Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Grundbegriffe der Literaturwissenschaft


00-1/4-154
Grundbegriffe der Literaturwissenschaft / Heike Gfrereis (Hrsg.). - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1999. - VI, 239 S. ; 19 cm. - (Sammlung Metzler ; 320). - ISBN 3-476-10320-X : DM 24.80
[5925]

Der Band, so das Vorwort, "richtet sich vor allem an Studierende im Grundstudium: Wer heute anfängt, sich mit Literaturwissenschaft zu beschäftigen, wird mit einer Fülle an Fachwörtern konfrontiert, die entweder unverständlich sind oder - weitaus problematischer - so allgemein bekannt, daß sie Formeln sind für fast alles und nichts, in ihrer Bedeutung vage, und des Nachdenkens nicht weiter wert. Erste Hausarbeiten scheitern manchmal allein schon daran, daß den Studierenden die Wörter fehlen, um ihren Gegenstand, den literarischen Text, zu beschreiben. Die ersten Lektüren der Sekundärliteratur werden meist mit der Begründung, man verstehe ohnehin nicht, was man lese, vorzeitig beendet" (S. V).

Was die Anfänger angeht, scheitern sie in der Tat oft mit ersten Hausarbeiten, weil ihnen die Wörter fehlen. Das Problem rührt jedoch nicht zuerst aus der Unkenntnis der Fachterminologie, sondern aus einem Mangel an Ausdruckskompetenz überhaupt, der im schulischen Aufsatzunterricht nicht behoben worden ist. Wo hingegen die Lektüre der Sekundärliteratur vorzeitig beendet wird, weil man nicht versteht, was man liest, handelt es sich nicht unbedingt um eine Schwierigkeit bei Anfängern: Es kann auch schlicht und einfach daran liegen - das ist freilich eine Erfahrung, die eher der erfahrene Literaturwissenschaftler macht, wenn er sich trotz institutioneller Sozialisation noch einen kritisch klaren Kopf bewahrt hat -, daß die Sekundärliteratur unverständlich ist, weil im Fach immer häufiger auch solche Autoren ihre Publikationen herausschleudern dürfen, die zuvor einer logopädischen Therapie bedurft hätten, um das kontrollierte Reden und Denken - beides schließt der Logos ja ein - zu lernen.

Den Adepten eines literaturwissenschaftlichen Studiums vor dem Scheitern an der Sekundärliteratur zu bewahren, ist für den verantwortungsbewußten Lehrer jedoch ganz einfach: Er braucht nur klarzumachen, daß Sekundärliteratur ihren Namen zu Recht trägt und daß vor jeder Beschäftigung mit ihr die gründliche, nur aus anstrengender Lektüre zu erwerbende Kenntnis der Primärtexte zu stehen hat.

Soviel sei über das Verhältnis zwischen Anspruch des anzuzeigenden Bandes und universitäre Wirklichkeit vorangeschickt. Das Buch ist entstanden aus einer verkürzenden Überarbeitung des bekannten - von "Günther und Irmgard Schweikle", nicht von "Irmgard und Günther Schweikle", wie das Vorwort mit bibliographisch falscher political correctness vermerkt - herausgegeben Werks Metzler-Literatur-Lexikon.[1] Trotz der Leitidee der Auswahl ist die Fülle der Lemmata an engen und weiten Termini erstaunlich groß geblieben, so daß man das Lexikon eher als Begleiter durch das Studium bezeichnen möchte denn als spezifisches Vademecum für den Anfänger, dem z.B. ein so idiosynkratischer Begriff wie Architext kaum irgendwo begegnen dürfte. Der Band steht also in Konkurrenz zu den zahlreichen Sachlexika der Literaturwissenschaft mit ihren je spezifischen Stärken und Schwächen. (Wilpert, Brunner/Moritz, Best, Meid u.a.m.), unter denen das strenger auswählende von Meid[2] dem Bedarf von Studenten im Grundstudium wohl besonders entspricht. Denn allzuviele Artikel in den Grundbegriffen bestehen über mehrere Zeilen hinweg aus Verweisungen auf andere Einträge, erklären also zunächst einmal Unbekanntes durch Unbekanntes, und nicht selten ist der Artikel, auf den verwiesen wird, aus Gründen des Umfangs so knapp gehalten, daß er auch keine hinreichende Erklärung bietet.

Durch das Verfahren der Kondensation der Vorlage sind zuweilen auch Mißgeschicke passiert. Während es bei Schweikle richtig heißt, daß die Civitas dei des Augustinus für die "politischen Ideale des Mittelalters [...] bedeutsam" gewesen ist und insofern Einfluß auf die Fürstenspiegel gehabt hat, wird das Buch in der Kurzfassung selbst als ein solcher angeführt. Als erste umfassende Geschichtsphilosophie des Abendlandes, deren säkularisierte Spuren noch bei Karl Marx zu finden sind, oder als religionspolitisches Manifest gegen den wiedererstarkenden Glauben an die heidnischen Götter nach der Niederlage Roms gegen Alarich mag man den Gottesstaat des Kirchenvaters deuten, nur als eines nicht: als "Fürstenspiegel". Berühmteste Werke der Gattung - etwa Xenophons Kyropädie als antiker Vorläufer, Fénelons Télemaque, dessen Titel an den Sohn des Odysseus erinnert, oder Friedrichs II. Antimachiavell - werden gar nicht erwähnt.

Die Grundbegriffe der Literaturwissenschaft muten in Auswahl und Machart der Artikel zuweilen unausgeglichen an. Da werden mit gutem Grund literarische Gruppenbildungen erwähnt: der Göttinger Hain etwa, die Gruppe 47, die amerikanische Beat generation (ihr gelten ein paar Zeilen mehr als dem Stichwort Bibliographie!), nicht aber der Tunnel über der Spree, die Grazer Autorenversammlung usw. Nach welchen Kriterien den Artikeln zuweilen - dann durchweg äußerst verkürzte und selten sonderlich aktuelle - bibliographische Hinweise angefügt sind, meistens aber keine Literatur nachgewiesen wird, bleibt unerfindlich.

Der Artikel Futurismus bietet als einzigen Literaturhinweis: "U. Apollino (Hg.): Der Futurismus, 1972". Man stutzt gleich mehrfach: Denn mit dem verstümmelten Herausgebernamen ist natürlich Umbro Apollonio gemeint; aber - ärgerlicher noch: Warum wird, wenn nur für einen Titel Platz ist, nicht auf den vorzüglichen und weit aktuelleren Band verwiesen, der in Rowohlts Enzyklopädie zum Thema erschienen ist?[3] Nachlässigkeiten auch sonst, z.B. wird das lateinische Corpus wieder einmal in der männlichen Form dekliniert und in "einen bestimmten Korpus von Erzählungen": Man kann die Neuerscheinungen, die man nicht zu kaufen braucht, in der Regel schon an solchen Minimalia (Neutrum Plural, nicht Femininum Singular) erkennen.

Das falsche Zitieren wird den Studenten gleich ganz nebenher beigebracht: Unter dem Rubrum Anekdote findet sich der Literaturhinweis "J. Hein: Dt. Anekdoten, 1977", wer ahnt, daß es sich um eine Textauswahl handelt?[4]

Dem Studenten wird man guten Gewissens empfehlen, besser doch gleich den "richtigen" Schweikle oder eines der anderen o.a. Literaturlexika zu erwerben.

Hans-Albrecht Koch


[1]
Metzler-Literatur-Lexikon : Begriffe und Definitionen / hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. - 2., überarb. Aufl. - Stuttgart : Metzler, 1990. - 525 S. ; 24 cm. - ISBN 3-476-00668-9 : DM 39.80 [1123]. - Rez.: ABUN in ZfBB 38 (1991),1, S. 63 - 64 (zurück)
[2]
Sachwörterbuch zur deutschen Literatur / von Volker Meid. - Stuttgart : Reclam, 1999. - 571 S. ; 16 cm. - CD-ROM-Ausg. u.d.T.: Elektronisches Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. - ISBN 3-15-010459-9 : DM 29.80 [5670]. - Rez.: IFB 99-1/4-170. - Zur CD-ROM-Ausg. s.u. IFB 00-1/4-165. (zurück)
[3]
Futurismus : Geschichte, Ästhetik, Dokumente / Hansgeorg Schmidt-Bergmann. - Orig.-Ausg. - Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 1993. - 348 S. - (Rowohlts Enzyklopädie ; 535) (zurück)
[4]
Deutsche Anekdoten / hrsg. Von Jürgen Hein. - Stuttgart : Reclam, 1976 [nicht 1977]. (zurück)

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