Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Das Marcel-Proust-Lexikon


00-1/4-196
Das Marcel-Proust-Lexikon / von Philippe Michel-Thiriet. Aus dem Franz. von Rolf Wintermeyer. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp-Taschenbuch-Verlag, 1999. - 514 S. : Ill. ; 21 cm. - (Suhrkamp-Taschenbuch ; 3049). - Einheitssacht.: Quid de Marcel Proust <dt.>. - ISBN 3-518-39549-1 : DM 27.80
[5827]
00-1/4-197
L'ABCdaire de Proust / Thierry Laget. - Paris : Flammarion, 1998. - 199 S. : zahlr. Ill. ; 22 cm. - (L'ABCdaire ; 62 : Série littérature). - ISBN 2-08-011798-X : FF 63.00
[6049]
00-1/4-198
Proust-ABC / Ulrike Sprenger. - 1. Aufl., Orig.-Ausg. - Leipzig : Reclam, 1997. - 222 S. : Ill. ; 19 cm. - (Reclam-Bibliothek ; 1601). - ISBN 3-379-01601-2 : DM 18.00
[6050]

Proust-Lexika scheinen in Mode gekommen zu sein: Anders läßt sich wohl kaum erklären, daß nicht allein das 1992 erstmals im Suhrkamp-Verlag publizierte Marcel-Proust-Lexikon[1] sieben Jahre später noch einmal als Taschenbuch erscheint, sondern zudem 1998 bei Flammarion L'ABCdaire de Proust und 1997 bei Reclam ein Proust-ABC herauskamen, Veröffentlichungen, die möglicherweise den ersten und nun wieder letzten Verlag, in dem auch die deutsche Ausgabe der Werke von Proust erscheint, in Zugzwang brachten, wenn er mit dem mit Abstand umfangreichsten der drei Lexika nicht ins Hintertreffen geraten wollte. Ein weiterer möglicher Grund für das gehäufte Erscheinen dieser Art von Sekundärliteratur zu Proust mag darin liegen, daß das monumentale Romanwerk dieses Autors im Zeitalter von Suchmaschinen und Mausklick offenbar kaum mehr zeitgemäß, geschweige denn anders als mit Hilfe von alphabetisch geordneten Stichwörtern erfaßbar scheint; die Frage bleibt, ob die Lektüre der Nachschlagewerke die des Romans erleichtern oder ersetzen wird.

Ein wirkliches Lexikon mit alphabetischer Anordnung der Einträge liegt allerdings, entgegen dem deutschen Titel[2] des Werks von Michel-Thiriet, allenfalls in einigen Teilen des Nachschlagewerks vor: Nur die Kapitel Lexikon der Bekanntschaften Prousts, Lexikon der Werke Prousts, Lexikon der Personen der Recherche und Lexikon der Orte der Recherche sind alphabetisch angelegt; die ersten acht Kapitel der Rubrik Die Person ebenso wie die Kapitel IV bis VII der Rubrik Das Werk verwirklichen den Lexikoncharakter allein durch den Spaltendruck, könnten sich aber unverändert auch in jeder anderen Proust-Monographie finden.

Die beiden genannten Rubriken zu Person und Werk stellen den Hauptteil des sogenannten Lexikons dar, auch wenn das Inhaltsverzeichnis zunächst unter dem Titel Proust - und danach einen dritten bedeutenden Aspekt, die Rezeption des Proustschen Werks, vermuten ließe. Bei näherer Betrachtung der ca. 25 Seiten stellt sich jedoch heraus, daß es sich hierbei weniger um die literarische Rezeption dieses für die weitere Entwicklung der Gattung Roman so gewichtigen Opus handelt, als vielmehr in einem ersten Teil um Ehrungen des Autors, ihm gewidmete Ausstellungen, Museen, Gedenktafeln und nach ihm benannte Straßen, Briefmarken, Versteigerungen, (und erfreulicherweise dann doch auch noch) Gesellschaften und Forschungseinrichtungen sowie, zusammengefaßt unter der Überschrift Proust in der Welt, eine alphabetisch geordnete Liste von fünfzehn Ländern, unter denen jeweils exemplarisch aufgeführt wird, wann welche Teile des Proustschen Werks im betreffenden Land übersetzt wurden. Der zweite Teil von Proust - und danach präsentiert kurz einige Rundfunk- und Fernsehsendungen zu Proust oder seinem Roman und stellt anschließend einige Spielfilme, Bühnenfassungen, Ballette und andere Bearbeitungen vor. Hinweise auf den großen Einfluß des großen Werks sind bestenfalls angedeutet in der Sparte Kritiken innerhalb der Rubrik Das Werk zu entdecken, wo nach der Zusammenstellung einiger Zitate aus der Presse, die chronologisch nach den Erscheinungsdaten der Werke geordnet sind, und nach Ausführungen zum Standort der Intellektuellen eine Reihe von Beurteilungen und Zitate[n] über Proust folgt, die wiederum alphabetisch nach den Namen der ausgewählten Schriftsteller geordnet sind. Da diese Ausschnitte mit wenigen Ausnahmen allzu klein geraten sind, finden sich darunter leider immer wieder so vielsagende Äußerungen wie die folgende von Charles Du Bos: "Sein Werk gehört zum Bedeutendsten der französischen Literatur seit langem" (S. 395).

Der erste große Teil des Marcel-Proust-Lexikons stellt mit seinen 250 Seiten - gegenüber den nur 145 Seiten, die dem umfassenden Werk gewidmet wurden - den sowohl quantitativen als auch gewissermaßen ideellen Schwerpunkt des Bandes dar. Liefert bereits das erste Kapitel eine Biographie von Marcel Proust, die aus einer Aneinanderreihung von Kurzkapiteln wie Personenstand, Äußeres, Gesundheitszustand, Ärzte, Psychologisches Porträt, Wichtigste Lebensdaten und Tod besteht, so entfalten die folgenden Kapitel - etwa: Kindheit, Militärdienst, Literarische Anfänge, Eintritt ins Leben etc. - dieselbe Biographie erneut und detailliert, bevor im diesen ersten Teil abschließenden Lexikon der Bekanntschaften Prousts mit seinen ca. 80 Seiten viele Einzelheiten aus Prousts Leben ein weiteres Mal aufgegriffen werden.

Auf diesen Seiten zur Person finden sich immer wieder eingerahmte Kästchen, die zum einen Anekdoten am Rande erzählen - so etwa die Geschichte des Hôtel Ritz (S. 123) oder skandalverdächtige Histörchen über Prousts Sexualleben (S. 173) -, zum anderen Bezüge zum Werk aufdecken bzw. explizit die - vermeintliche - Bedeutung für das Werk sichtbar machen. Entgegen der von Proust selbst ausgesprochenen und an anderer Stelle im Lexikon abgedruckten Warnung[3] gelangen diese Bezüge über eine Auffassung von Kunst als unmittelbare, meist bruch- und lückenlose Widerspiegelung der "Realität" nicht hinaus, wie als eines unter zahlreichen möglichen das folgende Beispiel illustrieren mag: "Die Beschreibungen in 'Combray' ... hat Proust seinen sommerlichen Erinnerungen entnommen. Élisabeth diente als Vorbild für die Gestalt der 'Tante Léonie', und Ernestine Gallou, die 33 Jahre lang in ihren Diensten stand, war eins der Vorbilder für 'Françoise', die Köchin von Tante Léonie. Die gediegenen, gutbürgerlichen Familienmahlzeiten, die von Ernestine zubereitet wurden, und die Umstände der Krankheit von Élisabeth Amiot gaben Anlaß zu köstlichen Szenen, die Proust nur unwesentlich transponiert in sein Werk übernahm" (S. 166).

Insgesamt leuchtet vor allem in diesem die Person Proust in vielen Facetten vorstellenden Teil nicht ein, warum er in einem Lexikon untergebracht sein muß: Im Grunde könnte er ebensogut einen fortlaufenden Text abgeben und wirkt er, durch die Zergliederung in mit Überschriften versehene Kurzkapitel, fast wie eine Art konventioneller, aber fauler Biographie, die sich auf diese Weise Überleitungen von einem Kapitel zum nächsten und die Herstellung von Zusammenhängen erspart. Zudem wird hier in ganz besonderem Maße deutlich, was, teils mehr, teils weniger ausgeprägt, aber dennoch für das gesamte Lexikon gilt: daß geradezu ein Starkult um den berühmten Autor getrieben wird, der dem um Fußballer, Königinnen, Rockmusiker oder andere Helden kaum nachsteht. So informiert das Kapitel Die Mahlzeiten unter anderem darüber, welche Kaffee- und Mineralwassermarke der Star bevorzugte, aus welcher Konditorei seine Croissants stammten und wie er sich beim Essen verhielt, wobei weder Wiederholungen[4] noch Widersprüche[5] vermieden wurden. Statt dessen werden Elemente aus der Recherche wie die berühmte "Madeleine"-Episode, ohne sie zu benennen, gleichsam in Alltagsleben zurückübersetzt ("Die Mahlzeit wird zu einem Ritual, das ihm durch Gedanken- und Geruchsassoziationen dabei hilft, die Vergangenheit wiederzufinden", S. 119), so daß auch in dieser umgekehrten Form von "Widerspiegelungsästhetik" die enorme Verflachung, die Prousts Werk hier zuteil wird, zutage tritt.

Die drei oben genannten "Unter-Lexika" zu den Werken Prousts sowie zu Personen und Orten der Recherche im zweiten Großkapitel des Lexikons werden sich vermutlich als der am ehesten brauchbare Teil des Bandes erweisen. Glücklicherweise fängt · la recherche du temps perdu mit A an und kann so den ihm gebührenden ersten Platz im Werklexikon einnehmen,[6] wo einer kurzen allgemeinen Präsentation, die stellenweise an einen Werbetext für einen fast beliebigen Gegenstand erinnert,[7] und dem rekonstruierten "Zeitablauf der Recherche" die Inhaltsangaben der einzelnen Abteilungen des Textes folgen. Daß dieser "[s]chwer zusammenzufassen" ist (S. 259), wie vorab entschuldigend gewarnt wird, beweisen die Inkongruenzen in den Zusammenfassungen, die wiederum etwa an der "Madeleine" deutlich werden: Sie wird immer wieder erwähnt: in der Präsentation (S. 260), in der Chronologie (S. 264), in der Zusammenfassung (S. 264), im Lexikon der Personen (S. 319), in "Die Erinnerung und das Vergessen" als einem der wesentlichen Themen (S. 360) etc. - aber überall nur sehr kurz, ohne die große Bedeutung des kleinen Kuchens wirklich zu veranschaulichen. Ob uneingeweihte Leser die vom ersten Mal an mit dem bestimmten Artikel eingeführte Episode[8] verstehen können, zumal im deutschen Sprachraum, wo sie nicht zum Lektürekanon des Schulpensums gehört, oder ob das Lexikon sich in solchen Passagen nicht doch nur an bereits Initiierte wendet, steht dahin.

Im Anschluß an eine Darstellung der "wesentlichen Themen des Proustschen Werkes", die stellenweise wiederum eher biographisch ausgebreitet als tatsächlich thematisch auf das Werk bezogen werden, folgt ein achtseitiges Kapitel über den Stil von Marcel Proust, der zuvor ja bereits vollmundig und gewiß nicht zu Unrecht als dessen Besonderheit angekündigt worden war (genauer wäre freilich gewesen, von "einer seiner Besonderheiten" zu sprechen). Allerdings vermögen auch diese Informationen nicht die von dem Werk ausgeübte Faszination zu erklären, da das Kapitel - nach den knapp zwei einleitenden Seiten, die sich hauptsächlich über die Länge von Prousts Sätzen auslassen und im übrigen so präzise Formulierungen enthalten wie: "er wählt eine Sprache 'mit weiten Schwingen, gelinde getragen von den besten Federn', und reichert seine Sätze mit Metaphern und Bildern an" (S. 382) - zunächst in eine Art Lexikon der Superlative ausartet, denn hier folgen der "berühmteste Satz", der "umstrittenste Satz" und der "längste Satz", so daß dem oben beschriebenen Starkult gleichermaßen auf der Werkebene gehuldigt wird und nun auch alle die mitreden können, die die Recherche dann lieber doch nicht lesen. Für letztere scheint auch der letzte Abschnitt dieses angeblich dem Stil gewidmeten Kapitels bestimmt zu sein: Einige Zitate von Proust heißt es, und es versammelt zu beliebig anmutenden, aber immerhin alphabetisch geordneten Schlagworten wie Alter, Begehren, Begriffe, Bücher, Diät etc. meist ein bis zwei überwiegend der Recherche entnommene Zitate,[9] die - Flaubert hätte seine Freude gehabt - eine Art Dictionnaire des idées reçues für jene Proust-Anhänger darstellen, die sich dank des Marcel-Proust-Lexikons endlich auch als Proust-Kenner ausgeben können (oder dies zumindest meinen).

Vor dem das Werk beschließenden Anhang, der aus diversen Plänen - etwa jenen von zwei Wohnungen Prousts bzw. seiner Eltern -, aus Stammbäumen und mehreren chronologischen Übersichten[10] besteht, verzeichnet eine Bibliographie mehrere Spezialbibliographien sowie Primär- und Sekundärliteratur zu Proust, die überwiegend bis in die achtziger Jahre, in Ausnahmen auch darüber hinaus reicht. Bei der Primärliteratur, die übrigens auch in Zeitschriften veröffentlichte Artikel, Vorworte, Übersetzungen etc. nachweist, sind die deutschen Ausgaben der Recherche und der Briefe jeweils in einer eigenen Rubrik zusammengestellt. Unter Zeugnisse und Biographien und Kritische Studien wurden überwiegend Monographien ausgewählt; die - eher selten aufgenommenen - Aufsätze stammen von auch anderweitig sehr bekannten Autoren wie Adorno und Benjamin, Curtius und Spitzer und besitzen damit eher historisches Interesse, als daß sie den aktuellen Forschungsstand widerspiegelten. Die letzte Rubrik innerhalb dieser Auswahlbibliographie verzeichnet eine Reihe von Proust gewidmeten Zeitschriften, Sonderheften und Sammelwerken, die in einigen wenigen Fällen mit einem kurzen Kommentar versehen sind.

Auf der vierten Umschlagseite steht zu lesen, das Marcel-Proust-Lexikon liefere "den Schlüssel zu Marcel Proust und seinem Werk" und sei "unentbehrlich für alle Proustliebhaber und solche, die es werden wollen". Da nach den oben angemerkten Kritikpunkten hinter eine solche Ankündigung zumindest einige Fragezeichen gesetzt werden können, richtet sich der Blick fast von selbst auf die beiden anderen, zu Beginn erwähnten Lexika die deshalb zum Vergleich abschließend noch kurz vorgestellt werden sollen.

Thierry Lagets kleiner ABCdaire de Proust mutet wie eine Art Reiseführer durch das weite Land Proust an und lädt dank der überaus zahlreichen, meist farbigen Abbildungen zunächst einfach zum Stöbern ein. Außer einer Zeittafel, einem Namensregister und einer Auswahlbibliographie enthält der Band zwischen dem guide de l'abécédaire, einer Art Gebrauchsanweisung, und dem Hauptteil, dem eigentlichen Alphabet, ein Kapitel Proust raconté: eine Proustbiographie in erzählender Form, die nach den drei - ihrerseits wieder in je drei Unterkapitel gegliederten - Lebensabschnitten poète et romancier (1871 - 1900), critique et traducteur (1900 - 1908) und écrivain (1908 - 1922) eingeteilt ist. Von dieser kurzen Lebensgeschichte (S. 11 - 25) verweisen zahlreiche Sternchen auf die Lexikonartikel im Hauptteil, die ihrerseits durch eine farbliche Markierung ihre jeweilige Zugehörigkeit zu den Bereichen Werk, Biographie oder historischer Kontext gleich auf den ersten Blick deutlich machen und ebenfalls durch Querverweisungen Wege durch das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Einträgen bahnen. Ähnlich den Zusammenfassungen im Marcel-Proust-Lexikon finden sich auch hier kurze Einführungen zu den einzelnen Abteilungen der Recherche sowie kommentierende Artikel zu den übrigen Werken einschließlich der Korrespondenz. Alle Informationen sind sehr knapp gehalten und sicher häufig nicht ausreichend; im Unterschied zum Marcel-Proust-Lexikon jedoch verlocken sie weit eher zum Weiterblättern, Weiterlesen und Weitersuchen.

Die Einträge sind generell auch wesentlich kürzer als die im fast gleichnamigen Proust-ABC von Ulrike Sprenger, das dennoch einen deutlich geringeren Umfang hat als das Marcel-Proust-Lexikon. Im Unterschied zu diesem tritt es ungleich bescheidener auf, indem es nicht beansprucht, der Schlüssel, ja, laut dem Vorwort der Verfasserin, nicht einmal ein Schlüssel (S. 5) zu Leben und Werk Prousts zu sein. Insbesondere sei "Biographisches und Anekdotisches" kaum enthalten, da dieser Mangel problemlos durch die zahlreichen existierenden Biographien kompensiert werden könne.[11] Abgesehen vom kurzen Vorwort und der mit etwa anderthalb Seiten gleich langen Auswahlbibliographie am Ende ist dieser Band als einziger der drei tatsächlich durchweg alphabetisch angeordnet, stellt aber ebenfalls durch zahlreiche Querverweisungen zumindest in Ansätzen jene Bezüge her, die durch das Alphabet verdeckt werden. Vollständigkeit kann selbstverständlich bei einem Nachschlagewerk zu Prousts labyrinthischem Werk mit seinen "Säle[n] und Kämmerchen" (S. 5) nie erreicht werden; deshalb wurden unter den Themen, Motiven, Figuren und anderen Aspekten des Romans und seines Umfelds jeweils die wichtigsten und die kuriosesten ausgewählt, weil man, wie Sprenger im Vorwort schreibt und wie die Lektüre ihres Lexikons bestätigt, gerade "bei genauerer Betrachtung scheinbar nebensächlicher, pittoresk-ornamentaler Motive ... am besten erkennen [kann], daß in Prousts Roman nichts für sich steht und nichts von ungefähr kommt, sondern daß jedes Bild eingewoben ist in ein Netz zwei- und mehrdeutiger Bezüge und jede Lektüre wieder Neues zum Vorschein bringt" (S. 5 - 6). So läßt sich häufig aus diesen punktuellen Momenten für den Roman ganz allgemein Gültiges entnehmen und werden beispielsweise Verbindungen sichtbar zwischen Abraham, dem berühmten Kuß der Mutter und der Homosexualität oder zwischen dem Automobil, der Eifersucht und dem Impressionismus: Jeder Verweisungspfeil macht neugierig auf neue Pfade in diesem Labyrinth und lädt zum lustvollen Sich-Verirren ein.

Die Artikel sind von sehr unterschiedlicher Länge - über Albertine etwa erhält der Leser auf mehr als vier Seiten Aufschluß, während andere Stichwörter nur mit wenigen Zeilen bedacht werden -, um so trotz der zwangsläufigen Fragmenthaftigkeit des Lexikons der Komplexität des Proustschen Erzählens bestmöglich gerecht zu werden. Mit der Herstellung biographischer Bezüge ist Sprenger wesentlich vorsichtiger als Michel-Thiriet, wie - ein letztes Mal - paradigmatisch der Eintrag zur Madeleine (S. 141 - 144) illustriert; statt die literarischen Texte vorschnell auf Widerspiegelung vermeintlicher Realitäten zu reduzieren, kann das Proust-ABC, das am Rande die übrigen Werke Prousts ebenso berücksichtigt wie historische Figuren, Institutionen, Orte, Ereignisse, Strömungen etc., die Suche nach einem Weg in die Recherche du temps perdu sehr viel mehr erleichtern als das Marcel-Proust-Lexikon, auf dessen Neuauflage hätte verzichtet werden können.

Barbara Kuhn


[1]
Das französische Original erschien in Frankreich unter dem Titel Quid de Marcel Proust in Bd. 1 von A la recherche du temps perdu und wurde, lt. der Notiz des Übersetzers, 1987 in einer "wesentlich erweiterte[n] und verbesserte[n] 2. Auflage" im Verlag Robert Laffont herausgegeben (S. 1 - 313 in dem Band: A la recherche du temps perdu / Marcel Proust. - Paris : Laffont. - Vol. 1. Du côté de chez Swann, A l'ombre des jeunes filles en fleurs. - 1987). Den Angaben in dieser Ausgabe zufolge war der Quid de Marcel Proust offenbar auf Wunsch des Verlegers entstanden und begründete eine neue Serie zu klassischen Autoren der französischen Literatur. (zurück)
[2]
Zur Übersetzung sei nur am Rande angemerkt, daß sie an einigen Stellen tatsächlich übersetzt klingt: etwa wenn durch "anders gesagt" (S. 275) das sehr gängige "autrement dit" hindurchscheint oder wenn nach dem Titel Melancholische Sommertage in Trouville von einer "Titelheldin" (für das unverfänglichere französische l'héro‹ne) die Rede ist (S. 279), weil der Originaltitel Mélancolique villégiature de Madame de Breyves lautet und somit tatsächlich eine Titelheldin aufweisen kann. (zurück)
[3]
In einer Widmung, deren Ironie vom Verfasser des Lexikons offenbar vollständig überhört wurde, schrieb Proust: "Es gibt keinen Schlüssel für die Personen dieses Buches, oder aber es gibt deren acht oder zehn für eine einzige; auch für die Kirche von Combray hat mir mein Gedächtnis als Vorbilder viele verschiedene Kirchen vorgegeben. Ich kann ihnen nicht mehr sagen, welche. Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, ob die Fließen [sic!] aus Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammen. Bei manchen Kirchenfenstern sind die einen sicher aus Évreux, die anderen aus der Sainte-Chapelle oder aus Pont-Audemer" (S. 284). Nichtsdestoweniger finden sich im ausgerechnet durch diese Passage eingeleiteten Personen- und im sich anschließenden Ortslexikon jede Menge "Vorbilder" für Personen und Orte der Recherche.
Auch für die Vorbilder von Prousts Figuren hält der Suhrkamp-Verlag einen Band bereit, der in deutscher Übersetzung aus dem Englischen erstmals 1988 erschienen ist und der - im September 2000 - als Insel-Taschenbuch erneut vorgelegt wurde: Prousts Figuren und ihre Vorbilder / von William Howard Adams. Mit Photos von Paul Nadar. Aus dem Amerikanischen von Christoph Groffy. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main ; Leipzig : Insel-Verlag, 2000. - 227 S. : zahlr. Ill. ; 19 cm. - (Insel-Taschenbuch ; 2640). - Einheitssacht.: A Proust souvenir <dt.> - ISBN 3-458-34340-7 : DM 24.80. [sh] (zurück)
[4]
Beispielsweise ist in zwei aufeinanderfolgenden kurzen Abschnitten (S. 118 - 119) gleich dreimal zu lesen, Proust selbst habe vor seinen Gästen nie etwas angerührt. (zurück)
[5]
So heißt es etwa auf S. 118: "Als großer Schlemmer hat Proust Lust auf bestimmte Gerichte", auf S. 119 hingegen: "Proust ist demnach eher ein Feinschmecker als ein Schlemmer". (zurück)
[6]
Auf nicht einmal 15 Seiten folgt in ausgesprochen gedrängter Form die Besprechung der übrigen Werke Prousts einschließlich der von ihm übersetzten und kommentierten Texte von John Ruskin sowie der zahlreichen Briefe, denen immerhin knapp vier Seiten gewidmet sind. (zurück)
[7]
So folgt etwa der Aufmerksamkeit erheischenden, aber nichtssagenden Überschrift Besonderheit die wenig aussagekräftige Beschreibung: "Der Erzählstil der Recherche ist einmalig" (S. 259), statt umgekehrt unter der Überschrift Erzählstil dessen "Besonderheit" tatsächlich zu charakterisieren. (zurück)
[8]
Ähnliches findet sich immer wieder im Lexikon, vgl. z.B.: "Aus Jean Santeuil übernimmt Proust ... die schmerzliche Episode mit der Großmutter am Telefon" (S. 267), zu der hier sonst nichts gesagt wird, so daß den Noch-nicht-Lesern auch dieser eine Satz nichts sagen wird. (zurück)
[9]
Nur unter Liebe sind, wer hätte es gedacht, gleich zehn Kostproben zusammengestellt. (zurück)
[10]
Eine Zusammenstellung der Literaturpreisträger (Nobel, Goncourt etc.) von 1901 bis 1922 sowie je eine Zeittafel Künste und Literatur und Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, die beide fast exakt, aber nicht unbedingt plausibel mit den Lebensdaten Prousts (1871 - 1922) übereinstimmen und folglich von 1870 bis 1922 reichen. Daß in der ersten der beiden Tabellen ab 1872 mit (un)schöner Regelmäßigkeit außer der Jahreszahl noch das jeweilige Alter Prousts angegeben wird ("1874 - Proust ist 3; 1875 - Proust ist 4; 1876 - Proust ist 5" etc.: man stelle sich vor, er wäre nicht 51, sondern 97 Jahre alt geworden!), mutet eher wie eine überflüssige Marotte denn wie eine sinnvolle Information an. (zurück)
[11]
Eine chronologische Übersicht mit den wichtigsten Daten wäre allerdings als eine Art Kompromiß eventuell auch in diesem Werk nicht fehl am Platze, da in die Artikel ja doch stellenweise auf biographische oder zeitgeschichtliche Bezüge eingehen. (zurück)

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