Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]

Zeitungsreport


00-1/4-092
Zeitungsreport : Deutsche Presse im 20. Jahrhundert / Harry Pross. - Weimar : Hermann Böhlaus Nachfolger, 2000. - 333 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 3-7400-1125-4 : DM 58.00
[5912]

"Das vorliegende Buch ist kein historisches Werk. Es beschreibt nicht Vergangenheit von außen, sondern referiert Gegenwart von innen" (S. VII). Der Buchumschlag nennt es allerdings "die einzige kompakte Dokumentation der Geschichte der deutschen Presse im 20. Jahrhundert": Wem ist zu trauen? Harry Pross, geb. 1923, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst freier Journalist, später Redakteur und Mitherausgeber der Deutschen Rundschau 1955 - 1969, Dozent an der Hochschule für Gestaltung Ulm 1960 - 1969, Chefredakteur von Radio Bremen 1963 - 1968, Professor für Publizistik an der Freien Universität Berlin 1968 - 1983 und seither freier Publizist im Allgäu, schreibt einen Report über die deutsche Presse von 1900 bis 2000. Er wendet sich damit wieder dem Thema Presse zu, das er im Verlauf seiner reichen Publikationstätigkeit zwar immer wieder einmal angesprochen hat, aber doch immer häufiger zugunsten allgemeinerer, medientheoretischer und kulturkritischer Themen verlassen hatte. Die Hälfte der Berichtszeit seines Buches hat Pross als aktiver Journalist, als "beobachtender Teilnehmer" begleitet: "Anders als dem "teilnehmenden Beobachter" gesellschaftlicher Abläufe fehlt dem "beobachtenden Teilnehmer" die akademische Distanz" (S. VII). Daher erhalten wir keine Geschichtsdarstellung, sondern die Mitteilung aufmerksamer Beobachtungen und Gedanken, keine geschlossene Abhandlung, sondern in die Folge der ablaufenden Zeit gebrachte Notizen.

Pross gliedert diese Notizen in sieben Kapitel, deren Überschriften die Essenz der Jahre pointiert zusammenfassen: Stolzer Aufschwung in den Abgrund, 1900 - 1918; Glanz und Ignoranz einer Republik, 1918 - 1933; Propaganda, Terror, Exil, 1933 - 1945; Vom "Jahr Null" in den "Kalten Krieg", 1945 - 1960; Konzentration ohne Alternative, 1960 - 1974; Pressefreiheit in der Spannungsindustrie, 1974 - 1985; Signalökonomie: Motor der Globalisierung, 1985 - 2000. Die Kapitel gliedern in sich in unterschiedlich lange, namenlose, durch Kleeblatt-Vignetten getrennte Abschnitte, die jeweils unterschiedliche Themen hervorheben und die offensichtlich z.T. auch aus anderen, unterschiedlichen Zusammenhängen stammen.

Die Themen beziehen sich bei weitem nicht nur auf Zeitungen oder Presse, sondern befassen sich mit ihrer kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Umgebung, stellen Zusammenhänge her und werten sie, gelegentlich in prononcierten und sarkastischen Aperçus. Gern greift Pross zum Stilmittel längerer Zitate, die mit kurzen Bemerkungen kommentiert und eingeordnet werden. Am konzisesten beziehen sich noch die Kapitel von der Weimarer Zeit bis zu den siebziger Jahren auf das Kernthema Presse, während das erste Kapitel weit in die politische Geschichte greift und die letzten Kapitel in kulturkritische Essays münden. Dem entspricht der umfassende und bestimmende Rahmen, in den Pross die Presse gestellt sieht, in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wird er von der Politik gebildet, in der zweiten von der Wirtschaft. In der ersten Hälfte regieren Zensur und Propaganda, in der zweiten Spannungsindustrie und Signalökonomie. In den letzten beiden Begriffen treffen wir auf zwei Basistheoreme Pross'scher Argumentation: Spannungsindustrie umgreift die Aufgabe der Presse, auch die Freizeit unter das Diktat der industriellen Leistung zu stellen, Signalökonomie kennzeichnet die sich fortsetzende Verkürzung der Meinungsbildung von der Argumentation zur Nachricht, von der Nachricht zur Schlagzeile und von der Schlagzeile zum Mausklick. Man mag diese Grundannahmen übernehmen oder nicht, Pross illustriert sie überzeugend, z.B. mit akzentuierten Beispielen aus dem Prozeß der Pressekonzentration der sechziger Jahre oder dem Zeitvertreib des Surfens über die beliebig abrufbaren Angebote im Internet der Gegenwart.

Die Leitfragen seines Buches "Wie können in der Abhängigkeit von Politik und Wirtschaft Nachrichten gesammelt, Meinungen getauscht, Geschäfte verhandelt werden" und "Wie wurde aus der Großmacht Presse von 1900 die Unterabteilung einer elektronisch gesteuerten Spannungsindustrie im Jahr 2000" zeigen in aller Deutlichkeit sein ideologiekritisches Interesse an Strukturen und Funktionen, - für biographisches Interesse an handelnden Personen, Verlegern wie Journalisten, hat Pross wenig Raum. Personenregister und Pressetitelregister bringen diesen internen Konflikt an die Oberfläche des Buches: Sie verweisen zwar auf Erwähnungen im Text, nur findet man dort wenig registrierungswerte Inhalte. Dem entspricht das Schlußresümee: "Wollte man anfangen, Titel zu nennen und die großen Begabungen aufzuzählen, käme das Ende des Jahrhunderts gewiss nicht schlechter weg als sein Anfang. Lassen wir das lieber. Verleger und Journalisten sind schwierige Leute und empfindlich, was ihren Ruhm anrührt. Die elektronisch vernetzte Arbeitsteilung gibt die Gewalt an wenige Konzerne, die zugleich Produktion und Konsum steuern. Das hat es zuvor in der Menschheitsgeschichte nicht gegeben. Wenn die Rechnung aufgeht, steht die Kritik vor ganz neuen Aufgaben" (S. 293).

Wilbert Ubbens


Zurück an den Bildanfang