Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Metzler-Lexikon Religion


00-1/4-143
Metzler-Lexikon Religion : Gegenwart - Alltag - Medien / hrsg. von Christoph Auffarth ... Unter Mitarb. von Agnes Imhof ... - Stuttgart ; Weimar : Metzler. - 25 cm. - ISBN 3-476-01678-1 (Gesamtwerk) : DM 722.00, DM 602.00 (Subskr.-Pr. bis 30.06.2000)
[5655]
Bd. 1. Abendmahl - Guru. - 1999. - XVIII, 532 S. : Ill. - ISBN 3-476-01551-3 : DM 168.00 (Subskr.-Pr.)
Bd. 2. Haar - Osho-Bewegung. - 1999. - 632 S. : Ill.
3-476-01552-1 : DM 168.00 (Subskr.-Pr.)
Bd. 3. Paganismus - Zombie. - 2000. - 727 S. : Ill. - ISBN 3-476-01553-X : DM 168.00 (Subskr.-Pr.)

Das Metzler-Lexikon Religion setzt mit dem Untertitel Gegenwart - Alltag - Medien Akzente, die neugierig machen. Es fällt schon beim Herausgeberkreis auf, daß hier kein Kardinal oder renommierter Ordinarius das Patronat hat, sondern anscheinend jüngere Autorinnen und Autoren - um es politisch korrekt zu sagen, die Bezüge einbringen, die in den anderen Werken fehlen, vor allem die Ausrichtung hin zur modernen Medienwelt. Entsprechend sind die Bände aufgemacht. Die Bebilderung - auch in Farbe - ist weit üppiger, als in anderen Werken und ist durchaus als "Information" gedacht, nicht nur als "Veranschaulichung". Hier setzt das Werk einen deutlichen Akzent, der in der Rezeption zu prüfen sein wird. Daß Erkenntnis durch Bild nicht unproblematisch ist, zeigte ja etwa die Diskussion um die Wehrmachtsausstellung. Auch in diesem Lexikon sind Anfragen an Bilddeutungen zu stellen: Ob Händefalten als Benennung korrekt ist oder doch eher ein Verlegenheitsgestus beim öffentlichen Gebet vorliegt (wenn es sich überhaupt um ein solches handelt), ist dem Bildgehalt des Photos vom CSU-Parteitag nicht unbedingt zu entnehmen. Eine Titelseite mit einer Umfrage der Bunten in Farbdruck zum Thema "Gott/Götter/das Heilige" müßte vielleicht doch subtiler als mit dem Kurzreferat einiger geäußerter Meinungen interpretiert werden, sollte sie über die populäre Anpassungskultur der Illustrierten etwas aussagen (oder wo liegt der Erkenntnisgewinn sonst?). Auch sind die Arten der Bebilderung von der Funktion und dem Aussagewert her unterschiedlich: Drei Comics - insgesamt eine volle Textseite belegend - zu Ägypten scheinen mir angesichts eines Artikels von nur gut 120 Zeilen, in dem die ägyptische Religion kaum vorkommt, nicht sachgemäß. - Solche Problematisierungen der vielfach suggestiven Bilder ließen sich leicht vermehren. Sie sollen nicht leugnen, daß solche Versuche unbedingt zu machen sind - sie sind aber eben auch zu überprüfen und vor allem: das wissenschaftliche Handwerkszeug zur Interpretation der Medienkultur liegt durchaus noch nicht gebrauchsfertig vor. Insofern wird man nicht zu stark kritisieren, daß die Bebilderung vielfach zufällig ist und häufig nur eine bestimmte Interpretationstendenz stützen soll (etwa bei Abendmahl: Leonardo da Vinci, Bu¤uel, ein Modefoto) - was zweifellos dem Lexikon als Informationsmedium abträglich ist, dem "Lesebuch" durchaus positiv anstehen mag. Nebenbei sei gesagt, daß die reiche Bebilderung natürlich auch vom Platz her den Informationsgehalt im Textbereich stark beschränkt. Der im Untertitel genannte Aspekt Alltag kann mit dem genannten Bild aus der Bunten angerissen werden: Es finden sich viele solche Beispiele aus dem alltäglichen Umgang mit religiösen Phänomenen in den verschiedensten Formen. Auch im Nomenklator setzt sich das fort. Einen Artikel Erster Mai habe ich bislang in keinem derartigen Lexikon gesehen (oder: gesucht), Elektrizität dürfte ebenfalls selten sein. Auch Informationen über die Elzacher Fasnet sind mir bislang in keinem religionswissenschaftlichen Werk begegnet (mit der Abbildung eines "Schuddig" - die Bildlegende ist zwar frauenfreundlich, aber gerade darin leider sachlich falsch - daneben übrigens das Bild einer betenden Menschenmasse in Mekka und auf der nächsten Seite ein Bild der Erde vom "Weltraum" aus ... Alltag reicht weit!). Die Vielfalt dieser Gehalte ist faszinierend und keinesfalls sachfremd. Das Problem eines Nachschlagewerkes ist nur, daß es Dinge darbieten soll, die auch gefunden werden müssen. Der Registerband wird hier Wesentliches zu leisten haben!

Die systematische Struktur des Lexikons ist in der Einleitung mit sechs Themenkreisen umschrieben, die eine anthropologisch zentrierte Religionstheorie voraussetzen - man braucht nicht gleich an die Dialektische Theologie zurückzudenken, um die Nicht-Selbstverständlichkeit einer solchen Konzeption deutlich zu machen. Es gibt eine ganze Reihe von Artikeln in diesem Lexikon, die nach eher traditioneller wissenschaftlicher Methodik verfertigt, auf der Höhe der Forschung, durchaus lesbar und von vertrauenserweckender Objektivität sind, z.B. Aufklärung, Islam u.a.m. Daneben gibt es aber problematische Seiten. Das gilt für manche im Lexikon verwendete Kategorien, beginnend bei sprachlichen Wendungen wie "Das hochaufgeladene Verständnis des katholischen Priesteramtes", die m.E. nur suggestiv, nicht klärend oder informierend sind. "In der Theologie bemühen sich Profis um die Übersetzung der alten, heiligen Texte in die Lebenswelt der Zuhörer", ist als Kernaussage über Exegese zu dürftig. Das Artikelchen Aberglaube könnte für Weiteres stehen: "Insbesondere Pfarrer und (andere) Intellektuelle rügen damit die Frömmigkeit des 'ungebildeten Volkes'" - was ja sein mag, aber es gibt über "Aberglaube" auch sehr subtile philosophische Reflexion, die dem Begriff der "superstito" denkerische Schärfe abgewinnt. Es wird sich zudem nicht leugnen lassen, daß es durchaus höchst schädliche gesellschaftliche Phänomene gibt, die ein Nachdenken auch über eventuell mißbrauchte Kategorien notwendig macht (ich denke in dem Kontext etwa an jüngste Massen[selbst-]tötungen bei Sekten). Bei der Verwendung anderer Begriffe (Magie etwa) ließen sich ähnliche Fragen stellen und die Reihe wäre leicht fortzusetzen. Das Problem besteht letztlich darin, daß die Kriteriologie dieses Lexikons unklar ist - anders etwa als in der Religionsphänomenologie Heilers oder gar bei König. Mit dem allgemeinen Hinweis auf das 'Instrumentarium der Kultur-, Sozial- und Humanwissenschaften' ist das noch nicht geklärt, da eben doch auch theologische Aussagen referiert und beurteilt werden, - selbst wenn sie dann u.U. als "rein theologisch und unbrauchbar" klassifiziert werden, wie es K. Rahner passiert. Es ist wohl nicht zufällig, daß der Islam-Artikel viel objektiver ist, als die Darstellung mancher christlich-theologischer Zusammenhänge.

Doch nochmals zurück zu Bild und Medien: Die Bildlegenden sind vielfach zu schnoddrig gemacht ("Ideologisch motivierte Gewalt, wie sie einst die 'alleinseligmachende' Kirche ausübte und heute moderne Nationalisten praktizieren ..."). Manche Dinge sind schlicht auf Effekt hin abgebildet: die virtuelle Mumie oder die gegen die religiösen Regeln von 60 % der Weltbevölkerung verstoßende Mahlzeit - was nicht heißt, daß nicht mancher Referendar dankbar für solche pädagogischen Aufhänger vor Lehrproben sein mag. Spätestens bei der genannten Mumie fragt man sich, warum das Lexikon nicht den Schritt zur Medienwelt selbst getan hat und etwa als Medienkombination publiziert worden ist. Das schöne Ganzleinen der Ausgabe freut zwar den Bibliophilen, steht aber doch quer zum Inhalt des Werks.

Auch einige technisch-redaktionelle Dinge sollten im Falle einer Neubearbeitung korrigiert werden: Die biblischen Bücher sollten noch exakter nach den Loccumer Richtlinien zitiert werden; S. XVII "Das Hohelied", S. 287 das "Lied der Lieder" dürfte nicht für jeden von vornherein identisch sein; Meister Eckhart unter "M" einzuordenen ist seltsam. Die Literaturangaben sind manchmal etwas zu willkürlich (Küstenmachers Comic zum Abendmahl ist genannt; wirkliche Grundliteratur fehlt dagegen); warum ist bei Bürgertum Adorno "Quelle", Cassirer "Sekundärliteratur"? Doch das sind eher Randfragen.

Zusammenfassend würde ich das Metzler-Lexikon Religion als einen im deutschen Sprachraum bislang singulären Versuch ansehen, das Phänomen Religion in einer Weise zu fassen, die dessen Wirkungen im "medialen" Raum des öffentlichen Bewußtseins der westlichen Welt in großer Breite darzustellen sucht. Es beschreitet dabei Neuland, verläßt den klassischen Kanon, und macht sich dadurch auch angreifbar, da manches methodisch zweifelhaft bleibt, anderes zu auswahlhaft ist. Es wäre besser gewesen, den klassisch-lexikalischen Anschein noch stärker zu vermeiden, solch zweifelhafte Kürzestartikel wie den zitierten Aberglauben nebst der Exegese überhaupt zu streichen und vielleicht auch die philosophischen Informationen (z.B. Existentialismus) eher wegzulassen (auch wo sie sachlich überzeugen) und sich dafür noch stärker auf das mediale Phänomen Religion einzulassen. Warum ist z.B. der Artikel Freimaurer so historisch und bringt so wenig über deren mediale Inszenierung - bis zur Zauberflöte (daß dieser Bezug im Artikel Ägypten versteckt ist, hilft nur dem "Gesamtleser")? Wegfallen könnten m.E. auch die meisten Personenartikel (Augustinus, W. Benjamin [!], Buddha, Dalai Lama, Franziskus von Assisi, Meister Eckhart, Freud, Gandhi, Goethe, Hildegard von Bingen, Jeanne d'Arc, Jesus, Khomeini, Luther, Mohammed, Nietzsche sind bislang enthalten), die einfach zu auswahlhaft sind und besser wohl auf die großen Religionsstifter beschränkt worden wären.

Das Lexikon wird man als Ergänzung und Seitenstück zu den traditioneller aufgemachten Nachschlagewerken sicher mit großem Interesse benutzen können; es ist durchaus vieles daran "spannend" - ein typisches Epitheton der Einleitung -, aber die Grundinformation ist in vielen Fällen - von Abendmahl über Erotik bis Katholizismus etc. zu eingeschränkt, zu wenig erläutert und oft mit zu starren Urteilen versehen, die nicht ausgewiesen werden. So muß man sich bei Benutzung dieses Werkes sinnvollerweise meist zusätzlich woandersher ergänzende Informationen holen. Verblüfft hat mich der Satz der Einleitung, der abweist, daß sich "das Lexikon irgendeines 'Zeitgeistes' bemüßigt fühlte" - darin liegt doch auf weite Strecken gerade seine Besonderheit und gerade hierfür lohnt es sich, dieses Werk heranzuziehen! Es packt eine neue Aufgabe an, und daher kann man auch aus seinen problematischen Seiten und Fehlern lernen.


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