittelbare, meist bruch- und
lückenlose Widerspiegelung der "Realität" nicht hinaus, wie als eines
unter zahlreichen möglichen das folgende Beispiel illustrieren mag:
"Die Beschreibungen in 'Combray' ... hat Proust seinen sommerlichen
Erinnerungen entnommen. Élisabeth diente als Vorbild für die Gestalt
der 'Tante Léonie', und Ernestine Gallou, die 33 Jahre lang in ihren
Diensten stand, war eins der Vorbilder für 'Françoise', die Köchin von
Tante Léonie. Die gediegenen, gutbürgerlichen Familienmahlzeiten, die
von Ernestine zubereitet wurden, und die Umstände der Krankheit von
Élisabeth Amiot gaben Anlaß zu köstlichen Szenen, die Proust nur
unwesentlich transponiert in sein Werk übernahm" (S. 166).
Insgesamt leuchtet vor allem in diesem die Person Proust in vielen
Facetten vorstellenden Teil nicht ein, warum er in einem Lexikon
untergebracht sein muß: Im Grunde könnte er ebensogut einen
fortlaufenden Text abgeben und wirkt er, durch die Zergliederung in
mit Überschriften versehene Kurzkapitel, fast wie eine Art
konventioneller, aber fauler Biographie, die sich auf diese Weise
Überleitungen von einem Kapitel zum nächsten und die Herstellung von
Zusammenhängen erspart. Zudem wird hier in ganz besonderem Maße
deutlich, was, teils mehr, teils weniger ausgeprägt, aber dennoch für
das gesamte Lexikon gilt: daß geradezu ein Starkult um den berühmten
Autor getrieben wird, der dem um Fußballer, Königinnen, Rockmusiker
oder andere Helden kaum nachsteht. So informiert das Kapitel Die
Mahlzeiten unter anderem darüber, welche Kaffee- und
Mineralwassermarke der Star bevorzugte, aus welcher Konditorei seine
Croissants stammten und wie er sich beim Essen verhielt, wobei weder
Wiederholungen[4] noch Widersprüche[5] vermieden wurden. Statt dessen
werden Elemente aus der Recherche wie die berühmte
"Madeleine"-Episode, ohne sie zu benennen, gleichsam in Alltagsleben
zurückübersetzt ("Die Mahlzeit wird zu einem Ritual, das ihm durch
Gedanken- und Geruchsassoziationen dabei hilft, die Vergangenheit
wiederzufinden", S. 119), so daß auch in dieser umgekehrten Form von
"Widerspiegelungsästhetik" die enorme Verflachung, die Prousts Werk
hier zuteil wird, zutage tritt.
Die drei oben genannten "Unter-Lexika" zu den Werken Prousts sowie zu
Personen und Orten der Recherche im zweiten Großkapitel des Lexikons
werden sich vermutlich als der am ehesten brauchbare Teil des Bandes
erweisen. Glücklicherweise fängt · la recherche du temps perdu mit A
an und kann so den ihm gebührenden ersten Platz im Werklexikon
einnehmen,[6] wo einer kurzen allgemeinen Präsentation, die stellenweise
an einen Werbetext für einen fast beliebigen Gegenstand erinnert,[7] und
dem rekonstruierten "Zeitablauf der Recherche" die Inhaltsangaben der
einzelnen Abteilungen des Textes folgen. Daß dieser "[s]chwer
zusammenzufassen" ist (S. 259), wie vorab entschuldigend gewarnt wird,
beweisen die Inkongruenzen in den Zusammenfassungen, die wiederum etwa
an der "Madeleine" deutlich werden: Sie wird immer wieder erwähnt: in
der Präsentation (S. 260), in der Chronologie (S. 264), in der
Zusammenfassung (S. 264), im Lexikon der Personen (S. 319), in "Die
Erinnerung und das Vergessen" als einem der wesentlichen Themen (S.
360) etc. - aber überall nur sehr kurz, ohne die große Bedeutung des
kleinen Kuchens wirklich zu veranschaulichen. Ob uneingeweihte Leser
die vom ersten Mal an mit dem bestimmten Artikel eingeführte Episode[8]
verstehen können, zumal im deutschen Sprachraum, wo sie nicht zum
Lektürekanon des Schulpensums gehört, oder ob das Lexikon sich in
solchen Passagen nicht doch nur an bereits Initiierte wendet, steht
dahin.
Im Anschluß an eine Darstellung der "wesentlichen Themen des
Proustschen Werkes", die stellenweise wiederum eher biographisch
ausgebreitet als tatsächlich thematisch auf das Werk bezogen werden,
folgt ein achtseitiges Kapitel über den Stil von Marcel Proust, der
zuvor ja bereits vollmundig und gewiß nicht zu Unrecht als dessen
Besonderheit angekündigt worden war (genauer wäre freilich gewesen,
von "einer seiner Besonderheiten" zu sprechen). Allerdings vermögen
auch diese Informationen nicht die von dem Werk ausgeübte Faszination
zu erklären, da das Kapitel - nach den knapp zwei einleitenden Seiten,
die sich hauptsächlich über die Länge von Prousts Sätzen auslassen und
im übrigen so präzise Formulierungen enthalten wie: "er wählt eine
Sprache 'mit weiten Schwingen, gelinde getragen von den besten
Federn', und reichert seine Sätze mit Metaphern und Bildern an" (S.
382) - zunächst in eine Art Lexikon der Superlative ausartet, denn
hier folgen der "berühmteste Satz", der "umstrittenste Satz" und der
"längste Satz", so daß dem oben beschriebenen Starkult gleichermaßen
auf der Werkebene gehuldigt wird und nun auch alle die mitreden
können, die die Recherche dann lieber doch nicht lesen. Für letztere
scheint auch der letzte Abschnitt dieses angeblich dem Stil gewidmeten
Kapitels bestimmt zu sein: Einige Zitate von Proust heißt es, und es
versammelt zu beliebig anmutenden, aber immerhin alphabetisch
geordneten Schlagworten wie Alter, Begehren, Begriffe, Bücher, Diät
etc. meist ein bis zwei überwiegend der Recherche entnommene Zitate,[9]
die - Flaubert hätte seine Freude gehabt - eine Art Dictionnaire des
idées reçues für jene Proust-Anhänger darstellen, die sich dank des
Marcel-Proust-Lexikons endlich auch als Proust-Kenner ausgeben können
(oder dies zumindest meinen).
Vor dem das Werk beschließenden Anhang, der aus diversen Plänen - etwa
jenen von zwei Wohnungen Prousts bzw. seiner Eltern -, aus Stammbäumen
und mehreren chronologischen Übersichten[10] besteht, verzeichnet eine
Bibliographie mehrere Spezialbibliographien sowie Primär- und
Sekundärliteratur zu Proust, die überwiegend bis in die achtziger
Jahre, in Ausnahmen auch darüber hinaus reicht. Bei der
Primärliteratur, die übrigens auch in Zeitschriften veröffentlichte
Artikel, Vorworte, Übersetzungen etc. nachweist, sind die deutschen
Ausgaben der Recherche und der Briefe jeweils in einer eigenen Rubrik
zusammengestellt. Unter Zeugnisse und Biographien und Kritische
Studien wurden überwiegend Monographien ausgewählt; die - eher selten
aufgenommenen - Aufsätze stammen von auch anderweitig sehr bekannten
Autoren wie Adorno und Benjamin, Curtius und Spitzer und besitzen
damit eher historisches Interesse, als daß sie den aktuellen
Forschungsstand widerspiegelten. Die letzte Rubrik innerhalb dieser
Auswahlbibliographie verzeichnet eine Reihe von Proust gewidmeten
Zeitschriften, Sonderheften und Sammelwerken, die in einigen wenigen
Fällen mit einem kurzen Kommentar versehen sind.
Auf der vierten Umschlagseite steht zu lesen, das
Marcel-Proust-Lexikon liefere "den Schlüssel zu Marcel Proust und
seinem Werk" und sei "unentbehrlich für alle Proustliebhaber und
solche, die es werden wollen". Da nach den oben angemerkten
Kritikpunkten hinter eine solche Ankündigung zumindest einige
Fragezeichen gesetzt werden können, richtet sich der Blick fast von
selbst auf die beiden anderen, zu Beginn erwähnten Lexika die deshalb
zum Vergleich abschließend noch kurz vorgestellt werden sollen.
Thierry Lagets kleiner ABCdaire de Proust mutet wie eine Art
Reiseführer durch das weite Land Proust an und lädt dank der überaus
zahlreichen, meist farbigen Abbildungen zunächst einfach zum Stöbern
ein. Außer einer Zeittafel, einem Namensregister und einer
Auswahlbibliographie enthält der Band zwischen dem guide de
l'abécédaire, einer Art Gebrauchsanweisung, und dem Hauptteil, dem
eigentlichen Alphabet, ein Kapitel Proust raconté: eine
Proustbiographie in erzählender Form, die nach den drei - ihrerseits
wieder in je drei Unterkapitel gegliederten - Lebensabschnitten poète
et romancier (1871 - 1900), critique et traducteur (1900 - 1908) und
écrivain (1908 - 1922) eingeteilt ist. Von dieser kurzen
Lebensgeschichte (S. 11 - 25) verweisen zahlreiche Sternchen auf die
Lexikonartikel im Hauptteil, die ihrerseits durch eine farbliche
Markierung ihre jeweilige Zugehörigkeit zu den Bereichen Werk,
Biographie oder historischer Kontext gleich auf den ersten Blick
deutlich machen und ebenfalls durch Querverweisungen Wege durch das
Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Einträgen bahnen. Ähnlich
den Zusammenfassungen im Marcel-Proust-Lexikon finden sich auch hier
kurze Einführungen zu den einzelnen Abteilungen der Recherche sowie
kommentierende Artikel zu den übrigen Werken einschließlich der
Korrespondenz. Alle Informationen sind sehr knapp gehalten und sicher
häufig nicht ausreichend; im Unterschied zum Marcel-Proust-Lexikon
jedoch verlocken sie weit eher zum Weiterblättern, Weiterlesen und
Weitersuchen.
Die Einträge sind generell auch wesentlich kürzer als die im fast
gleichnamigen Proust-ABC von Ulrike Sprenger, das dennoch einen
deutlich geringeren Umfang hat als das Marcel-Proust-Lexikon. Im
Unterschied zu diesem tritt es ungleich bescheidener auf, indem es
nicht beansprucht, der Schlüssel, ja, laut dem Vorwort der
Verfasserin, nicht einmal ein Schlüssel (S. 5) zu Leben und Werk
Prousts zu sein. Insbesondere sei "Biographisches und Anekdotisches"
kaum enthalten, da dieser Mangel problemlos durch die zahlreichen
existierenden Biographien kompensiert werden könne.[11] Abgesehen vom
kurzen Vorwort und der mit etwa anderthalb Seiten gleich langen
Auswahlbibliographie am Ende ist dieser Band als einziger der drei
tatsächlich durchweg alphabetisch angeordnet, stellt aber ebenfalls
durch zahlreiche Querverweisungen zumindest in Ansätzen jene Bezüge
her, die durch das Alphabet verdeckt werden. Vollständigkeit kann
selbstverständlich bei einem Nachschlagewerk zu Prousts
labyrinthischem Werk mit seinen "Säle[n] und Kämmerchen" (S. 5) nie
erreicht werden; deshalb wurden unter den Themen, Motiven, Figuren und
anderen Aspekten des Romans und seines Umfelds jeweils die wichtigsten
und die kuriosesten ausgewählt, weil man, wie Sprenger im Vorwort
schreibt und wie die Lektüre ihres Lexikons bestätigt, gerade "bei
genauerer Betrachtung scheinbar nebensächlicher,
pittoresk-ornamentaler Motive ... am besten erkennen [kann], daß in
Prousts Roman nichts für sich steht und nichts von ungefähr kommt,
sondern daß jedes Bild eingewoben ist in ein Netz zwei- und
mehrdeutiger Bezüge und jede Lektüre wieder Neues zum Vorschein
bringt" (S. 5 - 6). So läßt sich häufig aus diesen punktuellen
Momenten für den Roman ganz allgemein Gültiges entnehmen und werden
beispielsweise Verbindungen sichtbar zwischen Abraham, dem berühmten
Kuß der Mutter und der Homosexualität oder zwischen dem Automobil, der
Eifersucht und dem Impressionismus: Jeder Verweisungspfeil macht
neugierig auf neue Pfade in diesem Labyrinth und lädt zum lustvollen
Sich-Verirren ein.
Die Artikel sind von sehr unterschiedlicher Länge - über Albertine
etwa erhält der Leser auf mehr als vier Seiten Aufschluß, während
andere Stichwörter nur mit wenigen Zeilen bedacht werden -, um so
trotz der zwangsläufigen Fragmenthaftigkeit des Lexikons der
Komplexität des Proustschen Erzählens bestmöglich gerecht zu werden.
Mit der Herstellung biographischer Bezüge ist Sprenger wesentlich
vorsichtiger als Michel-Thiriet, wie - ein letztes Mal
- paradigmatisch der Eintrag zur Madeleine (S. 141 - 144) illustriert;
statt die literarischen Texte vorschnell auf Widerspiegelung
vermeintlicher Realitäten zu reduzieren, kann das Proust-ABC, das am
Rande die übrigen Werke Prousts ebenso berücksichtigt wie historische
Figuren, Institutionen, Orte, Ereignisse, Strömungen etc., die Suche
nach einem Weg in die Recherche du temps perdu sehr viel mehr
erleichtern als das Marcel-Proust-Lexikon, auf dessen Neuauflage hätte
verzichtet werden können.
Barbara Kuhn
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