Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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Leihbibliothekskataloge aus Hessen-Kassel


00-1/4-078
Leihbibliothekskataloge aus Hessen-Kassel : Quellen zur populären Lesekultur und Bildungsgeschichte in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert / Thomas Sirges. - Tübingen : Niemeyer, 1999. - IX, 193 S. ; 23 cm + 17 Mikrofiches. - (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; 72). - ISBN 3-484-35072-5 : DM 118.00
[5883]

Weder aus dem Vorwort noch aus dem kurzen Kommentartext erfährt der Leser, daß Thomas Sirges mit den Leihbibliothekskatalogen aus Hessen-Kassel bereits das dritte Nebenprodukt seiner Marburger Dissertation von 1989 vorlegt, die 1994 unter dem Titel Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur in Hessen-Kassel 1753 - 1866 im Druck erschienen ist.[1] 1990 sind die von ihm in langer Detektivarbeit zusammengetragenen Leihbibliothekskataloge in das von Georg Jäger und Alberto Martino erstellte Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge mit Standortnachweisen eingegangen und dort beim jeweiligen Titeleintrag mit einem Sternchen versehen worden.[2] 1991 hat Sirges den Marburg-Komplex der Dissertation in seine Studie Lesen in Marburg 1759 - 1848[3] eingebracht und die einschlägigen Kataloge nach dem von Martino und Jäger entwickelten Schema ausgewertet und analysiert.

Mit der jetzt erschienenen Mikrofiche-Dokumentation der hessen-kasselschen Leihbibliothekskataloge aus der Zeit von 1778 bis 1866 haben die Forschungen Sirges' auf diesem steinigen literarischen Feld ein vorläufiges Ende gefunden. Seit dem Stand von 1994 ist die Sammlung um einige Kataloge und Katalogfragmente, insbesondere um Fortsetzungsanzeigen in lokalen Wochenblättern ergänzt worden. Zwei Kataloge aus dem hessischen Schmalkalden hat Felicitas Marwinski zur Sammlung beigetragen. Zu spät entdeckt wurden drei Nachtragskataloge des Hanauer Leihbibliothekars C. J. Edler (1850 - 1855), die in der Houghton Library der Harvard University aufbewahrt werden. Warum ein handschriftlicher 2. Nachtragskatalog von N. G. Elwert in Marburg (1846), den Sirges 1991 noch verzeichnet hat,[4] nicht berücksichtigt wurde, bleibt unerklärt. Die reproduzierten Kataloge sind nach Orten und Firmenchronologie geordnet, das zugehörige Verzeichnis der Leihbibliothekskataloge (S. 17 - 33) aber merkwürdigerweise nach dem Alphabet der Firmennamen.

Das Ausmaß der Knochenarbeit, die Sirges zur Erschließung der Kataloge geleistet hat, ist am Register der Autoren, Herausgeber, Übersetzer, Illustratoren und Komponisten abzulesen. In einem amüsanten Zusatzregister der Titelpseudonyme wird ein Liebhaber von Schauerromanen den Verfasser der Blutsauger finden und ein analytischer Druckforscher auf den Verfasser der Cartons stoßen.

Während Martino, Jäger und ihre Mitarbeiter repräsentative Kataloge aus verschiedenen deutschen Territorien in Fünfzehnjahresschritten nach Verfassern und Bandzahlen ausgewertet haben, um so die "Erfolgsautoren" im Bestand der Leihbibliotheken zu ermitteln, geht Sirges einen eher unkonventionellen Weg: Zunächst wurden die Verfasser ausgewählt, deren Registereinträge mehr als vier Zeilen beanspruchen. Zu diesen Auserwählten wurden dann die Bandzahlen aus allen Katalogen erfaßt. Das Ergebnis ist ebenso einfach wie verblüffend: Die zehn Spitzenautoren von Sir Walter Scott bis Heinrich Clauren (i.e. Karl Heun) präsentieren sich in der gleichen Rangfolge wie in den Statistiken von Martino und Jäger. Damit erledigt sich die von Sirges geforderte weitere Erforschung der "regionalen Besonderheiten" (S. 15) in der deutschen Leihbibliothekslandschaft von selbst. Die deutsche Leihbibliothek des 19. Jahrhunderts war als wichtigste Institution der Vermittlung populärer Belletristik nicht an politische Grenzen gebunden. Unhaltbar ist auch Sirges' These, die "Erfolgskurve" der Vielschreiber August Lafontaine[5] und August von Kotzebue habe schon "in den 20er Jahren" ihr Ende gefunden (S. 13). Wie die Auswertungen von Martino und Jäger bezeugen, bildeten die beiden Autoren zusammen mit Sir Walter Scott bis zur Mitte des Jahrhunderts das Spitzentrio im Angebot der Leihbibliotheken.

Angesichts des heutigen Stands der digitalen Reproduktionstechnik muß die Verfichung einer Sammlung von Katalogen als obsolet eingestuft werden. Die meisten Lesegeräte in den deutschen Bibliotheken sind älter als ihre Benutzer und zeichnen sich durch eine schummrige Hinterglasbeleuchtung aus, so daß die Titel der auf grauem Papier gedruckten Kataloge streckenweise kaum zu entziffern sind (der Rezensent hat dies in der Universitätsbibliothek der größten westfälischen Stadt in Niedersachsen getestet). Eine CD-ROM-Lösung hätte hingegen den interessierten Forscher mit einem adäquaten Arbeitsinstrument versorgt und dem Verlag höhere Absatzziffern beschert.

Horst Meyer


[1]
Die Bedeutung der Leihbibliothek für die Lesekultur in Hessen-Kassel 1753 - 1866 / Thomas Sirges. - Tübingen : Niemeyer, 1994. - XII, 569 S. - (Studien und Texte zur Sozialgeschichte ; 42). - ISBN 3-484-35042-3 : DM 182.00. (zurück)
[2]
Die deutsche Leihbibliothek : Geschichte einer literarischen Institution (1756 - 1914) / Alberto Martino. Mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. - Wiesbaden : Harrassowitz, 1990. - XV, 1170 S. ; 25 cm. - (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen ; 29). - ISBN 3-447-02996-X : DM 398.00 [1469]. - Rez.: IFB 93-1/2-042. - Das Verzeichnis ... auf S. 917 - 1017. (zurück)
[3]
Lesen in Marburg 1758 - 1848 : eine Studie zur Bedeutung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken / Thomas Sirges. - Marburg : Magistrat der Stadt Marburg, Presseamt, 1991. - 432 S. - (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur ; 37). (zurück)
[4]
Ebd., S. 372. (zurück)
[5]
Bibliographie August Lafontaine / Dirk Sangmeister. - Bielefeld : Aisthesis-Verlag, 1996. - 179 S. : Ill. ; 21 cm. - (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft ; 7) (Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte ; 4). - ISBN 3-89528-158-1 : DM 68.00 [3506]. - Rez.: IFB 96-4-454. (zurück)

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